Neue Enthüllungen aus der JVA Stammheim

Als Disziplinarmaßnahme nahm man Andreas Baader den Plattenspieler weg, ohne die darin befindliche Schusswaffe bemerkt haben zu wollen

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Noch immer dienen die Todesumstände der RAF-Gefangenen Baader, Ensslin und Raspe in der Nacht zum 18. Oktober 1977 heftigen Diskussionen und Legendenbildungen, halten zahlreiche Zeitgenossen daran fest, die Häftlinge hätten sich nicht selbst umgebracht, sondern seien ermordet worden. Jetzt enthüllt eine Akte im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, was in den Wochen vor der Todesnacht auf dem siebenten Stock der Haftanstalt Stammheim geschah. Auch Verena Becker spielte dabei eine Rolle.

FEA PA-63. Bild: Cselm

Der 5. August 1977 ist in die bislang gut gehütete Geschichte der JVA Stammheim eingegangen. An diesem Sommertag kam es laut der "Generalakten terroristische Gewalttäter" des Justizministeriums Baden-Württemberg zu einem folgenschweren Vorfall auf dem Zellenflur der RAF-Gefangenen. Demnach hatten die Gefangenen, unter denen sich zu diesem Zeitpunkt auch der 1980 tödlich verunglückte Wolfgang Beer befand, gerade "Umschluss" - eine Maßnahme, die es den Gefangenen erlaubte, sich frei auf dem Gefängnisflur zu bewegen und miteinander zu sprechen. Dabei mussten die Zellentüren offen bleiben.

Gegen 16 Uhr soll sich Andreas Baader (kleines Bild) nach Darstellung der Anstaltsleitung in der Zelle von Gudrun Ensslin befunden haben. Jan-Carl Raspe habe im Türrahmen gestanden. Als die Gefangenen wieder in ihre Zellen geschlossen wurden, sei Baader plötzlich unauffindbar gewesen. Minuten später, nach hektischer Suche, wurde der RAF-Chef schließlich unter einer Wolldecke in der Zelle Ensslins gefunden. Als die Beamten ihn in seine Zelle zurückbringen wollten, habe Raspe das verhindern wollen, was in eine heftige Schlägerei zwischen den RAFlern und ihren Bewachern mündete, die Schürfwunden, Verstauchungen und abgesplitterte Zähne zur Folge hatte, bevor jeder Gefangene wieder auf seinen Stammzellen saß. Soweit die offizielle Beschreibung der Gefängnisleitung.

Ganz anders stellten die Gefangenen das Geschehen in ihren Protokollen dar. Besonders Wolfgang Beer äußerte, dass Baader von den Justizbeamten in die Ensslin-Zelle gestoßen worden sei. Anschließend habe man die Tür zugeworfen, um so den Eindruck eines Ordnungsverstoßes Baaders zu erwecken und gegen die Gefangen mit Gewalt vorgehen zu können. Zudem hätte sich - nicht zum ersten Mal - ein Rollkommando aus Bediensteten gebildet. Übereinstimmend befürchteten die Gefangenen, dass es sich hier um Vorbereitungen zu ihrer Liquidierung handeln würde. Als Disziplinarstrafe wurden ihnen nach dem Vorfall laut einer Verfügung des Vorsitzendes Richters Prinzing am OLG Stuttgart sämtliche sogenannten "Einzelhör- und fernsehfunkgeräte" abgenommen. Darunter auch jener Plattenspieler Baaders, in dem er seine Pistole versteckt haben soll, die in der Todesnacht zum 18. Oktober 1977 zum Einsatz kam.

Völlig unberührt von der Schlägerei und deren Folgemaßnahmen blieb hingegen Verena Becker, die zum selben Zeitpunkt - was in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist - ebenfalls in Stuttgart-Stammhem einsaß, nachdem sie am 3. Mai 1977 in Singen am Bodensee festgenommen worden war. Während die übrigen RAF-Gefangenen als Gruppe auf dem siebenten Stock lagen, hielten die Behörden Becker auf Abstand und brachten sie in einer weit entfernten Zelle unter - aus welchen Gründen auch immer. Den Verdacht, dass Verena Becker von den übrigen RAF-Gefangenen misstrauisch beäugt wurde, legt die Formulierung im Protokoll eines der Häftlinge zum 5. August nahe. Dort wird Becker mit ihrem internen Spitznamen bezeichnet - "Ratte".