Rückschlag für die deutsch-russische Freundschaft

Ein Blick auf die geopolitischen Implikationen der Auseinandersetzungen um die GM-Tochter Opel

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Undank ist der Welten Lohn. Da "verneigte" sich Angela Merkel in ihrer umjubelten, "historischen" Kongress-Rede vor Amerika, wie es Spiegel-Online formulierte. Von der deutschen Kanzlerin wurden nicht nur die "gemeinsame Geschichte", sondern auch die "gemeinsamen Werte" in Erinnerung gerufen, die "Europäer und Amerikaner zusammenhalten" sollen. Schließlich dankte Merkel für den Beitrag der Vereinigten Staaten zur Überwindung der deutschen Teilung: "Wir Deutschen wissen, wieviel wir Ihnen verdanken. Niemals werde ich Ihnen das vergessen."

Und nun das! Die bei Abschluss ihrer USA-Visite erlittene politische Blamage dürfte die Kanzlerin ebenfalls so schnell nicht vergessen. Kaum war Merkel in Deutschland gelandet, gab das Management von General Motors bekannt, sich aus der rechtlich nicht bindenden Absichtserklärung (Stunde der Populisten) zurückzuziehen, die als Grundlage der bisherigen Vereinbarung über den Verkauf der GM-Tochter Opel diente. Die Bundesregierung unterstützte aktiv die Übernahme des angeschlagenen Autoherstellers durch ein Konsortium, das aus dem kanadisch-österreichischen Autozulieferer Magna und der russischen Sberbank bestand.

Diese Kehrtwende von GM sei für Angela Merkel "besonders peinlich", bemerkte die FAZ, habe doch die Kanzlerin "General Motors stets dazu gedrängt hat, Opel an den Autozulieferer Magna zu verkaufen."

Die FAZ spekulierte auch über die wahren Beweggründe von General Motors, an dem der amerikanische Staat seit seiner Insolvenz die Mehrheit der Anteile hält. Zumindest sei die offizielle amerikanische Begründung, der zufolge die verbesserte Marktlage in Europa zu dem Sinneswandel führte, unglaubwürdig, da der "staatlich finanzierte Abwrack-Boom auf dem Automarkt in Europa sich spätestens im kommenden Jahr in einen starken Absatzrückgang verwandeln wird". Zu der Entscheidung dürften in Wahrheit eher "die anhaltenden Bedenken über einen unkontrollierten Technologietransfer nach Russland beigetragen haben".

Hier scheint die FAZ den wahren Beweggründen nahezukommen. In der Tat galt der nun geplatzte Opel-Deal als ein Pilotprojekt einer ganzen Reihe von wirtschaftspolitischen Initiativen, die eine enorme Intensivierung der deutsch-russischen Zusammenarbeit zum Ziel haben. Die russische Führung räumte diesem Projekt ebenfalls die höchste Priorität ein, da sie tatsächlich auf einen Technologietransfer für die stark angeschlagener russischer Autobranche hoffte. Im Gegenzug hätte Opel in Russland – das künftig Deutschland als den größten Automarkt Europas überholen soll - eine besonders gute Marktlage erworben.

Es verwundert somit nicht, dass vor allem in Deutschland und Russland der Unmut, ja die Wut über die Kehrtwende von GM besonders groß ist. Russlands Premier Wladimir Putin erklärte umgehend, diese amerikanische Entscheidung offenbare die Verachtung, die in den USA gegenüber den "europäischen Partnern" herrscht.

Ganz anders sieht die Lage in Großbritannien und auch Polen aus, die wohl nicht zufälligerweise auch als enge Verbündete der USA gelten und deren Opel-Standorte bei Übernahme durch das Magna-Sberbank-Konsortium akut bedroht waren. Dies sei eine "fantastische Entscheidung", erklärte beispielsweise Gewerkschaftschef Tony Woodley. In Großbritannien sei man "absolut begeistert, dass GM schließlich das Richtige getan hat – für sich und für uns".

Auch beim polnischen Opel Standort in Gliwice erklärte der dortige Gewerkschafts-Chef: "Wir haben die Entscheidung von General Motors, Opel zu behalten, mit Erleichterung aufgenommen." Man gehe nun davon aus, dass die Entscheidung über den Fortbestand der einzelnen Opel-Standorte nach ökonomischen und nicht nach politischen Gesichtspunkten getroffen werde. Auch im Opel-Werk in Polen war die Furcht weit verbreitet, bei der Annäherung zwischen Berlin und Moskau auf der Strecke zu bleiben.

Die geopolitischen Erwägungen hinter diesem - nun gescheiterten - deutsch-russischen Autodeal erläuterte die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita.

General Motors verkauft Opel nicht. … In Polen und England herrscht Freude. Nur die Deutschen sind entsetzt. Das ist deswegen so, weil sie darauf bauten, mit dem Verkauf Opels an ein Konsortium mit russischer Beteiligung die politischen Bindungen zwischen Berlin und Moskau zu stärken.

Deutsch-russische Kooperation in strategisch wichtigen Wiurtschaftsbereichen

Mit dem nun vereitelten Deal wurde also eines der wichtigsten deutsch-russischen Projekte von Washington torpediert, die im Rahmen einer strategischen Annäherung zwischen Moskau und Berlin in Angriff genommen worden. Es wäre doch ein sehr großer Zufall, wenn dies nur rein zufällig geschehen wäre. Diese Allianzbildung wird in Washington und auch in Mittelosteuropa aufmerksam und misstrauisch beobachtet. So berichtete vor kurzem das populäre Wochenmagazin Newsweek über die "New Ostpolitik", die Berlin gegenüber Moskau betreibe. Einstmals "titanische Feinde", seien Russland und Deutschland gerade dabei, "sich in einer Unmenge von Wirtschaftsdeals zu umarmen".

Die Kooperation beider Großmächte erstreckt sich tatsächlich auf zahlreiche Wirtschaftssektoren, die laut Definition des Kremls strategisch bedeutend sind. Seit März verhandeln beispielsweise Siemens und die russische Atomenergiebehörde Rosatom über die Gründung eines Joint Ventures, das sich als ein "Weltmarktführer" (Siemens-Chef Peter Löscher) beim Atommeilerbau etablieren soll. http://Deutschlands größter Industriekonzern könnte zudem von einem weiteren ehrgeizigen Projekt profitieren, das die Modernisierung der russischen staatlichen Eisenbahngesellschaft vorsieht.

Während Konzerne wie Royal Dutch Shell (NL) und BP (UK) aus dem russischen Energiesektor gedrängt wurden, erhält der deutsche Versorger E.on sogar Zugriff auf das Allerheiligste: Der Düsseldorfer Multi sicherte sich eine Beteiligung von 25 Prozent an dem sibirischen Gasfeld "Juschno Rußkoje", an dem der halbstaatliche Monopolist Gasprom die Förderrechte hält. Diese Lagerstätte verfügt über Reserven von mehr als 600 Milliarden Kubikmetern und gehört somit zu den größten der Welt. Im Gegenzug musste E.on knapp die Hälfte seiner Beteiligung an Gasprom veräußern, die nun nur noch 3,5 Prozent beträgt. Die leicht zu erschließenden russischen Lagerstätten sind bereits erschöpft, jetzt sollen die schwer zugänglichen Erdgas- und Ölfelder ausgebeutet werden. Auch hier hoffen deutsche Konzerne auf lukrative Aufträge.

Das Wachstum der deutsch-russischen Freundschaft wird aber vor allem an der bis 2008 erfolgreich verlaufenden deutschen Exportoffensive ersichtlich – und der damit einhergehenden Expansion des bilateralen Handels beider Volkswirtschaften. So stieg der bilaterale Handel auf ein Volumen von rund 68 Milliarden Euro. Deutschland ist zudem wichtigster Absatzmarkt für russisches Erdgas in der EU. Zum Vergleich: Ende 1998 belief sich das bilaterale Handelsvolumen auf nur 15 Milliarden Euro.

Doch dies soll nur der Anfang gewesen sein. Der Kreml kündigte vor kurzem an, ein umfangreiches Privatisierungsprogramm durchzuziehen. Innerhalb der kommenden drei Jahre sollen Tausende Staatsunternehmen ganz oder teilweise privatisiert werden. Durch die Beteiligung westlicher Konzerne erhofft man in Moskau, die unterfinanzierte und veraltete russische Industrie grundlegend modernisieren zu können. Die Modernisierungsbemühungen des Kremls dürften vor allem dem deutschen Konzernen zugute kommen.

"Wir haben uns darauf verständigt, eine umfangreiche Liste mit 5500 Unternehmen zu diskutieren, die Modernisierungsbedarf im Zuge von Privatisierungen aufweise", erklärte am 21. Oktober der Vorsitzende des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft, Klaus Mangold, nach einem Treffen deutscher Spitzenmanager mit Putin. Mangold betonte zudem, dass die deutschen Investitionen trotz der Krise nicht gesunken seien und kein einziges in Russland tätiges BRD-Unternehmen sich zurückgezogen habe.

Die Welt schilderte dieses Treffen euphorisch in den schillerndsten Farben: "In nur vier Tagen waren sie zusammengetrommelt. Nicht irgendwelche Manager der zweiten Reihe. Nein, die Chefs selbst setzten sich ins Flugzeug nach Moskau. 15 Manager, geballte deutsche Wirtschaftsmacht. Alle waren sie gekommen: Siemens, Daimler, Volkswagen, RWE, E.on, Wintershall, ThyssenKrupp und so weiter. 500 Milliarden Euro Gesamtumsatz an einem Tisch." Voll Genugtuung gab das Blatt Putins Worte bei der Eröffnung dieser Versammlung deutscher Kapitalvertreter wieder: "Wir werden alles daransetzen, dass Ihre Arbeit hier erfolgreich ist."

Eurasische Idee

Deutsche Technologie und Know-how gegen einfachen Marktzugang und russische Rohstoffe – so könnte man diese potenzielle Allianz zwischen Moskau und Berlin zusammenfassen. Inzwischen wird eine "eurasische" geopolitische Ausrichtung Deutschlands auch in dessen meinungsführenden Medien diskutiert. In ihrer Printausgabe ließ die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung einen längeren Text (Auszüge) veröffentlichen, der die "eurasische" Idee des russischen Großmachtideologen Alexander Dugin (Sind wir nicht alle Eurasier?) dem Leser schmackhaft zu machen versuchte. In dem am 24. Oktober publizierten Artikel wird die Idee einer eurasischen Allianz propagiert und das "atlantische" Bündnis Westeuropas mit den USA als eine "Fehlorientierung" bezeichnet. Diese neue imperiale Ordnung sieht den Ausschluss "raumfremder Mächte" vor:

Schon lange tüftelt Aleksandr Dugin, Anführer der Eurasischen Bewegung, an einer Großraumordnung von Cádiz bis Wladiwostok. Seine "Grundlagen der Geopolitik" haben es bis zum Lehrbuch für angehende Generalstabsoffiziere gebracht. Dugin entwirft seine "Pax eurasiatica" in Anlehnung an Carl Schmitts Konzept einer europäischen Monroe-Doktrin. Der Hegemon verbittet sich Interventionen "raumfremder Mächte" und beschränkt die Souveränität der anderen Völker im Großraum. Behielte jedes Volk sein Recht auf nationale Selbstbestimmung, könnte es nach Belieben mit raumfremden Hegemonen anbandeln, um sich der Friedensordnung zu entziehen.

Wurde zumindest in Deutschland die Eurasiendebatte bislang nur von ideologischen Querschlägern aufgegriffen, so scheint inzwischen mit der FAZ ein meinungsführendes Medium eine solche grundlegende geopolitische Neuausrichtung Deutschlands zumindest für diskussionswürdig zu halten. Neben der "raumfremden Macht" USA sind auch die "Völker im Großraum" Eurasien, deren Souveränität der "Hegemon" zwecks Errichtung einer "Pax eurasiatica" beschränken soll, von dieser Idee naturgemäß nicht allzu angetan. Die rasch voranschreitende Annäherung zwischen Berlin und Moskau stößt neben London und Washington auch in Warschau, Kiew und Prag auf wenig Gegenliebe.

Auch unter der neuen deutschen Regierung ist eine Änderung dieses geopolitischen Kurses in Berlin nicht wahrscheinlich, wie Gernot Erler, ehemaliger Staatsminister unter Steinmeier, erläuterte: "Die neue Regierung wird die Interessen der Wirtschaft berücksichtigen, und die Wirtschaft ist sehr an dieser Beziehung interessiert."

Angst vor der deutsch-russischen Freundschaft

In dieser Angst vor der deutsch-russischen-Freundschaft liegt auch der Grund für die scheinbar irrationale Bündnistreue vieler osteuropäischer Staaten mit den USA, wie sie beispielsweise im Fall der einstmals in Osteuropa geplanten US-Raketenabwehr zum Vorschein kam. Der stellvertretende tschechische Ministerpräsident Alexander Vondra erläuterte diese geopolitischer Positionierung seinerzeit vor der konservativen Heritage Foundation: "Für uns in der tschechischen Republik, die zwischen Deutschland und Russland liegt, ist die Präsenz eines Radars und einiger amerikanischer Soldaten eine gute Sache."

Die innige Freundschaft zwischen Moskau und Berlin weckt auch in Warschau alte Befürchtungen: Das Bündnis zwischen Deutschland und Russland sei gefährlich für Polen, warnte beispielsweise die Politologin Jadwiga Staniszkis in einem Gespräch mit der polnischen Nachrichtenagentur PAP. Durch die Investitionen deutschen Kapitals im russischen Energiesektor würden auch die politischen Bindungen Berlins mit Moskau immer enger. Außerdem drohe das Szenario "einer zukünftigen Machtfülle Deutschlands, das die gegenwärtige Schwäche Russlands ausnutzt, um Eigentumsrechte an Erdöl und Gas auf dessen Terrain zu gewinnen". Die Osteuropäer befürchten schlicht, bei einer innigen deutsch-russischer Umarmung zerquetscht zu werden.

Die USA können also bei der Durchsetzung ihrer globalen Hegemonialpolitik in Europa auf die Angst der europäischen Kleinstaaten vor den imperialen Ambitionen Berlins und Moskaus bauen. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Immanuel Wallerstein erläuterte diese geopolitische Konstellation in einem Interview mit dem russischen Nachrichtensender RT:

Ich dachte immer, dass die Ostexpansion der EU Westeuropa davon abhalten sollte, zu einer Übereinkunft mit Russland zu kommen. … Die osteuropäischen Staaten wollen nicht wieder unter russische Hegemonie geraten. Aber sie wollen auch nicht unter deutsche Hegemonie geraten.

Vielleicht lassen diese geopolitischen Entwicklungstendenzen auch die eingangs angesprochene Rede Merkels vor dem US-Kongress in einem anderen Licht erscheinen. Während die deutsche Kanzlerin die unverbrüchliche deutsch-amerikanische Freundschaft beschwor, orientierte sich die deutsche Außenpolitik an einer engen Allianz mit Russland, schritt die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Berlin und Moskau immer schneller voran. Überdies stellen Medien wie die FAZ – die in ihrer Bedeutung der New York Times oder dem Wall Street Journal gleichkommt - inzwischen Überlegungen an, wie man "raumfremde Mächte" von Europa fernhalten könne.

Die wohl kaum zufällige, an eine Demütigung grenzende Blamage, die Merkel sich in den USA abholen musste, könnte durchaus als ein deutlicher Warnschuss Washingtons interpretiert werden. Mit dieser Kehrtwende von General Motors (der Konzern befindet sich momentan unter Staatskontrolle) wird eben diese russisch-deutsche Allianzbildung mindestens temporär torpediert. Die dargelegten Indizien deuten zumindest darauf hin, dass diese geopolitischen Überlegungen bei der Entscheidungsfindung in Washington und Detroit eine gewisse Rolle gespielt haben dürften. Offensichtlich sind die - unzweideutig im imperialen Abstieg begriffenen - Vereinigten Staaten nicht bereit, ihre Position als globale Hegemonialmacht kampflos aufzugeben. Und auch in Polen sowie Großbritannien dürften nicht nur wirtschaftliche, sondern vor allem geopolitische Überlegungen zu der unverhohlenen Freude über das Scheitern des Opel-Verkaufs beitragen.