Spitze Ellenbogen statt starker Schultern

Schwarz-Gelb beerdigt die paritätische Finanzierung des Gesundheitssystems

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„Es wird in jeder Gesellschaft einen Ausgleich geben müssen zwischen Arm und Reich - aber eben nicht im Gesundheitssystem." Mit dem Sozialstaatsgedanken haben die Vorstellungen, die der frischgebackene Gesundheitsminister Philipp Rösler in der gestrigen Bundestagsdebatte über das Gesundheitssystem offenbarte, nur mehr wenig zu tun. Die neue Regierung will das System der gesetzlichen Krankenkassen von Grund auf reformieren.

Die Kosten steigen von Jahr zu Jahr um rund 2,5%. Die Arbeitgeber sollen allerdings von künftigen Kostensteigerungen ausgenommen werden. Auf der Ausgabenseite will und kann man nicht sparen – schließlich gehören Ärzte und Apotheker zur Stammwählerschaft der FDP und auch die Gesundheits- und Pharmaindustrie kann fest darauf zählen, dass Schwarz-Gelb ihnen bei ihrem Renditestreben nicht in die Parade fährt. Steigende Kosten auf der Ausgabenseite bedingen steigende Kosten auf der Einnahmenseite – ohne Beteiligung der Arbeitgeber kann dies nur eine massive Mehrbelastung der Arbeitnehmer bedeuten, und die soll, so will es die Regierung, einkommensunabhängig per Pauschalbetrag erhoben werden. Aus dem „Mehr Netto vom Brutto“ wird für die Mehrheit des Volkes also nichts. Aber darum geht es Schwarz-Gelb ja auch nicht. Die „Leistungsträger“ werden durch die gesundheitspolitischen Novellen jedenfalls massiv entlastet – Mission erfüllt.

Das Ende einer Erfolgsgeschichte

Im letzten Jahr konnte die paritätische Finanzierung des Gesundheitssystems ihr 125jähriges Jubiläum feiern. Seit der Verabschiedung des Gesetzes betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter im Jahre 1883 werden in Deutschland die Beiträge zur Krankenversicherung jeweils zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeinsam bezahlt. Wie selbstverständlich wurde die Höhe der Beiträge stets an der Höhe des Einkommens bemessen. Dies ist schließlich einer der Grundpfeiler des Sozialstaates - starke Schultern können mehr Lasten tragen als schwache. Sozialstaat ade, die geplanten Reformen entkoppeln die Finanzierung des Gesundheitssystems endgültig vom „solidarischen Ballast“ alter Zeiten. Künftig wird die Krankenschwester genau so viel zu schultern haben wie der Chefarzt.

Doch Schwarz-Gelb vollendet damit nur, was schon Rot-Grün und die Große Koalition begonnen haben. Schon bei der letzten Gesundheitsreform im Jahre 2005 sind die Arbeitgeber von zusätzlichen Beitragserhöhungen einseitig befreit worden. Der erhöhte Beitragssatz von 0,9 Prozent wurde den Arbeitnehmern aufgebürdet, die seitdem 7,9 Prozent ihres Bruttoeinkommens für die Krankenversicherung aufbringen müssen, während die Arbeitgeber sich mit 7 Prozent begnügen dürfen. Diese vorweggenommene Aufkündigung des Solidarpakts zu manifestieren, wird indes eine der Aufgaben von Schwarz-Gelb sein. Und Schwarz-Gelb wäre nicht Schwarz-Gelb, wenn sie nicht den Abriss des Sozialstaatsprinzips noch weiter beschleunigen würde. In einem ersten Schritt sollen nicht nur weitere zu erwartende Beitragserhöhungen einseitig von den Arbeitnehmern getragen werden, sondern diese zusätzlichen Versicherungskosten sollen auch noch einkommensunabhängig erhoben werden.

Die vier Asse auf der Gewinnerseite

Wenn man entdeckt, dass bei der gegenwärtigen Kassenlage im Gesundheitssystem die Ausgaben höher sind als die Einnahmen, hat man verschiedene Möglichkeiten, dieser Schieflage zu begegnen.

Man könnte beispielsweise die Einnahmenseite unverändert lassen und die Ausgaben kürzen. Ausgaben sind allerdings nicht nur Leistungen, die den Versicherten zugutekommen, sie stellen auch Einnahmen für die verschiedenen Interessengruppen dar. Zum Einen gibt es dort die niedergelassenen Ärzte. Ein niedergelassener Arzt erzielt im Durchschnitt einen Reinertrag von 142.000 Euro im Jahr – davon gehen nur noch Steuern und Sozialabgaben ab. Durchschnittlich elf Prozent mehr Honorar konnten die Ärzte in den beiden letzten Jahren verbuchen. Den Grundstock der üppigen Honorare bildet dabei ein Regelleistungsvolumen, das in einem Kollektivvertrag mit den Krankenkassen ausgehandelt wird. Das Honorierungssystem für Ärzte hat mit freiem Wettbewerb nicht viel zu tun, aber die FDP, die sich sonst bei jeder Gelegenheit als letztes Bollwerk zur Rettung des freien Wettbewerbs aufführt, hat auch gar kein Interesse daran, hier Reformen durchzusetzen. Schließlich gehören der Arzt, neben dem Apotheker, dem Anwalt und dem Architekten zu den berühmt-berüchtigten „vier Asse“, die das Rückgrat der FDP bilden und als deren Klientelpartei sich die Liberalen verstehen. Eine Gesundheitsreform, bei der die Ärzte mit Kürzungen konfrontiert werden, ist mit der FDP daher nicht möglich, also müsste an anderer Stelle gespart werden.

Wie wäre es mit den Apothekern? Kein anderes Gewerbe kann so hohe Margen vorweisen. Apotheker leben in einer seltsam nostalgischen Welt ohne echten Wettbewerb – sie sind dank politischer Protektion vom Wettbewerb weitestgehend ausgeschlossen und werden durch das Arzneimittelgesetz, die Apothekenbetriebsordnung und das Sozialgesetzbuch vor Konkurrenz geschützt. Natürlich könnte man im Gesundheitssystem viel Geld sparen, wenn man im Apothekenbereich einen echten Wettbewerb durchsetzten würde. Dies ist mit der FDP aber nicht zu machen. Schon in der Vergangenheit hat sie alles in ihrer Macht Stehende getan, um das Monopol der Apotheken zu wahren und gegen Konkurrenz aus dem Internet zu schützen. Auch im Koalitionsvertrag ist nichts von einer Stärkung des Wettbewerbs bei Apotheken zu lesen – im Gegenteil. Der freie Markt ist für die FDP nur dann gut, wenn mit ihm keine Nachteile für eine ihrer Klientelgruppen verbunden sind.

Kostentreiber Pharmaindustrie

Auch auf Seiten der Pharmakonzerne und der Krankenhäuser könnte man auf der Ausgabenseite sparen. Aber natürlich nicht mit der FDP, der es angeblich um die Arbeitsplätze in diesen Wachstumssektoren geht. Um die Arbeitsplätze geht es der FDP freilich nicht – vor allem im privatisierten Krankenhaussektor wird entlassen, was das Zeug hält. Examinierte Fachkräfte werden gegen schlecht ausgebildete – aber spottbillige – Pflegeassistenten ausgetauscht, und aufgrund der angebotenen Hungerlöhne haben viele Kliniken sogar Engpässe beim ärztlichen Personal, das lieber ins Ausland geht, wo noch ordentlich bezahlt wird.

Die Pharmaindustrie und die Krankenhäuser wollen nicht nur eine Eigenkapitalrendite von mindestens 5% verwirklichen, sie wollen auch wachsen. Mehr Umsatz und mehr Rendite bedeuten im Umkehrschluss jedoch höhere Kosten für das Gesundheitssystem. Die Kosten für Krankenhäuser und Arzneimittel steigen jährlich um rund 5% und dies wird sich unter Schwarz-Gelb sicherlich nicht ändern. Es ist sogar zu erwarten, dass die Kosten weiter steigen. Reformmaßnahmen der letzten Regierung, die die Kosten deckeln sollten, stehen nämlich bereits auf dem Prüfstand – Schwarz-Gelb spielt bereits mit dem Gedanken, Erstattungshöchstpreise, Zuzahlungsbefreiungen für besonders preiswerte Medikamente, Rabattverträge mit den Krankenkassen und die Kosten-Nutzen-Bewertung neuer Arzneimittel durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit zu kippen. Das ist gut für die Aktionäre der Pharmakonzerne, aber schlecht für die Beitragszahler der Krankenkassen.

Umverteilung von unten nach oben

Auf der Ausgabenseite kann Schwarz-Gelb also nicht sparen, wenn man es sich nicht mit seiner Klientel verderben will. Wenn die Kostensteigerung einmal als gegeben angenommen wird – Experten gehen sogar von einer Steigerung von 5% p.a. aus -, heißt das natürlich, dass die Einnahmen erhöht werden müssen. Auch dabei gäbe es einige Möglichkeiten, wie man dies sozialverträglich gestalten könnte. Man könnte beispielsweise die Beitragsbemessungsgrenze von derzeit 3.675 Euro erhöhen oder gutverdienende Privatversicherte über eine Zwangsumlage am Solidarsystem teilnehmen lassen. Aber in der Diktion von Schwarz-Gelb sind Bürger, deren Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt, ja „Leistungsträger“, die ent- und nicht belastet werden dürfen. Wenn also die Gutverdiener und Vermögenden nicht verstärkt zur Kasse gebeten werden können, müssen halt die Normal- und Geringverdiener für die Zusatzkosten aufkommen. Die Mehreinnahmen von Ärzten und Apothekern und die Dividenden der Aktionäre von Pharma- und Krankenhauskonzernen müssen daher künftig einseitig von den Mitbürgern aufgebracht werden, die nicht unter die Kategorie „Leistungsträger“ fallen. Das ist nicht nur ein Abschied vom Solidarprinzip, es ist sogar dessen Umkehrung.

Dabei sind die einkommensunabhängigen Zusatzbeiträge erst der Anfang einer Reformierung des Beitragssystems, die bei der Kopfpauschale enden wird, die Schwarz-Gelb wohl nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen umsetzen wird. Nach Berechnungen der AOK würde eine Kopfpauschale für den Arbeitnehmeranteil der Krankenversicherung bedeuten, dass jeder Versicherte, von der Krankenschwester bis hin zum Chefarzt, monatlich mit 140 Euro zur Kasse gebeten wird – Steigerungen von rund 10% pro Jahr, da die 5% Gesamtkostensteigerung ja einseitig auf die Arbeitnehmer umgelegt wird, exklusive. Bei dem zugrundeliegenden Beitragssatz von 7% des Bruttoeinkommens hieße dies nicht nur, dass sämtliche Arbeitnehmer, die weniger als 2.000 Euro Brutto verdienen, schon jetzt mehr bezahlen müssten als vorher, sondern auch, dass künftig jedes Jahr rund 150 Euro mehr in den Lohntüten fehlen, da damit die Kostensteigerungen aufgefangen werden. Und dies Jahr für Jahr, den Zinseszins nicht einmal inbegriffen. So wird der Slogan „Mehr Netto vom Brutto“ zur zynischen Farce.

Um die Zusatzbelastungen sozialverträglich abzufedern, will Schwarz-Gelb sie für Bedürftige aus Steuermitteln finanzieren. Doch das ist nicht etwa sozial, sondern höchst unsozial, da diese Steuermittel an anderer Ecke im Transfersystem eingespart werden müssen. Die geschätzten 22 Milliarden Euro, die dafür nötig sind, sind kein Zuschuss für sozial Schwache, es sind Subventionen für sozial Starke. Wenn die Beiträge von Gut- und Besserverdienern gekappt werden und die daraus resultierenden Kassenlöcher aus dem Steuersystem ausgeglichen werden sollen, so ist dies nämlich nichts anderes als eine Subvention. Auch Subventionen will die FDP natürlich abbauen – freilich nur solche, die nicht ihre Klientel betreffen.

INSM voran!

Wohin die Reise noch gehen wird, hat Philipp Rösler bereits durch die Nominierung seines „Expertenrates“ unter Beweis gestellt. Künftig sollen die Herren Thomas Drabinski, Günther Neubauer und wohl auch Bernd Raffelhüschen die Zukunft des Gesundheitssystems mitgestalten.

Da hätte Rösler auch gleich die neoliberale Lobbyvertretung „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) mit den Reformen betrauen können. Drabinski ist dafür bekannt, dass er dafür eintritt, dass Patienten künftig 10% der Behandlungskosten aus eigener Tasche zahlen sollen.

Neubauer, der ebenfalls die Patienten an den Krankheitskosten beteiligen will, wird von der INSM sogar regelmäßig mit Studien beauftragt. Raffelhüschen ist seinerseits sogar offizieller Botschafter der INSM und zeichnete sich in der Vergangenheit nicht nur als neoliberaler Abrissbagger für das Sozialsystem, sondern auch als beliebter Aufsichtsrat diverser Versicherungskonzerne und regelmäßiger Gast in Talkshows aus. So schlimm und unsozial die aktuell geforderten Novellen sind – dies ist wohl erst der Anfang einer langen Reihe von Grausamkeiten.