Kinder, Geld und Kindergeld

Zur Debatte um finanzielle Förderung im "Unterschichtenmilieu"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die von der Financial Times Deutschland (FTD) initiierte Umfrage, inwiefern erhöhtes Kindergeld den Kindern zugute kommt, scheint auf den ersten Blick bedenkliche Ergebnisse erbracht zu haben. "Zusätzliches Kindergeld kommt bei Kindern nicht an" urteilt die FTD. Dem unheilverkündenden Tenor des Artikels nach "[...] planen 48 Prozent der Väter und Mütter, das Geld für den täglichen Bedarf zu nutzen, zu sparen oder für Urlaub, Schuldentilgung oder Renovierung zu verwenden."

Welche Ausgaben sind eigentlich "für das Kind"?

Die Logik, die hinter dieser Beurteilung steht, folgt der Logik der Politik, die zwischen Kindes- und Erwachsenenwohl unterscheidet und nicht etwa ein "Familienwohl" daraus bildet. Einfach ausgedrückt: was für die Familie ausgegeben wird, kommt nicht den Kindern zugute. Anders lässt sich kaum erklären, inwiefern Schuldentilgung, Urlaub, Renovierung oder täglicher Bedarf nicht auch zum Kindeswohl beitragen sollen.

Im Jahr 2007 stieg die Zahl der verschuldeten Deutschen auf 7,3 Millionen, Tendenz steigend. Dies wirkt sich aber nicht nur auf die Kaufkraft der verschuldeten Familien aus, sondern oft auch auf den Gesundheitszustand. Eine Studie der Johannes Gutenberg Universität Mainz aus dem Jahr 2008 zeigte auf, dass acht von 10 überschuldeten Menschen krank sind. Psychische Erkrankungen (z.B. Angstzustände, Depressionen, Psychosen) und Gelenk- bzw. Wirbelsäulenerkrankungen waren mit jeweils 40 Prozent die häufigsten Beeinträchtigungen. Bei den Frauen kamen Schilddrüsenprobleme hinzu, bei Männern zeigte sich ein Trend zu Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen. Viele Betroffene, so die Studie, gingen aus Geldmangel nicht mehr zum Arzt bzw. würden keine Medikamente kaufen und einnehmen, was die Situation noch verschlimmere.

Für die gesamte Familie ist daher eine Schuldentilgung nicht nur in finanzieller Hinsicht sinnvoll. Sie nimmt auch den psychischen Druck von den Betroffenen, was sich dann auch auf die Familiensituation auswirkt. Kinder profitieren direkt davon, dass die Eltern gesund sind. Zum einen dadurch, dass die Eltern so ausgeglichener sind, zum anderen durch sich verringernde Arztkosten. Langfristig ist es also durchaus empfehlenswerter, die Schulden zu tilgen um dann mehr finanziellen Spielraum zu haben und den Kindern als gesunder Mensch zur Seite stehen zu können. Damit soll nicht ausgesagt werden, dass kranke Menschen keine liebevollen Eltern sein können, im Gegenteil. Doch es ist nachvollziehbar, dass Menschen mit Psychosen und Depressionen, Suchtkranke oder Menschen mit schweren Gelenkproblemen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind und oft keine Hilfe für die Kinder bieten können, sondern vielmehr selbst Hilfe von den Kindern benötigen. Für Kinder ist dies eine starke Belastung.

Ab ins Blaue - ohne Kind?

Auch die Idee, dass das Kindergeld im Urlaubsfall nicht dem Kind zugute kommt, ist zu kurzsichtig gedacht. Es ist kaum davon auszugehen, dass die Befragten sich vom Kindergeld das nächste Ticket für den Singleurlaub holen, sondern eher, dass der gemeinsame Urlaub gemeint ist. Auch hier gilt, dass Kindeswohl und Familienwohl keine Gegensätze sind, sondern im Gegenteil zusammengehören. Kinder profitieren von neuen Eindrücken genauso wie davon, dass sie mit den Eltern gemeinsam etwas unternehmen.

Die strikte Trennung von Kind- und Familienwohl ergibt keinen Sinn, wenn nicht beachtet wird, worum sich die Debatte um mehr Kindergeld/Bildungsgutscheine eigentlich dreht.

Geld, Geld, nur Du allein...

Die Gesamtdiskussion darum, welche Kinder von welcher Möglichkeit der Sozialleistung profitieren (bzw. welche Eltern dieses Geld wofür ausgeben) wird rein akademisch geführt. Ob populistisch gesagt wird, dass mehr Kindergeld versoffen wird oder ob Bildungsgutscheine dies verhindern sollen: das Kindeswohl wird alleine auf mehr finanzielle Möglichkeiten reduziert bzw. auf Bildung, Ernährung und Betreuung. Dies ist logisch, da ja durch mehr Bildung die Kinder auf den späteren Eintritt in die Erwerbsarbeitswelt vorbereitet werden und dort entsprechende Chancen haben sollen. In diese Kerbe schlagen auch diejenigen Eltern, die aus Sorge vor der Chancenlosigkeit der Kinder diese bereits in jungen Jahren zum nächsten Genie entwickeln wollen. Zum einen werden so die Kinder aus Angst vor allen möglichen Gefahren in Watte gepackt, zum anderen sollen sie möglichst früh bereits einem Konkurrenzkampf und der Bildungskette zugeführt werden.

Dazu kommt, dass Überlegungen, wie allgemein das Familienwohl gefördert werden könnte/müsste, unweigerlich auch zu der Frage führen, inwiefern die Regierungen hier in den letzten Jahren nicht nur versagt haben, sondern auch dazu beigetragen haben, dass Großfamilien kaum mehr existieren. Hier zeigt sich erneut die Doppelmoral der Regierung, die den großen Familienverbund bei Damen wie Frau von der Leyen inklusive der Pflege des Vaters lobt, bei denjenigen, die finanziell nicht so gut gestellt sind, mehrere Kinder als Zeichen für Asoziales ansieht. Die extremen (Mobilitäts)anforderungen der Leistungsgesellschaft haben nicht nur Großfamilien zersplittern lassen bzw. diese verhindert, sie führen auch zu weniger Zeit für die Kinder, zu durch Überstunden, Mobbing und geringe Löhne ausgebrannten Eltern, die versuchen, den ebenfalls steigenden finanziellen Anforderungen noch nachzukommen.

Nicht zuletzt sorgt so auch das Umfeld, dass viele Kinder per se als asozial ansieht und notleidenden Eltern nicht unter die Arme greift, sondern ihnen noch zusätzlich in den Rücken fällt, dafür, dass es Kindern an dem fehlt, was bei der Diskussion bisher wenig bis gar keine Erwähnung findet: Wärme, Nähe, Zuwendung, Verständnis, Vertrauen und Liebe.

Stattdessen aber finden sie eine Umgebung vor, in der finanzielle Probleme, fehlende Familien- und Infrastrukturen, immer weiter zurückgefahrene Leistungen für sie bei steigenden Kosten sowie Kinderfeindlichkeit stark zunehmen. Egal ob der Kinderwagen, der kurzfristig im Treppenhaus parkt, stört oder die spielenden Kinder auf dem Spielplatz (sofern noch vorhanden) - Kinder sind für viele eher ein Hindernis, wenn es beispielsweise um die Immobiliensuche geht oder um einen Arbeitsplatz. Hier müsste insbesondere die Politik einmal damit aufhören, die Bevölkerung durch immer stärker werdendes Unterschicht/Oberschicht-Denken zu spalten, müsste aufhören, unter dem Deckmäntelchen des selbstgerechten Wahrheitsverkünders immer wieder Beiträge durch die Medien zu hetzen, die nur dazu geeignet sind, noch mehr Zwietracht unter der Bevölkerung zu sähen. Den Medien käme die Aufgabe zu, etliche Aussagen so kritisch wie möglich zu betrachten.

Es gäbe viele Möglichkeiten, den Kindern mehr Chancen zu bieten. Zum einen sind dort sicherlich Aspekte wie gemeinsames Frühstück und Mittagessen in Schulen/Kindergarten, Lehrbücher, die kostenfrei ausgegeben werden, freier Eintritt in Museen, Schwimmbad usw. - doch fernab dieser praktischen Erwägungen ist vor allen Dingen wieder ein Umfeld wichtig, dass es Kindern ermöglicht, Kinder zu sein. Ohne Stöckelschuhe mit sechs Jahren, ohne Hysterie, wenn sich das Kind einmal eine Stunde lang nicht per Handy meldet, ohne Antibiotika en masse bei der kleinsten Schramme und ohne die Ansicht, dass jemand mit mehr als einem Geschwisterchen schon in einer asozialen Familie lebt. Hier wäre die Politik tatsächlich gefragt. Aber Bildungsgutscheine sind eben günstiger.