Entrechtungsavantgarde

Das neue Datenschutzbewusstsein der Arbeitsagentur

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Nach den letzten Problemen mit dem Datenschutz bemüht sich die Arbeitsagentur um Schadensbegrenzung. Doch das plötzliche Datenschutzbewusstsein ist angesichts der ALG-II-Gesetzgebung und deren Umsetzung wenig überzeugend. Logisch betrachtet kann Datenschutz hier auch keinen Stellenwert haben.

Der Datenschutz ist eine Katastrophe

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar, bezeichnete unlängst den Datenschutz bei der Arbeitsagentur als Katastrophe und auch die Leiterin des Referats für e-Government, Neue Medien und Verwaltungsmodernisierung des Fachbereichs Gemeinden bei ver.di, Annette Mühlberg, wusste im Interview mit Netzpolitik nicht viel Positives über die ALG-II-Software mitzuteilen.

Weitgehend unübersichtliche Befugnisstrukturen, Möglichkeiten, über das Jobbörsenportal Zugriff auf beliebig viele Bewerberdaten zu erhalten, ohne vorher konkret belegen zu müssen, dass es sich bei einem um einen Arbeitgeber handelt, der tatsächlich Arbeitsplätze zu vergeben hat, sind jedoch nur ein kleiner Teil der Problematik, die bei den Betroffenen längst zur kompletten Resignation in Datenschutzbelangen geführt hat. Dies liegt daran, dass die Maxime bei den Arbeitsagenturen lange Zeit lautete: Du willst etwas von uns, Du tust, was wir sagen. Nur so hast Du auch eine Chance.

Der Arbeitslose ist stets selbst schuld

Beim Thema Arbeitslosigkeit ist es wichtig, weiterhin den Anschein zu erwecken, es handele sich nur um ein Problem, welches durch genug Motivation und Engagement der Betroffenen sowie der Eliminierung der persönlichen Arbeitshindernisse gelöst werden kann. Die Wichtigkeit ergibt sich daraus, dass bei einer Betrachtung der Arbeitslosigkeit (was lediglich das Fehlen von fair bezahlten Erwerbstätigkeiten bedeutet) unter Berücksichtigung der Problematiken Technologisierung und Profitdenken als Dogma zwangsläufig das komplette Wirtschaftssystem in Frage gestellt werden würde.

Die Drohung von Arbeitgebern, sie würden abwandern, sollten sich ihre bisherigen Möglichkeiten verändern, würde bei einer Betrachtungsweise, die Arbeitslosigkeit nicht mehr als Schuld des Einzelnen ansieht, ins Leere laufen. Gleiches gilt für die Fixierung der Politik auf die Senkung der Arbeitslosenquote, die Hinarbeit zur Vollbeschäftigung usw. Da sich im derzeitigen System aber alles um Profit dreht, muss zwangsläufig der Mensch als Ware angesehen werden, die Profit einbringt oder diesen schmälert. Aus dem gleichen Grunde ist daher die Arbeitslosigkeit eine Verweigerung des Einzelnen, den Profit eines Arbeitsgebers oder des "Staates" zu mehren. Jede Krankheit, jedes persönliche Problem, jedes "Vermittlungshemmnis" muss daher aus dem Weg geräumt werden um die persönliche Ressource wieder dem Profitpool zuzufügen. Hier kann Datenschutz keinen Platz haben.

Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit

Das Fehlen eines Datenschutzbewusstseins, das auch Annette Mühlberg im Interview beklagt, ist eine logische Folge des Denkens, dass der Mensch hier nur noch Kunde/Nummer ist, die es zu vermitteln gilt.

[...] Die Mitarbeiter bewegen sich bei der Erfassung und Veröffentlichung der Daten permanent auf Glatteis. Wäre die Erfassung noch auf Papier oder stünde der Zugang zu den Daten nur dem Mitarbeiter und seinem Stellvertreter offen, dann wäre eine kleine Ungenauigkeit datenschutztechnisch völlig irrelevant. Der ganze Stress entsteht ja erst durch die Online-Zugänglichkeit. Und zuguterletzt wird auch noch dem sogenannten 'Kunden' (desjenigen, dessen Daten erfasst werden) Verantwortung mitaufgebürdet. Sein Einverständnis ist 'sowohl im Rahmen der Datenerhebung als auch mit der Erfassung in VerBIS' 'im Rahmen der Klickeinwilligung zu dokumentieren.' Wobei sich der Betroffene 'der Tragweite seiner Entscheidung bewusst und hinreichend informiert sein muss'. Die Frage ist doch vielmehr, ob sich die Bundesagentur für Arbeit selbst der Tragweite ihrer (Software-)Entscheidung bewusst ist.

(Annette Mühlberg im Interview mit Netzpolitik)

Wie Frau Mühlberg treffend kommentiert, ist die Einwilligung des Kunden eine Farce da einerseits nicht einmal bei den Angestellten selbst ein Bewusstsein dahingehend vorhanden ist, was die Zustimmung überhaupt bedeutet, andererseits dies aber auch schlichtweg irrelevant ist.

In bekannter "friss-oder-stirb"-Manier wird dem Kunden, wie der Arbeitssuchende nun heißt, mitgeteilt, dass er hier um Leistungen ersucht und deshalb verpflichtet ist, allen Befehlen Folge zu leisten. Andernfalls, so die einfache Lösung, gebe es eben kein Geld. Sicher stehen dem so behandelten Kunden die diversen Wege wie Beschwerden oder Klagen offen, doch wer so argumentiert, lässt außer Acht, dass es sich hier um Dinge handelt, auf die ein Anspruch besteht und die Kunden keine juristisch bewanderten, über beliebig viele finanzielle Ressourcen zur Durchsetzung von Ansprüchen verfügende, psychisch und physisch fitte Menschen sind.

Bei vielen ALG-II-Empfängern handelt es sich bereits um Menschen, die schlichtweg der Hilfe bedürfen. Doch in der Vermittlungsmaschine, die die Geldleistungen (immerhin das Existenzminimum) jederzeit als Druckmittel verringern kann oder dies ankündigt, ist die Hilfe nur noch die Maske, hinter der sich der blanke Zynismus verbirgt. Fragen ob der ALG-II-Beantragende an Depressionen leidet, Albträume hat, sich minderwertig ob seiner Hilfebedürftigkeit fühlt (was durch Medien und Politik ja stets forciert wird), Menschen hat, die ihm zur Seite stehen, er Alkohol/Drogen konsumiert oder an Selbstmord denkt, sind nicht dafür gedacht, hier eine Hilfebedürftigkeit festzustellen oder gar Hilfe zu leisten, sondern die Arbeitsverfügbarkeit des Einzelnen zu bewerten und ihn somit einer bestimmten Gruppe von Arbeitssuchenden zuzurechnen.

Dabei führt diese Einteilung nicht zu einer weiteren Hilfe, sondern oft eher zu einer Verschlimmerung der Situation, da der Betroffene so in den Vermittlungslisten nach hinten rutscht, während er gleichzeitig aber den gleichen Regelungen unterworfen ist, die auch für denjenigen gelten, der laut Befragung "topfit" ist. Einfach ausgedrückt: der depressive Suizidkandidat wird gleich doppelt unter Druck gesetzt/bestraft. Zum einen muss er einen Datenstriptease ausführen, dann wird er als schwer vermittelbar eingestuft und insofern auch bei Bewerberlisten ausgeblendet oder unter "ferner liefen" geführt, während er jedoch trotz der bekannten Probleme sämtlichem Druck der ArGe-Maschine ausgeliefert ist wie alle (Bewerbungen, Termineinhaltung usw.).

Dem Antragsteller wird stetig suggeriert, dass er, so er nicht alle auch noch so intimen Daten herausrückt, selbst schuld ist daran, arbeitssuchend zu sein und insofern ein Beharren auf Privatsphäre synonym ist mit einer aktiven Verweigerung von Chancen. Als würde die Offenbarung aller Daten automatisch die Aussicht auf einen Job verheißen, wird Datenschutzbewusstsein als Renitenz umgedeutet. Die ArGen maßen sich hier an, wie im Krimi "die Wahrheit und nichts als die Wahrheit" zu verlangen. Nichts zu verbergen wird hier zur allgegenwärtigen Maxime.

Systematisches Zer/Verbrechen

Nicht erst seit der ehemalige Bundesminister Clement ALG-II-Empfänger folgenlos als Parasiten bezeichnete und bei einer Polittalkshow (von der die Talkshow "leitenden" Sabine Christiansen unwidersprochen) von Missbrauchsquoten in Höhe von mehr als 20% fabulierte, sind ALG-II-Empfänger bei vielen nur noch als schmarotzende, arbeitsunwillige, betrügende, ungepflegte und dümmliche Menschen existent, die "könnten, wenn sie nur wollen". Systematisch tun sich Politiker dadurch hervor, dass sie, sich selbst mit dem "Mut zur Wahrheit" brüstend, diese Vorurteile weiter schüren, noch stärkere Einschnitte bei ALG II fordern oder aber in absurder Argumentation Niedriglöhne deshalb kritisieren, weil diese in der Höhe ALG II entsprechen.

Systematisch wird hier eine immer größer werdende Bevölkerungsgruppe psychisch zerbrochen und dieser dann noch abverlangt, sich gegen eine Maschinerie zu wehren, die nicht nur datenschutzrechtlich lediglich dem Experiment folgt, inwieweit und wie lang sich jemand gegen oft sadistische Behandlung noch wehrt oder aber aus Angst vor dem Komplettverlust sämtlicher Mittel (wobei vielen ja illegale Methoden nicht einmal in den Sinn kommen würden, was die Absurdität vieler populistischer Aussagen noch verstärkt) sowie der Verinnerlichung der Idee, dass er selbst an allem schuld ist, jegliche Miss/Behandlung in Kauf nimmt. Der ALG II-Empfänger ist somit in vielerlei Hinsicht ein Versuchsobjekt dafür, wie weit die Stigmatisierung und Entrechtung einer Bevölkerungsgruppe fortschreiten kann, während die Nichtbetroffenen zusehen.