Gen vor Gericht?

Verurteilter Mörder erhält in Berufungsverfahren Strafminderung wegen seiner Veranlagung

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Nachdem der Täter schon im ersten Verfahren eine Strafminderung wegen Geisteskrankheit erhalten hatte, verringerte ein italienischer Berufungsrichter die Haftstrafe nun um ein weiteres Jahr. Zwei Neurowissenschaftler hatten ein Gutachten vorgelegt, das dem Mann aufgrund seiner Gene eine größere Veranlagung zur Gewalt attestierte. Auch wenn dieser Zusammenhang wissenschaftlich umstritten ist, dürfte die Anzahl der „genetischen Verteidigungen“ bei Gewaltverbrechen zunehmen. Allerdings könnte diese Strategie auch gegen den Angeklagten gewendet werden, wenn der Schutz der Öffentlichkeit im Vordergrund steht. Das deutsche Recht sieht mit der Sicherungsverwahrung eine entsprechende Möglichkeit vor.

Im März 2007 habe der seit 1993 in Italien lebende Algerier Abdelmalek Bayout in einem Streit den ebenfalls in Italien lebenden Kolumbianer Walter Perez erstochen, berichtete kürzlich das Wissenschaftsmagazin Nature. Den Angaben des Täters zufolge hatte Perez ihn zuvor wegen seiner Schminke beleidigt, die er aus religiösen Gründen auf den Augenpartien getragen habe. Im ersten Gerichtsverfahren habe Bayout bereits eine Strafminderung von von zwölf auf rund neun Jahre erhalten, da psychiatrische Gutachten ihm eine Geisteskrankheit zum Tatzeitpunkt attestiert hätten. Im Berufungsverfahren in Triest, Italien, habe der Richter Pier Valerio Reinotti die Strafe nun um ein weiteres Jahr verkürzt.

In einem neuen Gutachten, das der molekulare Neurowissenschaftler Pietro Pietrini von der Universität Pisa sowie der kognitive Neurowissenschaftler Giuseppe Sartori von der Universität Padova hierfür vorgelegt hätten, sei dem Täter eine besondere Veranlagung für aggressives Verhalten attestiert worden. Den Richter habe insbesondere überzeugt, dass Bayout eine Ausprägung des sogenannten MAOA-Gens habe, die zuvor mit aggressivem Verhalten in Zusammenhang gebracht worden war.

Ist das MAOA-Gen ein Indikator für Aggressivität?

Die Abkürzung MAOA steht für Monoaminoxidase A, ein Enzym, das verschiedene Neurotransmitter sowie Hormone spaltet, darunter Serotonin, Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin. Es ist vor allem in der Leber sowie im Gehirn in großen Konzentrationen vorhanden. 1993 hatten Han Brunner von der Universität Nijmegen, Niederlande, und Kollegen in Science von einer holländischen Familie berichtet, die über mehrere Generationen hinweg für das besonders aggressive Verhalten mancher Männer bekannt war. Neben der Aggressivität kamen hier auch leichte Formen von geistiger Behinderung häufiger vor.

Genetische Untersuchungen der Familie ergaben, dass bei den betroffenen Personen eine Mutation vorhanden war. Diese führte zu einem Mangel an MAOA. Daraufhin wurde die Rolle des Gens in Tierversuchen weiter untersucht. So zeigten Mäuse, bei denen das Gen künstlich ausgeschaltet wurde, ebenfalls ein erhöhtes Maß an Aggressivität sowie Veränderungen in Hirnstruktur und -funktion. Gleichzeitig war das Vorkommen bestimmter Neurotransmitter, vor allem Serotonin und Noradrenalin, deutlich erhöht.

2002 wurde schließlich eine Studie von Avshalom Caspi und Kollegen in Science veröffentlicht, in welcher der Zusammenhang zwischen dem MAOA-Gen und aggressivem Verhalten in einer größeren Bevölkerungsgruppe untersucht wurde. Als sich die Forscher auf die Daten von 442 Männern konzentrierten und dabei berücksichtigten, ob diese als Kinder misshandelt worden waren oder nicht, ergab sich ein statistischer Zusammenhang: Bei den Menschen, die aufgrund ihrer Gene nur über wenig MAOA verfügten und zudem noch misshandelt worden waren, war die Quote für Verbrechen und Gewalt am höchsten. Allerdings erreichte der Effekt des Genotyps allein keine Signifikanz, der Effekt der Kindesmisshandlung hingegen schon. Das heißt, wer als Kind misshandelt wurde, der hatte schon eine hohe Anfälligkeit für Gewalt, Verbrechen und bestimmte psychiatrische Erkrankungen. Die ungünstigere Genvariante hat diesen Effekt nur noch etwas verstärkt.

Gene und Verhalten

Das Ergebnis erinnert an eine ganz ähnliche Untersuchung Caspis, die ein Jahr später ebenfalls in Science veröffentlicht wurde. Darin wurde ein Zusammenhang zwischen Kindesmisshandlung, der Ausprägung eines Serotoningens sowie dem Risiko für Depressionen berichtet. Dieser Befund ist inzwischen jedoch in Kritik geraten, da er von einer Zusammenfassung der neueren Forschung nicht bestätigt wurde (Doch kein Depressions-Gen). So fanden zwei neuere Untersuchungen den gegenteiligen Effekt, fünf gar keinen, drei konnten ihn teilweise und weitere drei ihn vollständig replizieren. Insgesamt wurde damit zwar der Einfluss von Kindesmisshandlung auf Depressionen bestätigt, jedoch nicht derjenige der genetischen Ausprägung.

Dem Zusammenhang zwischen dem MAOA-Gen und Aggressivität könnte es ganz ähnlich ergehen. Verglichen mit der Depressionsstudie war die untersuchte Gruppe nur etwa halb so groß. Damit sind die statistischen Schlüsse weniger sicher. Tatsächlich konnte eine Studie von Cathy Spatz Widom und Linda Brzustowicz von der University of New Jersey, die 2006 in der Zeitschrift Biological Psychiatry veröffentlicht wurde, keinen Haupteffekt zwischen dem MAOA-Gen und Gewalt feststellen. Eine weitere Unterteilung ihrer 631 Versuchspersonen in eine weiße und eine nicht-weiße Gruppe ergab stattdessen, dass das leicht erhöhte Risiko in Abhängigkeit von der Kindesmisshandlung nur bei den weißen Versuchspersonen bestand. Die Ursachen hierfür sind noch unklar. Nature zufolge haben die beiden italienischen Wissenschaftler, welche das Gutachten für das Berufungsverfahren angefertigt haben, die ethnische Herkunft des verurteilten Algeriers jedoch nicht berücksichtigt.

Eine neuere Untersuchung von Nelly Alia-Klein vom Brookhaven National Laboratory in New York und Kollegen, die letztes Jahr im Journal of Neuroscience erschienen ist, verkompliziert das Bild noch weiter. Mithilfe der Positronenemissionstomographie haben die Forscher nämlich nicht nur die Gene, sondern auch die tatsächliche Konzentration des Enzyms im Gehirn untersucht und dieses Ergebnis dann mit Aggression in Zusammenhang gebracht. Dabei ergab sich zwar, dass eine geringere Konzentration in verschiedenen Hirnregionen, darunter im präfrontalen Kortex und in der Amygdala, mit erhöhter Aggressivität korrellierte. Viele Versuchspersonen hatten jedoch ihrer genetischen Ausprägung zum Trotz ebenfalls einen hohen MAOA-Spiegel.

Das bedeutet, dass das von Brunner, Caspi sowie Widom und Brzustowicz untersuchte Gen womöglich gar nicht das geeignete Ziel ist, sondern allein die tatsächlich im Körper vorhandene Menge des Enzyms eine Auswirkung auf aggressives Verhalten haben kann. Jedenfalls scheint die Ausprägung des Gens die Konzentration des Enzyms im Gehirn nicht bei allen Menschen festzulegen.

Kommentar

Davon abgesehen könnte die Fokussierung auf Gewalt sehr selektiv sein. MAOA ist nämlich nicht nur mit Gewalt, sondern auch mit Geisteskrankheiten in Zusammenhang gebracht worden. Neurotransmitter wie Serotonin, Noradrenalin oder Dopamin, die das Enzym spaltet, werden inzwischen mit einer ganzen Reihe verschiedener psychischer Erkrankungen assoziiert. Da der Täter bereits im ersten Urteil eine Strafminderung erhalten hat, wurde ihm sein Zustand nun womöglich doppelt angerechnet. Dabei könnte die genetische Ausprägung auf eine Ursache für die psychiatrische Erkrankung deuten, ohne den Gutachten aus dem ersten Verfahren etwas Neues hinzuzufügen. Angesichts der vielfältigen Auswirkungen von MAOA ist die Brücke zur Aggressivität jedenfalls noch lange nicht geschlagen.

Unabhängig von der vorläufigen Datenlage wirft die Entscheidung des Richters die allgemeine Frage auf, wie statistische Daten im Gerichtssaal interpretiert werden. Die Effekte des MAOA-Gens auf Aggressivität sind sehr gering, ebenso wie die bisher gefundenen Kandidaten für eine ganze Reihe psychischer Störungen. Das bedeutet, dass bei Weitem nicht jeder mit einer entsprechenden genetischen Ausprägung ein bestimmtes Verhalten zeigt bzw. eine bestimmte Erkrankung entwickelt. Starke genetische Zusammenhänge wie bei Chorea Huntington oder der spinozerebellären Ataxie sind eher die seltene Ausnahme als die Regel. Das Gros der Erkrankungen, geschweige denn der Verhaltenszüge, lässt sich noch gar nicht genetisch festmachen.

Das strafmindernde Urteil des italienischen Berufungsrichters erscheint angesichts dieser Kritikpunkte als voreilig. Aufgrund seines psychischen Zustands hatte der Täter bereits im ersten Verfahren eine Strafminderung erhalten und es ist unklar, ob der genetische Befund bei ihm tatsächlich zu einer verstärkten Aggressivität führt. Nature nennt diesen Fall das erste europäische Gerichtsurteil, bei dem Verhaltensgenetik eine Rolle gespielt habe. Nita Faharany von der Vanderbilt University zählt inzwischen 200 Versuche in den USA sowie 20 in Großbritannien, unter Berufung auf eine genetische Veranlagung zur Gewalt für eine Strafminderung zu plädieren. Mit Ausnahme einiger weniger Fälle in den USA seien die meisten dieser Versuche aber gescheitert.

Der neue Fall hat bereits jetzt ein breites internationales Echo erhalten. Wer für einen Einfluss von Genetik und Neurobiologie auf das Rechtssystem argumentiert, dürfte die Entscheidung des Richters begrüßen. Es ist auch davon auszugehen, dass in Zukunft mehr Anwälte die Idee einer „genetischen Verteidigung“ aufgreifen werden, nachdem der Versuch in Italien erfolgreich war. Allerdings könnte das zumindest im deutschen Recht auch nach hinten losgehen. Schließlich haben Richter die Möglichkeit, neben einer Freiheitsstrafe eine Sicherungsverwahrung anzuordnen, um die Gesellschaft vor einem besonders gefährlichen Verbrecher zu schützen. Hat man das Gericht mithilfe eines genetischen Befunds nämlich erst einmal zur Strafminderung gebracht, dürfte es schwerfallen, gegenüber dem Schutzbedürfnis der Gesellschaft für die Ungefährlichkeit des Mandanten zu argumentieren. Da eine Sicherungsverwahrung im Gegensatz zur Haftstrafe zeitlich unbefristet verhängt wird, könnte das zunächst entlastend verwendete genetische Wissen schließlich gegen den Täter gewendet werden – im Extremfall für den Rest seines Lebens.