Israel: Die Abschreckungspolitik gegenüber Hisbollah greift nicht mehr

Erwartet wird ein neuer Krieg im Libanon, für den sich Hisbollah und Israel rüsten

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Mehr als 3000 für Hisbollah bestimmte Raketen sollen auf dem Schiff Francop gewesen sein, das die israelische Marine in der Nähe Zyperns kaperte. In Israel nannte man es ein „Kriegsverbrechen“, im Libanon eine „Erfindung“. Egal, wer nun Recht hat, in beiden Ländern ist man bereits für den nächsten Krieg gerüstet.

Vor kurzem berichtete der Stabschef der israelischen Armee (IDF), Gabi Ashkenazi, dem Komitee für Außenpolitik und Verteidigung über die aktuelle Situation an der Nordgrenze des Landes . Hisbollah würde derzeit über ein Raketenarsenal von 40.000 Stück verfügen. Darunter gäbe es auch Typen mit einer Reichweite von 300 bzw. 325 Kilometern, die Tel Aviv und Jerusalem, aber auch die geheime Atomanlage in Dimonia erreichen könnten.

„Die Grenzen im Süden und Norden sind momentan zwar ruhig“, sagte Ashkenazi, „aber das ist trügerisch“. Mit einem einzigen Zwischenfall könnte sich die Lage drastisch ändern. „Wenn Hisbollah den angekündigten Vergeltungsanschlag für den letztes Jahr in Damaskus getöteten Kommandeur Imad Mughniyeh durchführt und Israel zurückschlägt." Der Stabschef zeigte sich besorgt, da sich das „Gleichgewicht der Kräfte“ verändert habe. Sollte Israel, wie schon 2006, auch heute Beirut bombardieren, müsse mit Angriffen auf Tel Aviv gerechnet werden.

Eine Existenzbedrohung für Israel seien diese Langstreckenraketen jedoch nicht, meint Elias Hanna, ehemaliger General der IDF. „Das Hauptproblem sind die Mittel- und Kurzstreckenraketen, der psychologische Effekt, sie nicht stoppen zu können.“

Für Israel ist die libanesische Partei Gottes ein Sicherheitsproblem. Heute mehr noch mehr als vor Beginn des Kriegs 2006. Ein Affront für den hebräischen Staat, der gewohnt ist, seine Sicherheitsprobleme möglichst schnell und rigoros zu eliminieren. Eine Politik, unter der der Libanon besonders leiden musste, was die israelischen Invasionen von 1978 und 1982 deutlich zeigen.

Israel rüstet nach dem missglückten Angriff auf die Hisbollah im Jahr 2006 auf

Jedoch funktioniert die Politik der Abschreckung, was Hisbollah betrifft, spätestens seit 2000 nicht mehr. Damals hatte der organisierte Widerstand der Gruppe den Abzug der israelischen Truppen aus dem Südlibanon bewirkt, den sie 22 Jahre lang besetzt gehalten hatten. Mit dem Angriff von 2006 sollte ein entscheidendes Stück der Abschreckungspolitik zurück gewonnen werden. Israel legte die Infrastruktur des Nachbarlandes in Schutt und Asche, konnte aber nicht den gewünschten, verheerenden Schlag gegen die schiitische Miliz führen.

Die israelische Invasion im Südlibanon scheiterte und das bei unerwartet hohen Verlusten. „Wir trafen auf einen Feind“, berichtete ein hochrangiger israelischer Offizier, „der sich seit langer Zeit auf den Kampf vorbereitet hatte. Sehr entschieden, gut ausgerüstet, ausgebildet und koordiniert, ganz anders als in Gaza und in der Westbank."

Erfolgsgeheimnis der schiitischen Miliz war eine neue Kombination von Guerilla-Taktik mit Strategien einer konventionellen Armee. „Von der Widerstandsgruppe zur Widerstandsarmee“, wie es Amal Saad-Ghorayeb, Professorin für Politikwissenschaft und Hisbollah-Spezialistin in Beirut, nennt. Eine gelungene Mischung aus neuster Militär- und Kommunikationstechnik, mit Guerilla-Überraschungseffekten und althergebrachter militärischer Disziplin. Mit eigentlich antiquierten Katjuscha-Raketen provozierte man einen Ausnahmezustand im Norden Israels. Die als unverwundbar geltenden israelischen Mekava IV-Panzer wurden in Hinterhalte gelockt und mit modernen russischen Panzerwaffen zerstört. Abhörspezialisten entschlüsselten Codes und lauschten dem Funkverkehr des israelischen Militärs sowie den Telefongesprächen von Reservisten mit ihren Familien.

Die Wiederholung eines derartigen Desasters soll natürlich verhindert werden. Merkava-Panzer sind nun mit dem Trophy System ausgestattet, das ankommende Raketen erkennt und zerstört. Ein Abwehrsystem, das die Katjuscharaketen abfängt, ist in Entwicklung. Im größten Manöver der 61- jährigen Geschichte Israels wurde das „worst case scenario“ geprobt: Raketenangriffe aus dem Iran, Syrien, Gaza und dem Libanon.

In Zukunft will man eine perfekte Kooperation zwischen Luftwaffe und Bodentruppen erreichen, um das zu garantieren, was der IDF 2006 bei der gescheiterten Invasion in den Libanon fehlte: Die Dominanz am Boden. Denn die wird nötig sein, will man die Hisbollah tatsächlich entscheidend schwächen. Ihr ein für alle Mal ein Ende bereiten, mag für Israelis gut klingen, ist aber utopisch. „Das ist eine Volksbewegung“, meinte Amal Saad-Ghorayeb, die Politikwissenschaftlerin aus Beirut. „So etwas kann man nicht einfach mit militärischen Mitteln beseitigen."

Hisbollah bereitet sich auf einen erneuten Angriff vor

Für Hisbollah soll der nächste Krieg nicht nur eine von weiteren Auseinandersetzungen mit dem „zionistischen Feind“ sein. Hassan Nasrallah, der Hisbollah-Generalsekretär, versprach 2007 einen „historischen und entscheidenden Sieg“. Er habe eine Überraschung parat, die das Potential hat, den Gang des Kriegs und das Schicksal der Region zu bestimmen. Ein Jahr später wiederholte Nasrallah sein Versprechen: „Unser nächster Sieg wird definitiv, eindeutig entscheidend und glasklar sein." Bekanntlich ist der Generalsekretär kein Sprücheklopfer und Überraschungen sowie eingehaltene Versprechen sind seine Spezialität. Das wissen auch die Israelis.

Von welchen Überraschungen Nasrallah spricht, darüber kann nur spekuliert werden. Es könnten moderne Luftabwehrakten sein, von denen bereits mehrfach behauptet wurde, sie seien Bestandteil des Hisbollah-Arsenals. Dazu gehören SA-18 Raketen, die man von der Schulter aus abschießt, aber auch radargesteuerte SA-8 mit einer Reichweite bis in eine Höhe von 11.000 Metern. Damit wäre die bisher uneingeschränkte Lufthoheit von Hubschraubern und Kampfflugzeugen der israelischen Luftwaffe zu Ende.

Oder ist eine neue Kriegstaktik, die statt Verteidigung auf Angriff setzt, der neu angekündigte Überraschungseffekt? Hisbollah soll über rund 1000 professionelle Soldaten verfügen und eine unbekannte Anzahl von Reservisten. Nasrallah drohte bereits damit, eine Truppe „von Zehntausenden von trainierten und ausgebildeten Kämpfern“ einer möglichen Bodenoffensive der Israelis entgegenzustellen. Tatsächlich gab es Berichte, nach denen Hisbollah-Rekruten in den Iran zur Militärausbildung geschickt wurden. Keineswegs nur konfessionsgebunden für Schiiten, sondern auch offen für Sunniten, Drusen und Christen, die mit dem Kampf von Hisbollah sympathisieren. Sie kommen alle zusammen in die Reservisteneinheit „Saraya“.

„Bis zu 300 Mann sind jeden Monat von Beirut aus nach Teheran geschickt worden. Eine Operation, die seit November 2006 läuft“, schrieb im April 2008 Robert Fisk, langjähriger Korrespondent des britischen Independent im Libanon. „Alles in allem sind das nicht weniger als 4500 Hisbollah-Mitglieder, die eine dreimonatige Ausbildung mit Live-Munition und Raketen erhielten, um einen Nukleus von Iran trainierten Guerillas im nächsten Israel-Hisbollah-Krieg zu bilden."

Hisbollah-Kämpfer sprachen bereits von einem Krieg, der „mehr offensiv“ und „mehr in Israel, denn im Libanon geführt wird“.

Angeblich wird ein israelischer Angriff "sehr bald erwartet". „Wenn sie nicht in diesem Winter kommen, dann im Frühjahr“, meint ein lokaler Hisbollah-Kommandeur. „Wenn der Boden nicht mehr so weich ist für ihre Panzer."

Im Grenzgebiet im Süden, das offiziell von den Friedentruppen der UN (UNIFIL) kontrolliert wird, ist Hisbollah kaum mehr zu sehen. „Wir mussten einige unserer Bunker in die Luft sprengen oder einfach verlassen, aber wir haben im Süden noch reichliche Ressourcen“, so der Hisbollah-Kommandeur weiter. Man vermutet, einige Dörfer wurden zu festen Verteidigungspositionen ausgebaut. Gleichzeitig gab es seit 2006 große Bautätigkeiten nördlich des Litani-Flusses, also außerhalb des UNIFIL-Gebiets. Dort soll es neue Bunkersysteme und Raketenabschussrampen geben.

Mitte November veröffentlichte die israelische Tageszeitung Yediot Ahronoth Geheimdokumente über Hisbollah-Spione, die die israelische Armee, aber auch zivile Bereiche erfolgreich unterwandert hätten. Letztendlich wirklich keine neue Nachricht. Im Sommerkrieg 2006 fanden israelische Soldaten in Hisbollah-Bunkern Aufklärungsfotos ihrer eigenen Luftwaffe mit hebräischen Markierungen.

Hisbollah betreibt sicherlich keinen geringeren Aufwand als Israel in Sachen Feind-Spionage. Bei der Informationsbeschaffung bedienen sich beide Parteien notgedrungen der gleichen unlauteren Mitteln, zu denen Bestechung und Erpressung gehören. Anders ist es nicht möglich, Menschen dazu zu bringen, diesen gefährlichen Job zu machen und dabei auch noch ihr Land zu verraten. Im Libanon wurden erst am 11. November ein Offizier der internen Sicherheitskräfte, seine Frau, seine Schwester und der Schwager wegen Spionage für Israel zum Tode verurteilt. Schwester und Schwager allerdings in Absenz. Beide konnten sich über die ansonsten hermetisch abgeriegelte Grenze nach Israel absetzen.

Libanon von israelischen Spionen unterwandert

In der Regel wird von offizieller Seite möglichst wenig über Spionagetätigkeiten gesprochen. Anfang November lieferten sich jedoch israelische und libanesische Regierungsvertreter ein Rededuell via Medien. Der stellvertretende israelische Premierminister, Moschee Yaalon, hatte öffentlich zugegeben, dass sein Land Spionagenetzwerke im Libanon unterhalte. Bei einem Besuch an der Nordgrenze zum Libanon sagte er, Israel würde solange seine Spionageaktivitäten fortsetzen, bis Hisbollah keine Bedrohung mehr darstelle.

Der libanesische Innenminister nannte die israelische Spionage „einen Verstoß gegen internationale Resolutionen“, sie richte sich „gegen alle Libanesen, nicht nur gegen Hisbollah“. Er versprach seinem Kollegen, alle noch aktiven Netwerke aufzudecken. Am 18. Oktober waren im Südlibanon zwei israelische Spionagevorrichtungen explodiert und hatten das Thema Geheimdiensttätigkeit erneut in die Öffentlichkeit gebracht. In diesem Jahr wurden im Libanon bereits 70 Menschen verhaftet, die im Verdacht stehen, für Israels Mossad oder den Militärischen Geheimdienst gearbeitet zu haben.

Darunter auch lang gediente Offiziere, die beschuldigt werden, Informationen über Sicherheits- und Militäreinrichtungen an die Israelis weitergegeben zu haben. Außerdem sollen sie dabei behilflich gewesen sein, im Krieg 2006 Ziele für die israelischen Kampfflugzeuge zu finden. „Das sagt einem doch viel darüber, wie sehr die Israelis dieses Land unterwandert haben“, erklärte der Hisbollah-Pressesprecher Ibrahim Moussawi.

Aber die israelische Geheimdienstarbeit basiert nicht nur auf neuen Strukturen. Israel kann auf alte Beziehungen aus der Zeit der Invasion von 1982 und der Besetzung zurückgreifen. Damals waren libanesische christliche Milizen, insbesondere die South Lebanese Army (SLA), Verbündete, die man gegen konkurrierende Milizen bewaffnete und für sich arbeiten ließ. Sie waren auch behilflich, passende Spione zu finden. Leute wurden bezahlt oder einfach dazu gezwungen. „Die Israelis sind darin sehr erfahren“, meint Timur Goksel, der damals Berater der UN-Friedenstruppen war. „Sie wissen, dass im Libanon Geheimdienstarbeit allein über Technik kaum funktioniert. Man braucht dazu menschliche Ressourcen."

Ein Spion aus diesen alten Zeiten ist Ali Jarrah aus dem Bekaa Tal, der mit seinem Bruder Youssef zusammenarbeitete. Ali war 1983 von den Israelis verhaftet worden. Damals bot man ihm eine regelmäßige Bezahlung im Austausch von Informationen über militante Palästinenser und syrische Truppenbewegungen an. Nach Ende des libanesischen Bürgerkriegs (1975-2000) wollte Jarrah angeblich nicht mehr Spion sein, nur die Israelis hätten ihn nicht gehen lassen. Der heute 51-Jährige reiste oft nach Syrien und in den Südlibanon, machte Fotos von Straßen, die als Transportwege für Hisbollah-Waffen infrage kommen könnten. Sein Mitsubishi-Geländewagen war mit einer Kamera und GPS ausgestattet. Laut Angaben der libanesischen Behörden „sammelten die beiden Brüder Informationen über Parteifunktionäre und beobachteten ihre Bewegungen“. Darunter soll auch Imad Mughniyeh gewesen sein, der im Februar 2008 in Damaskus durch eine Bombe in seinem Auto getötet worden war. Ali Jarrah, der eine zweite geheime Frau hatte, soll für seine Spionagetätigkeit mehr als 300.000 Dollar kassiert haben. Nun sitzt er in einer Gefängniszelle und wartet auf seinen Prozess wegen Landesverrats.

„Die Sicherheitsvorkehrungen wurden verschärft“, sagt Timur Goksel, der ehemalige UN-Berater, der heute an einer Beiruter Universität lehrt. „Deshalb sieht man auch Hassan Nasrallah nie, weil sie (Hisbollah) realisieren, dass die Unterwanderung weit über die eigentlichen Fähigkeiten des Mossad hinausgeht.“ Mit Ausländern käme man nicht weit, aber mit Einheimischen, die sich überall frei bewegen können, sei das eine „ganz andere Geschichte, sehr beängstigend“.

Unter den in diesem Jahr verhafteten Spionen sind auch Personen, die der Hisbollah nahe stehen. Ein Mann aus der im Süden gelegenen Stadt Nabatieh, der für den Ankauf und die Wartung von Fahrzeugen von Führungsfiguren der Partei Gottes verantwortlich war. Man habe ihn dabei erwischt, wie er GPS-Tracking-Geräte an Fahrzeugen befestigte. Auch der Bürgermeister einer Kleinstadt im Bekaa-Tal, ein Parteigänger von Premierminister Saad Hariris Zukunfts Bewegung, wurde als mutmaßlicher Spion verhaftet. Er soll seinen Kontaktmann in Thailand getroffen haben.

Ein "guter Fang", so Ashraf Rifi, der Chef der libanesischen internen Sicherheitskräfte, sei auch Nasser Nadar, der seit 2002 für den Mossad spioniert habe und an der Ermordung eines Hisbollah-Kommandanten beteiligt gewesen sein soll.

Für den Pressesprecher der Partei Gottes, Ibrahim Mousawi, ist die Verhaftungswelle von Spionen eine logische Konsequenz. Nach der Enttarnung der ersten Zelle fallen die anderen wie Dominosteine. Außerdem würden Hisbollah und die libanesischen Sicherheitskräfte enger zusammenarbeiten.

Timur Goksel glaubt dagegen, man habe die Spione aus Israel angewiesen, Ziele für den Fall eines neuen Kriegs zu finden und deshalb seien sie exponierter als die Jahre zuvor. Zudem wurden die internen Sicherheitskräfte in den letzten drei Jahren neu ausgebildet, dank eines 400 Millionen Dollar schweren Sicherheitshilfsprogramms der USA.