US-Bürger unterschätzen die Zahl der getöten irakischen Zivilisten bei weitem

Ein Grund, so eine Studie, könnte sein, dass die US-Medien sehr einseitig berichten und damit die Wahrnehmung des Krieges stark beeinflussen

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Wenn Kriege geführt werden, sterben Menschen. Auch viele Zivilisten, die nicht an Kampfhandlungen beteiligt sind. Weil man weiß, dass kriegsentscheidend vor allem in asymmetrischen Konflikten nicht die militärische Überlegenheit, sondern die (mediale) Wahrnehmung ist, bei der die Zahl von getöteten und verwundeten Zivilisten eine wichtige Rolle spielt, versuchen Militärs und für Kriegseinsätze verantwortliche Politiker die Zahlen niedrig zu halten, zu manipulieren oder zu verschweigen.

Gut zu beobachten war das Verhalten wieder einmal bei der von deutschen Soldaten angeforderten und zu verantwortenden Bombardierung von zwei entführten Tanklastzügen durch US-Kampfflugzeuge in Afghanistan. Nach Informationen aus dem weiterhin unter Verschluss gehaltenen Nato-Bericht sollen dabei zwischen 17 und 143 Menschen getötet worden seien. Verteidigungsminister Guttenberg räumte ein, dass es zivile Opfer gegeben habe, ohne genauer zu werden.

Der frühere Verteidigungsminister Jung hatte gerne betont, dass überwiegend Taliban getötet worden seien. Eine Untersuchungskommission der afghanischen Regierung sprach von 30 getöteten Zivilisten sowie 20 "unbewaffneten Taliban" und 49 bewaffneten. Ansonsten war die Rede von einer großen Zahl an Zivilisten. Zeugen vor Ort sprachen von etwa 80 Toten, meist Zivilisten. Eine afghanische Menschenrechtsorganisation kam auf 70 getötete Zivilisten. Die Zahlen gehen wild durcheinander, verwunderlich bleibt aber trotzdem, dass die Nato nicht in der Lage gewesen sein soll, die Opferzahl ein wenig genauer einzugrenzen.

Wissenschaftler von der Columbia University haben 11 US-Zeitungen, 4 Zeitungen aus dem Nahen Osten (Lebanon Daily Star, Gulf News, Turkish Daily News, Al-Bawaba) und dem britischen Guardian nach Meldungen über getötete Koalitionssoldaten und Iraker zwischen März 2003 und März 2008 durchsucht. Dabei wurden nur Artikel berücksichtigt, die Zahlen nannten.

Ausgangpunkt für ihre Studie, die in der Zeitschrift Conflict and Health erschienen ist, war eine Umfrage der Nachrichtenagentur AP im Jahr 2007 über die Wahrnehmung des Kriegs im Irak in den USA. Die Befragten konnten einigermaßen genau die Zahl der getöteten US-Soldaten angeben (Median: 2.974, tatsächlich 3.100), während sie die Zahl der getöteten irakischen Zivilisten weit unterschätzten (Median: 9.890). Studien gehen allerdings davon aus, dass es mindestens 100.000, möglicherweise sogar eine halbe Million oder mehr Opfer gegeben hat ([Irak-Krieg: Hunderttausend oder eine Million Todesopfer? Irak-Krieg: Hunderttausend oder eine Million Todesopfer?]).

Dieses Missverhältnis hat, so die Hypothese, mit der Berichterstattung zu tun. Das Ergebnis ist wenig überraschend. Die US-Zeitungen berichteten deutlich mehr von getöteten Koalitionssoldaten als von irakischen Zivilisten (7.151:4.445), auch wenn es zwischen den Zeitungen erhebliche Unterschiede gibt. In 3 Zeitungen aus dem Nahen Osten sowie im Guardian war die Berichterstattung genau umgekehrt (495:923).

Das Ergebnis sei zu erwarten gewesen, räumen die Wissenschaftler ein, weil die Zeitungen die Interessen ihrer Leser berücksichtigen, die oft jemanden kennen, der im Irak stationiert war oder dort verletzt oder getötet wurde. Aber durch die Entscheidung, welche Artikel veröffentlicht werden, wird auch die Wahrnehmung des Kriegs für die Bürger eines Landes und auch für die Soldaten erheblich beeinflusst, das aber laufe eigentlich dem Auftrag der Medien zuwider. Allerdings sind die Aussagen der Studie, worauf die Autoren auch hinweisen, nur begrenzt gültig, da sie sich nur auf eher regionale Zeitungen bzw. deren Online-Ausgaben, aber nicht auf Fernseh- oder Radionachrichten beziehen. Die überwiegende Mehrheit der US-Amerikaner bezieht ihre Nachrichten mehr und öfter aus dem Fernsehen.

Die Einseitigkeit der US-Zeitungen, die dazu führt, dass die Menschen in den USA die Zahl der getöteten irakischen Zivilisten weit unterschätzen, führt zu der Frage, so die Autoren, inwieweit sie einen bewaffneten Konflikt unterstützen oder seine Fortsetzung ermöglichen. Die Frage sei auch, ob die Medien noch ein Werkzeug für die zivile Begutachtung militärischer Aktionen sind oder bereits zu einem Komplizen im Krieg wurden. Das vom Pentagon entwickelte Konzept der "eingebetteten Journalisten", die teils auch keine Erlaubnis mehr erhielten, wenn sie nicht entsprechend berichteten, war sicherlich ein ebenso wichtiges Mittel zur Förderung der einseitigen Berichterstattung wie die lange betriebene Vermeidung, zivile Opfer zu zählen.