Auferstanden aus Ruinen?

Die SPD versucht sich neu zu erfinden und vertraut auf die Vergesslichkeit des Wählers

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Die Sozialdemokraten sind endlich in der Opposition angekommen. Der SPD-Parteitag in Dresden war von Anfang an auf die maximale Öffentlichkeitswirksamkeit einer Oppositionspartei orchestriert, die vor lauter Regierungsfähigkeit kaum laufen kann. Von einer inhaltlichen Aufarbeitung der vergangenen elf Regierungsjahre sind die Sozialdemokraten jedoch noch weit entfernt. Lediglich die Forderung nach der Wiedereinführung der Vermögenssteuer stellt eine – wenn auch wenig glaubwürdige – inhaltliche Novelle dar. Stattdessen konzentrierte man sich darauf, Geschlossenheit zu demonstrieren und sich verbal neu aufzustellen. Der neue starke Mann ist der ehemalige Goslarer Berufsschullehrer Sigmar Gabriel, der sich in einer 100minütigen, als fulminant empfundenen Rede feiern ließ. Es ist jedoch fraglich, ob der alte Schröderianer Gabriel das Grundproblem der SPD überwinden wird – die zerstörte Glaubwürdigkeit.

Wenn SPD-Spitzenpolitiker gesellschaftliche Missstände anprangern, dann sagen sie, dass dieses und jenes „von den Menschen als ungerecht empfunden“ würde. SPD-Spitzenpolitiker hüten sich davor, Ross und Reiter beim Namen zu nennen und einen Misstand auch als ungerecht zu bezeichnen. Daraus ließe sich schließlich ein konkreter Handlungsbedarf ableiten. Konkret Stellung beziehen und Politik so gestalten, dass Ungerechtigkeiten abgeschafft werden, will die SPD aber nicht – dies könnte ja schließlich ihre Koalitionsfähigkeit einschränken.

Und wer immer noch die Position vertritt, die FDP hätte sich im Vorfeld der Bundestagswahlen der SPD „verweigert“, gleichzeitig aber offen für Bündnisse mit der Linken eintritt, der muss das komplette politische Spektrum abdecken und dies geht nun einmal nicht, wenn man sich konkret auf Inhalte festlegt.

Gefangen in einer Lebenslüge

In einem Punkt waren sich in Dresden alle Redner einig – die elf Jahre Regierungsarbeit der SPD sind irgendwie suboptimal verlaufen. „Man habe es nicht vermocht, die Menschen mitzunehmen“, wie es der Delegierte Joachim Poss in unverwechselbarer Politrhetorik einräumte. Die Agendapolitik als PR-Problem? Wer es in der neuen alten SPD zu etwas bringen will, darf die Agendapolitik nicht mehr als Erfolgsmodell verkaufen. Wer es in der neuen alten SPD zu etwas bringen will, darf allerdings auch keine Rücknahme der Agendapolitik fordern. Bitte nichts Konkretes, Selbstkritik ist in der SPD nur auf der Metaebene möglich.

Für den bitter nötigen Diskurs über die begangenen Fehler war der erste Tag des Dresdner Konvents vorgesehen. Parteiinterne Kritiker der Agendapolitik durften auf der Bühne die Parteispitze, teilweise auch mit harschen Worten, zu einem ernstzunehmenden Neuanfang auffordern. Am 11.11. haben schließlich die „närrischen Tage“ begonnen und so nahm der Vorstand derlei Fundamentalkritik zwar mit ernster Miene und tiefgefurchter Sorgenstirn entgegen, ließ sie dann aber wie Teflon an sich abperlen. Das ist das Alleinstellungsmerkmal der SPD – keine andere Partei kann wie ein Rohrspatz über die Regierungsarbeit der letzten elf Jahre schimpfen, ohne sich selbst damit zu meinen. Am Wochenende schien es fast, als gäbe es zwei Exemplare der Partei – die Regierungspartei SPD, und die Parteitagspartei SPD, die sich in Dresden in Spiegelfechterei an der Regierungspartei SPD abarbeitete.

Bitte bloß keine konkreten Inhalte!

Ein Abbild dieser Schizophrenie stellen die verabschiedeten Beschlüsse dar. Korrekturen an Hartz IV, Korrekturen an der Rente mit 67? Mitnichten, die inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Themen wurde einstweilen auf das nächste Jahr verschoben. „Experten“ sollen zunächst einmal diese Politikfelder bewerten, bevor die Partei sich festlegen will. Das ist nur konsequent – wer Hartz IV oder die Rente mit 67 nicht ungerecht findet, sondern nur befürchtet, sie könnten vom Volk als „ungerecht empfunden“ werden, kann sich natürlich auch nicht festlegen.

Auch auf anderen Politikfeldern scheute die SPD die konkrete inhaltliche Positionierung wie der Teufel das Weihwasser. Abzug aus Afghanistan? Ja, irgendwann einmal, wenn die Umstände dies zulassen. Bitte kein Datum und bitte keine konkrete Benennung dieser Umstände. Und wie steht es mit dem Steuersystem und der Staatsverschuldung? Man will die Staatsfinanzen „wachstumsorientiert konsolidieren“ – aber bitte ohne konkrete Vorgaben. Zum Steuersystem will man sich nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen noch einmal Gedanken machen. Würde man sich vorher festlegen, müsste man schließlich im Wahlkampf konkret Stellung nehmen und das will man in der SPD nicht.

Alter Wein aus neuen Schläuchen

Der Mann, der wohl wie kaum ein anderer diese watteweiche Konsenssoße verkaufen kann, ist Sigmar Gabriel. Das letzte verbliebene Schwergewicht der Partei ist ein brillanter Verkäufer. Er könnte nicht nur einem Eskimo einen Kühlschrank verkaufen, ihm wird offensichtlich auch zugetraut, die Wähler und die Partei davon überzeugen zu können, dass die alte SPD eine neue SPD ist. Einen Vorgeschmack auf die rhetorischen Finessen ließ der neue Parteivorsitzende in seiner 100minütigen Antrittsrede durchblitzen.

Wenn man diese Rede einem politisch interessierten Briten vorspielen würde, der sich nicht sonderlich mit der jüngeren Geschichte der deutschen Sozialdemokratie auskennt, so würde er in Gabriel wohl einen anpackenden Politiker sehen, der es mit der Partei und den Wählern ernst meint und eine dosiert progressive Politik verfolgen will, die den sozio-ökonomischen Verwerfungen des letzen Jahrzehnts Rechnung trägt. Wer jedoch Sigmar Gabriel und die jüngere Geschichte der deutschen Sozialdemokratie kennt, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, Zeuge einer genial inszenierten Verkaufsveranstaltung gewesen zu sein.

L´Opportunist

Sigmar Gabriel verkörpert die hohe Kunst des Opportunismus in der Politik wie kaum ein Anderer. Als sein guter Freund Gerhard Schröder zusammen mit dem Briten Tony Blair 1999 in den Schröder-Blair-Papieren die Sozialdemokratie durch eine neoliberale Ausrichtung ad absurdum führte, gehörte Gabriel zu den bedingungslosen Unterstützern dieser Politik. Gabriels Begeisterung für die „neue Mitte“ kam nicht aus innerer Überzeugung – in den frühen Jahren seiner politischen Karriere war Gabriel schließlich ein überzeugter Parteilinker.

Höhere Weihen konnten ihm in der SPD allerdings nur zuteil werden, wenn er ins Lager der Schröderianer wechselte. Gabriels Opportunismus zahlte sich aus – ohne die Protektion des Kanzlers wäre Gabriel weder Fraktionsvorsitzender der niedersächsischen SPD, noch 1999 Amtsnachfolger des scheidenden niedersächsischen Ministerpräsidenten Glogowski geworden. Plötzlich war Sigmar Gabriel wer, und seitdem hat er es sich nicht nur auf den Sesseln der politischen Talkshows, sondern auch den Trögen der Macht bequem gemacht.

Gabriel ist ein politischer Hans Dampf in allen Gassen. Er ist Mitglied des konservativen Seeheimer Kreises und des agendapolitischen Netzwerks Berlin. Da wundert es, dass Gabriel nicht zusätzlich auch noch Mitglied der „Parlamentarischen Linken“ ist, dann würde er alle drei politischen Strömungen innerhalb der SPD in seiner Person vereinen. Das Hauptproblem des Opportunisten dürfte indes sein, dass kaum ein politisch interessierter Beobachter ihm seine verbale Auferstehungsrhetorik abnimmt.

Warum sollte ausgerechnet der Agenda-Architekt Gabriel nun für eine sozial gerechte Politik stehen? Warum sollte ein Politiker, der jahrelang das Mantra der freien Märkte nachgebetet hat, nun diese Märkte zum Wohle der Allgemeinheit regulieren wollen? Warum sollte ein bekennender Seeheimer und Netzwerker nun auf eine ernstzunehmende Alternative rot-rot-grün im Bund hinarbeiten? Nein, das ist nicht glaubhaft. Wenn sich der selbstaffirmative Weihrauch in den Köpfen der SPD-Delegierten verzogen hat, werden auch die Sozialdemokraten erkennen, dass sie nach dem Dresdner Parteitag noch keinen einzigen Schritt auf dem langen Marsch zur Neugestaltung der Partei vorangekommen sind.