Offline-Sperrung

Die Wikipedia bittet zur Podiumsdiskussion - oder auch nicht

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Die deutsche Wikipedia liegt der Internetgemeinde am Herzen. Viele Menschen haben ihr Unmengen Zeit geschenkt, manche sogar Geld gespendet. Was die Autoren eint, ist die Faszination, Wissen zu teilen, ohne kommerziellen Hintergrund und frei. Manche sahen in der Wikipedia eine Plattform, welche die Hürden der Gatekeeper klassischer Medien und Meinungsträger unterläuft, gar das Zeitalter der Aufklärung durch Zugang zu freiem Wissen krönt und die Wissenschaftsgemeinde global vernetzt. Doch das einst expandierende Projekt, das sogar von konventioneller Presse häufig zitiert wird oder deren eigene Recherche diskret ersetzt, stagniert und sieht sich harscher Kritik ausgesetzt.

Zahlen

600.000 Menschen hatten sich irgendwann einmal mit einem Account registrieren lassen. 400.000 dieser Accounts sind völlig verwaist, derzeit sind nur rund 23.000 Autoren mindestens einmal im Monat aktiv, davon wiederum können gerade einmal 5.000 Autoren mehr als 1.000 Edits aufweisen. Dies bedeutet einen Schwund von 99% ursprünglich an der Mitarbeit Interessierten, die namenlosen IPs nicht registrierter Benutzer gar nicht einmal eingerechnet. Neue Benutzer stoßen kaum hinzu, vereinzelt ist sogar offen von einem Mangel an Autoren die Rede. 5.000 überwiegend männliche Nutzer mit einem beachtlichen Pensum an Zeit befinden über das kollektive Wiki-Wissen, die wiederum von ca. 300 Admins gemaßregelt werden, wenn sie sich selbst nicht genug gegenseitig löschen. Bisweilen scheint es, als mache der administrative Aufwand den Großteil der eigentliche Arbeit aus, während die Inhalte der Wikipedia immer weniger wachsen, das Niveau auf den Diskussionsseiten häufig zu wünschen übrig lässt.

Über die Gründe lässt sich trefflich spekulieren. Der Soziologe Christian Stegbauer, Co-Autor eines Beitrags "Macht und Autorität im offenen Enzyklopädieprojekt Wikipedia", sieht Schwächen in den Entscheidungsprozessen und eine Machtkonzentration, die sich bis auf die Artikelebene zurückverfolgen lasse und viele neue Benutzer abschrecke. Viele Autoren tendierten dazu, "ihre" Artikel als Besitz zu betrachten, der gegen fremde Edits verteidigt werden müsse.

Was weiß Wikipedia?

Kurioserweise fühlen sich ausgerechnet Experten für Artikelthemen regelmäßig vor den Kopf gestoßen, denn eigenes Wissen wird schnell mit dem Verdikt "keine Theoriefindung!" bzw. "No original Research!" als unerwünscht gebrandmarkt. Nur "reputable Quellen" werden als zitierfähig angesehen, was vor dem Hintergrund des eben gesagten dazu führt, dass Sekundär- und Tertiärquellen als zitierfähig angesehen werden, Primärquellen jedoch den Verdacht eigener Recherche auslösen. Auch unterscheidet man Wissen nach der dargereichten Form: So soll in Blogs aufbereitetes Wissen pauschal nicht zu den reputablen Quellen zählen.

Manche Wikipedanten haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Qualität der Wikipedia durch exzessives Löschen der von ihnen als minderwertig erkannten Beiträge zu steigern, was selbst den wohlmeinendsten Autoren irgendeinmal verprellen muss, denn vielfach löschen fachfremde Zensoren ohne Rücksicht auf Verluste - "Sei grausam!" lautet eines der Wiki-Motti.

Wie weit sich manche Admins von der Realität entfernt hatten, offenbarte ein unfreiwllig entlarvender Beitrag im Wikimedia-Kurier, der nach Kritik jedoch zurückgezogen wurde. Zu Fehlern möchte man bei Wikimedia nicht stehen, editieren scheint die praktischere Strategie zu sein.

Krisen-PR

Nachdem in Zusammenhang mit der Relevanzdebatte um MOGIS und Felix von Leitner (Fefe) in der Blogosphäre eine überfällige Diskussion über das Selbstverständnis der Wikipedia begonnen hatte, die auch von konventionellen Medien nicht ignoriert werden konnte, ging der deutsche Trägerverein Wikimedia e.V. in die Offensive und lud Medienvertreter und Interessierte zu einer Podiumsdiskussion ein - seiner ersten derartigen Veranstaltung überhaupt.

Als Veranstaltungsort wählte man - ganz der Graswurzelherkunft der Wikipedia verpflichtet - die wohnzimmerartigen, jedoch absehbar beengten Vereinsräume. Darüber, dass diese für eine Podiumsdiskussion völlig ungeeignet waren, gingen die Meinungen nicht allzu weit auseinander. Jedoch konnte man mit dem Platzargument die Veranstaltung nicht nur zahlenmäßig begrenzen, sondern auch über die Akkreditierung auch Einfluss auf die Teilnehmer ausüben. Admins kontrollieren halt gerne.

Wikimedias Medien

Der angekündigte Livestream fiel zum Großteil komplett aus und litt an einem nahezu unbrauchbaren Audiosignal. Die VHS-Kamera (!) wurde von einem Schlipsträger bedient, der Teile des Raumes gar nicht erfassen konnte, so dass ausgerechnet die einzigen Frauen, die auf dieser Männer dominierten Veranstaltung etwas beitrugem, nicht zu sehen waren. Nicht einmal die Tontechnik für das Publikum vor Ort war brauchbar.

Der verunglückte Livestream ist umso unverständlicher, als dass zuvor Leute aus dem Umfeld des CCC eine professionelle Übertragung angeboten hatten. Was bei einem Pfadfinderclub liebenswert amateurhaft gewirkt hätte, war für einen ca. 400.000,- Euro schweren Verein mit bezahlten Angestellten, der sich elektronischen Medien widmet, in der Stadt der Funkausstellung im Jahre 2009 schon sehr befremdlich. Erstaunlicherweise gab es für die Teilnehmer im Hause Wikimedia nicht einmal WLAN, was inzwischen Standard in jeder zweiten Berliner Kneipe ist.

Preußische Podiumsdiskussion

Bei Podiumsdiskussionen hat es sich bewährt, diese von einem externen Fachmann unparteiisch moderieren zu lassen - undenkbar in einem nahezu realsatirisch zur Kontrolle tendierenden System wie Wikimedia/Wikipedia, in dem sich Geschäftsführer Pavel Richter nicht einmal für die Rolle eines physischen Gatekeepers zu schade war, der mit preußischem Charme den Zutritt zur Veranstaltung des gemeinnützigen Vereins selektiv kontrollierte. Seinen Einfluss auf die Teilnehmer übte Richter auch verdeckt aus, indem er hinter der Kamera die Diskussionsteilnehmer durch Handzeichen regulierte, statt offen wahrnehmbar zu moderieren. Wirklich moderiert wurde auch gar nicht, denn außer zerfaserten Redebeiträgen, die vielfach wie Anklagen gegen die Adminpedia wirkten, kam keine wirkliche Diskussion auf.

Eine Prise akademischen Humors hätte der Veranstaltung gut getan, war jedoch in dieser verkrampften Atmosphäre generell unmöglich. Schade - denn wie man so eine Diskussion vernünftig und unaufgeregt hätte gestalten können, hatte kurz zuvor das Chaosradio mit teilweise identischen Teilnehmern vorgemacht.

Podiumsgäste

Auf dem Podium hätten sich Experten wie der oben angesprochene Soziologe Christian Stegbauer gut gemacht, wobei es interessant zu erfahren wäre, ob man ihn überhaupt eingeladen hat. Angesichts des Anstoßes der breiten Debatte durch den Blogger Felix von Leitner stieß es auf allgemeines Unverständnis, warum man diesen gerade nicht zur Diskussion gebeten hatte. Als Realsatire pur erwies sich die durchgesickerte Info, man hätte von Leitner alleine toleriert, nicht aber mögliche 10 Begleiter - praktisch alle infrage kommenden Mitstreiter waren jedoch ohnehin anwesend. Der Blogger gab seinen Senf zum Livestream ungefiltert ins Netz, was ungleich mehr Leser erreichen dürfte als ein Slot im Lifestream.

Podiumsgast Frank Rieger, Pressesprecher des Chaos Computer Club, hatte bereits im Vorfeld vorgeschlagen, unter einem gemeinsamen Dach zwei parallele Versionen anzubieten - eine enzyklopädische mit strengen Löschkriterien ("Encyclopedia Galactica") und eine tolerantere, lässigere "Newpedia", die auch Platz für Popkultur und Kurzlebiges bietet (" Hitchhikers Guide Through The Galaxy"). Professor Martin Haase ("MaHa"), Wikipedia-User der ersten Stunde, kam auf die gruppendynamischen Zusammenhänge zu sprechen. Spreeblicker Johnny Haeusler stand dem Löschtreiben der Admins und selbsternannten Löschmeister irritiert gegenüber.

Publikum

Aus dem Publikum meldete sich u.a. Bloggerin Anne Roth zu Wort und suchte Parallelen zum Projekt "Indymedia", bei dem man noch vor der Wikipedia im Wege des Graswurzeljournalismus Primärinformationen ins Web speisen wollte, um eine Gegenöffentlichkeit zu bieten. Dort hätte sich ein ähnliches Problem zwischen reiner Lehre und laissez faire ergeben, wie man es heute in der Wikipedia vorfinden könne. Auffallend ist, dass es sich sowohl bei Indymedia als auch bei Wikipedia um ein deutsches Phänomen zu handeln scheint - ein Scheitern am gleichen sozialen Mechanismus. In der englischen Wikipedia scheint das Löschproblem nicht annähernd die Dimensionen wie bei den ordnungsliebenden Deutschen angenommen zu haben.

Für unfreiwillige Heiterkeit sorgte ein Gast, der aus dem (angeblichen) Fehlen von kritischen Artikeln zur Wikipedia jenseits der Bloggerszene folgern wollte, die Wikipedia hätte kein Problem. Pikanterweise handelte es sich bei dem einzigen rein positiven Redner um den früheren (abgewählten) Wikimedia-Chef Kurt Jansson, der jetzt bei "SPIEGEL Online Wissen" (wo man bekanntlich Wikipedia verlinkt) unser Wissen kontrollieren möchte. (Pikanterweise hatte selbst SPIEGEL Online jedoch über die Relevanzdebatte berichtet: "Wikipedia-Autoren ziehen in den Löschkrieg gegen Katzen") In drei Wochen, so Jansson, würde keiner mehr darüber reden. Janssons Marginalisierung der Problematik lässt sich durch einen Blick auf jede x-beliebige Löschdiskussion spielend widerlegen, erlaubt aber tiefe Einblicke in das Selbstverständnis von Wikimedia. Mit seiner Einschätzung, die Wikipedia-Problematik interessiere in drei Wochen keinen mehr, könnte Jansson allerdings recht behalten: Die meisten konventionellen Medien blieben der Pressekonferenz tatsächlich gänzlich fern. Die Nöte der Nerds sind kein Thema.

Nicht angesprochen wurde die Frage, für wen denn eigentlich die Wikipedia gedacht ist. Müssten nicht eigentlich die Leser selbst entscheiden, was relevant ist?

"Null Toleranz" für "Null Toleranz"!

"Wir haben eine Million Artikel!" entfuhr es einem Wiki-Enthusiasten als Indiz für die Leistungsfähigkeit der deutschen Wikipedia. "Und die bringen wir jetzt runter auf 500!!!" konterte Podiumsgast Pavel Mayer ("99% aller Deutschen sind irrelevant") ironisch, wobei Mayer auf den Glauben der Löschbrigaden anspielte, die Ausdünnung von Wissen für eine Qualitätsstrategie halten. Mayer bot denn auch die deftigsten Bonmots und sprach sich dafür aus, die Null-Toleranz-Kriterien, mit denen man Neuautoren konfrontiere, auch gegenüber "Wikipedia-Altlasten" anzuwenden. Wörtlich forderte Mayer, dass gelegentlich ein sich daneben benehmender "Wikipedia-Blockwart als Leiche den Fluss runter geschwommen kommen muss", wenn man neue Leute anziehen wolle.

In der Diskussion fielen so interessante Begriffe wie "Sockenpuppen-Paranoia", auch wurden die seltsamen Karrierewege in der Wiki-Hierarchie angesprochen. Burkhard Schröder (Burks) kritisierte die Kultur der Admins, die ihn an Vereinsmeierei erinnere. Einfluss gewännen die Leute, die sich wie im Verein beim Würstchengrillen beliebt machten. Die Diskussion über "Admin abuses" schien den Gastgebern nicht so sehr zu gefallen.

Auch der auf dem Podium befindliche Admin Leon Weber sparte nicht mit Kritik. Er berichtete über die Eingangskontrolle, bei der er die Liste mit neuen Artikel abarbeiten wollte, doch die zu checkenden Artikel seien häufig bereits verschwunden gewesen, weil immer ein anderer im Rennen um die schnellste Löschung schneller gewesen war.

Statt einer Schlussrunde, in der die Podiumsgäste üblicherweise ihr Resümee ziehen, verlas Wikimedia-Chef Richter eine vorbereitete (!) Erklärung. So sehr Richter den Wunsch nach Kontrolle des Abends verfolgt hatte, so wenig war ihm eine solche, etwa in Form einer echten Diskussionsleitung, wirklich gelungen. Man wird ihn kaum ernster nehmen müssen, als er die Menschen nimmt, denen an dem Projekt etwas liegt.

CCC-Resümee

Die eigentlich interessante Diskussion gab es hinterher auf akademischem Niveau beim CCC, wo sich Frank Rieger, Martin Haase und Fefe in kleinem Kreise fernab der manipulierenden Eingriffe des Wikimedia-Geschäftsführers Gedanken machten, wie es mit der Wikipedia so weit kommen konnte und wo man ansetzen könne, um die Mitgestaltung attraktiver zu machen. Relativ wenige Leute hätten sehr viel zu entscheiden, jedoch müsse eigentlich richtigerweise der Endnutzer entscheiden, was relevant sei. Soziale Probleme seien bei der Wikipedia in Technik gegossen, es habe sich eine Wächtergemeinschaft gebildet. User und Admins verschaffen sich Reputation und Aufstiegsmöglichkeiten durch die Anzahl ihrer Edits, die zu einem Großteil aus Löschungen bestehen. Belohnt werde also ausgerechnet destruktives Verhalten, was möglicherweise falsche Anreize setze. Im Gegenteil wäre jedoch ein Modell anzudenken, bei dem Autoren für Inhalte, also Zugewinn von Information, mit Meriten bedacht werden sollten.

Auch die Diskussion um einen "Fork", also einem konkurrierenden Modell, welches sich stimulierend auch auf das alte auswirke, wurde diskutiert. Wikipedia habe allerdings eine etablierte Monopolstellung inne und verfüge über beträchtliche finanzielle Mittel. Ein erfolgversprechender Weg könne daher nur eine Reformation der Wikipedia sein. Solange deren Führungspersonal die Notwendigkeit solcher Maßnahmen bestreiten, sei mit Änderungen kaum zu rechnen.

Zu den zentralen Forderungen gehöre, dass die Wikipedia selbst eine zentrale Deletionpedia für gelöschte Artikel anbieten müsse, um in dieser Weise die Arbeit von wohlmeinenden Benutzern zu würdigen, deren Werke nicht in den Wikipedia-Kanon aufgenommenen wurde, warum auch immer.

Auch, wenn die Verantwortlichen der Admin-Kaste keine Krise erkennen wollen, habe man allerdings an dem Abend durchaus das Gefühl gewonnen, die Botschaft der verprellten Autoren und Benutzer sei angekommen.

Technisches Upgrade

Verständnisloses Kopfschütteln hatten die CCC-Leute für das archaische Wikipedia-Interface übrig, das etwa Diskussionen nur in Form von Edits zulasse. Auch sei es befremdlich, dass man innerhalb der Wikipedia besser mit Google suche als den dortigen Funktionen. Die Jagd nach Vandalismus ließe sich in vielen Fällen automatisieren, während man bei Wikipedia durchweg von Hand jätet.

Es gehört zu den Regeln professionellen journalistischen Stils, bei der Berichterstattung eigene Anliegen nicht zu thematisieren. Leider kann die Perspektive des Autors, der letzte Woche eine Glosse auf die Wikipedia veröffentlichte, vorliegend nicht ausgeblendet werden, da er der offiziellen Diskussion nicht vor Ort folgen durfte. Denn trotz einer Akkreditierung wurde ihm der Zutritt mit der Begründung verwehrt, diese würde nicht für ihn, sondern für einen anderen Telepolis-Mitarbeiter gelten, der sie jedoch ausdrücklich für einen nicht namentlich genannten "Berichterstatter" vorgenommen hatte. Unter zivilisierten Menschen gilt es als Tugend, einem unerwünschten Gast, der 350 km weit anreist, dieses im Voraus mitzuteilen. Doch bei Wikipedia, wo man Nutzer mit "Sei mutig!" stimuliert, um sie dann auflaufen zu lassen, hätte man durchaus mit so etwas rechnen können.

Nach der Zugangsverweigerung beschloss der Autor, dass eine weitere Konversation mit den offensichtlich in der Löschhölle gestählten Gatekeepern nicht seinen Relevanzkriterien für sinnvollen Einsatz von Zeit genügte. Ob den Verantwortlichen bewusst gewesen war, dass dieses Gatekeeping vor dem Hintergrund der Löschdiskussion wie eine Realsatire wirken musste? In den Räumen des Chaos Computer Club gewährte man ihm spontan Asyl und WLAN, um der Debatte via Livestream zu folgen. Beim CCC lernte er viele nette Menschen kennen, nahm an einem inspirierend-konstruktiven Gedankenaustausch über die Wikipedia teil und verbrachte einen angeregten wie unterhaltsamen Abend. Außerdem trank er hier erstmals "Club Mate", eine Basis für "Tschunk". Den Hinweis, das Zeug schmecke erst ab dem dritten Mal, hält er definitiv für relevant.