Auf die Einräder Ihr Medienphilosophen!

Der orginale Toy-Room Claude Shannons in seinem “Entropy-House” in Winchester, Massachusetts, USA. Bild: Axel Roch/Deborah Douglas, MIT

Florian Rötzer im Gespräch mit Axel Roch über sein Buch zu Claude Shannon

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Axel, Du hast gerade ein Buch über Claude Shannon, den Begründer der Informationstheorie, geschrieben. Wieso?

Axel Roch: Ganz einfach. Es gab bislang noch kein Buch als solches über Claude Shannon. Es war dringend nötig und längst überfällig ein solches vorzulegen und sich mit Claude Shannon als Person und auch mit der Geschichte seiner Informationstheorie zu beschäftigen. Wir wissen eigentlich alles über Norbert Wiener, sehr viel über John von Neumann und fast alles über Alan Turing. Bei Claude Shannon war das bislang leider anders, obwohl er einer der wichtigsten Grundlagentheoretiker ist, gerade für Medien. Prof. Hagenauer von der TU München hat uns neulich vorgerechnet, dass Shannon im Alltag viel wichtiger ist als etwa Albert Einstein.

Jeder von uns hat eine Vielzahl von Medien um sich herum, kaum aber einer von uns hat einen Kernreaktor im Keller. Sämtliche Kodierungsverfahren (MP3, MPG, JPG etc.) gehen ja theoretisch auf Shannon zurück. Insofern ist es doch wichtig, sich auch mal konzentriert und nur mit Claude Shannon auseinanderzusetzen...

Zur Zeit gibt es auch ein verstärktes, historisches und öffentliches Interesse an Claude Shannon. Eines der größten Computermuseen hierzulande widmet gerade auf 500qm und mit etwa 50 Exponaten Claude Shannon eine Sonderausstellung. Mein Buch führt in die Person Claude Shannon ein, in sein Leben, in seine phantastischen und humorvollen Spielzeuge und auch in die geheime Geschichte seiner Informationstheorie.

Warum geheim? Was ist denn bislang noch nicht bekannt?

Axel Roch: Ich habe zum ersten Mal historisch und archäologisch gezeigt, in welchem Kontext Claude Shannon seine Hauptschriften zwischen 1945 und 1949 entwickelt hat. Wer waren die Auftraggeber und wozu ist Informationstheorie seit dem Kalten Krieg wirklich brauchbar? Wenn Alan Turing ein Held des Zweiten Weltkrieges war, dann war Shannon ein Held des Kalten Krieges. Er hat die elektronische Verteidungslinie des amerikanischen Staates berechenbar gemacht. Sowohl seine kryptotheoretischen als auch seine nacrichtentechnischen Schriften sind elektronische Kriegführung avant la lettre. Shannon nannte mangels neuer Definitionen seine Hauptschriften noch Kryptografie oder Kommunikation, eigentlich ging es aber - ähnlich wie in der Kybernetik Norbert Wieners - um sichere Steuerung, also um “Electronic Warfare” und “Control”.

Moment mal. Das berühmte Kommunikationsdiagramm Shannons, allgemein als Shannon/Weaver-Modell bekannt, das in Soziologie, Medientheorie, Kulturphilosophie, Nachrichtentechnik etc. Verwendung findet und oft als Grundlage in verschiedenen Wissenschaftsbereichen gilt, hat nichts mit Kommunikation zu tun?

Axel Roch: Leider nicht wirklich. Die amerikanische Antwort auf die V-1 Flugbomben und die V-2 Raketen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg war das elektronische System Nike, also mit Radar nachsteuerbare Abwehrraketen, die einen Bomber - später mit Atombomben bestückt - abschiessen sollten. Die Informationstheorie ist historisch, dass habe ich ausführlich gezeigt, die amerikanische Antwort auf die V-Waffen der Deutschen. Claude Shannon hat nur seinen Job gemacht. Er war direkt und von Anfang an – also seit 1945 - im Think-Tank des Nike-Flugabwehrsystems für den "Communication Link" zuständig. Nike definierte über 30 Jahre lang die elektronische und nukleare Verteidigungsstruktur der Amerikaner und der NATO.

Das war “Kommunikationtheorie” oder “Theorie” nur insofern, als keine einzige Nike-Abwehrrakete jemals einen Bomber im Ernstfall abgeschiessen musste. Es geht ja bekanntlich bei Shannon nicht etwa um einen technischen Dialog, sondern um lineare Übertragung, genauer: um eine sichere oder störfeste Übermittlung von Steuersignalen in elektronischen Flugabwehrsystemen. Der Trick der Amerikaner war lediglich, dass sie wissenschaftlich und theoretisch publizierten, gleichzeitig aber die epistemologischen oder medialen Grundlagen und die Anwendungen der neuen Theorien in der Regel nicht diskutierten. Sehr erstaunlich und eigentlich auch sehr clever.

Die Geschichte, die ich geschrieben habe, geht auf. Shannon führt erst Ende der 50er Jahre "Two-Way Communication Channels" ein. Zum ersten Mal gab es in der Informationstheorie damit ein System, dass linear in zwei Richtungen kommuniziert. Das ist dann schon die Theorie für die neueren Generationen und die bis heute im Gebrauch befindlichen Flugabwehrsysteme - also beispielsweise Patriot. Bis heute glauben fast alle, dass diese Kommunikationsmodelle Shannons auf Telefonie oder Telegrafie zurückgehen. Leider alles historisc und technisch falsch.

Peggy Shannon mit dem neuen Buch über ihren Vater Claude Shannon – rechts im Bild das orginale Einrad Claude Shannons. Bild: Axel Roch

Wissenschaftler, die seit 50 Jahren ernsthaft mit dem Begriff Information arbeiten, sollen Shannon nicht richtig verstanden haben?

Axel Roch: Teilweise schon. Informationstheorie kippte nach 1948 schon in Wissenschaftsideologie um. Ehrlich gesagt: Sogar die zweite und dritte Generation Informationstheoretiker konnte selber über diese historische Sachlage auch nur Vermutungen anstellen. In der Öffentlichkeit oder auch innerhalb der Familie Shannons wurde sowas nie diskutiert. Betty, die Frau Claude Shannons, wusste zwar grob, wozu Informationstheorie im Kalten Krieg wirklich brauchbar war, hat darüber aber genauso wie Claude nie gesprochen.

Als ich die Gelegenheit hatte Betty darauf anzusprechen - übrigens eine wundervolle Frau - hat sie erst nach einer sehr sehr langen Pause und dann doch auch mit etwas Erleichtung gesagt: "Oh, Axel - that was a long time ago." Betty und Claude haben mit ihren Kinder oder in der Öffentlichkeit natürlich die geheime Geschichte der Informationstheorie nicht ausgeplaudert. Wieso auch? Wenn ein Mathematiker für den MI5 oder den BND arbeiten muß, will oder wenn das - so wie in den 40er und 50er Jahren - einfach üblich war, so läßt man doch wenigstens seine Familie dabei raus.

Claude Shannon - wohlgemerkt und unumstritten einer der wichtigsten Grundlagenwissenschaftler des letzten Jahrhunderts - hat alle wichtigen militärischen Institutionen und Nachrichtendienste der Amerikaner bedient. 1943 die Signal Security Agency, ab 1945 das Pentagon direkt, 1951 die CIA, 1957 die NSA etc. Diejenigen, die Informationstheorie wirklich konkret anwenden, wissen, dass das Medium Shannons oder der Informationstheorien nicht Telegrafie oder Telefonie war oder ist, sondern einfach Radar. Shannons “diskretes Medium” ist historisch einfach ein impulskodiertes Radarsystem, genauer das SCR-584. Das hat Shannon mathematisch-epistemologisch durchgerechnet.

Die Grundlagen der Informationstheorie sind in Amerika, Israel oder Russland deswegen so gut oder grundlegend erforscht, weil diese Staaten sich elektronisch gegen angreifende Flugzeuge, bewegliche Bomber, mobile Jäger, später schnelle Raketen, verteidigen mussten. Was andere Wissenschaftsbereiche mit dem Paradigma “Information” oder “Kommunikation” anfangen, war nicht das Problem Shannons. Er hat sich ja bekanntlich darüber gewundert, über Informationsästhetik, Infosoziologie, Medientheorie etc. Wenn ich das mal so sagen darf: Shannon hätte Medientheorie albern gefunden. Ist ja klar, McLuhan fuhr ja sozusagen theoretisch noch Fahrrad, Shannon war dagegen schon auf dem Einrad unterwegs... McLuhan denkt einfach noch Hartley, noch nicht Shannon.

Für Shannon als Mathematiker war zudem völlig selbstverständlich, dass andere Wissenschaftsbereiche, etwa die des Lebens, der Kultur oder der Gesellschaft einfach eine andere Mathematik benötigen würden. Nur ein Beispiel: Der sogenannte “Beobachter” wird oder wurde sehr lange und sehr prominent in Systemtheorie, Soziologie oder Medienwissenschaften verwendet. Dass Shannon damit lediglich ein Verfolgungsradar darstellte - technisch also “Tracking” - wird halt oft oder gerne vergessen.

Übrigens: Shannon hat 1972 vom israelischen Präsidenten Zalman Shazar direkt den Harvey Prize überreicht bekommen. So eine Medaille bekommt ein Mathematiker nach 1945 nicht an die Brust gesteckt, weil er eine tolle oder wissenschaftliche Idee hatte. Eine Idee musste dazu schon politisch und technisch einsetzbar sein, also konkret etwa einen Staat schützen oder diesen eben sicher oder sicherer machen. Heute ist das Thema Kodierung und Radar als Dispositif der Steuerung in oder durch Medien ja kein Geheimnis mehr. Dass aber Shannon direkt und schon so früh, also seit 1945 dabei war, dass war bislang so eigentlich nicht bekannt.

Derjenige, der die Begriffe Information, Redundanz, Entropie etc. eingeführt und so einen enormen Einfluss auf die Grundlagen der Wissenschaften des letzten Jahrhunderts hatte, arbeitete an den Bell Labs einfach direkt für das Pentagon. Wir sollten uns daher in der Tat, wenn wir solche oder ähnliche informationstheoretischen Methoden verwenden, uns wenigstens der politischen und technischen Geschichte vergewissern, manchmal wenigstens. Im Fall der Informationstheorie Shannons können wir dies nun endlich. Es hat erstaunliche 60 Jahre gedauert bis wir historisch-kritisch in Erfahrung gebracht haben, warum Shannon seine Informationstheorie so geschrieben hatte. Unglaublich!

Müssten denn jetzt alle Dein im Wesentlichen nur historisches Buch lesen, um Informationswissenschaften zu betreiben?

Axel Roch: Nein, natürlich nicht. Aber man braucht sich ja auch nicht zu wundern, wenn bestimmte informationstheoretische Methoden in anderen Bereichen oder Problemsituationen so nicht funktionieren. In Kultur- und Medienwissenschaften zum Beispiel. Ich persönlich war wirklich geschockt, als ich in den Archiven nachlesen musste: Das berühmte Fundamentaltheorem, so wie wir das seit 1948 kennen, das Shannon-Limit, ist nicht nur eine mathematische Idee, sondern eine direkte Auftragsarbeit aus dem Pentagon. Eigentlich war das sogar ein Forschungsbefehl. Es war eigentlich klar, dass wenn man wie Shannon vier Jahre in der hektischen Kriegsforschung tätig ist, dass dann nach 1945 nicht einfach auf zivil umgestellt wird.

Die neuen Medien hießen damals einfach Röhren und Radar. Daher auch die Shannon-Entropie. Entropie und Information wird nun wirklich oft in Kunst und Kultur diskutiert. Vilém Flusser oder Michel Serres beispielsweise. Inwieweit wir in der heutigen medialen und technologischen Landschaft solche Begriffe wiederverwenden können, ist eigentlich in jeder Hinsicht kritisch zu prüfen. Ich brauch Dir doch nicht zu erzählen, wie oft und wie viele Theoretiker einfach nur neue und modische Begriffe übernehmen, ohne deren Grundlagen mitzubedenken. Jacques Derrida wusste teilweise wenigstens noch Bescheid: “Die Informationstheorie sichert die Sicherheit der Berechnung und die Berechnung der Sicherheit.” Aber die Diskussionen der Philosophen über die Grundlagenbegriffe Information, Gestell etc. sind im Lichte der neueren historischen Erkenntnisse dann vielleicht doch gefährlich nahe an einem theoretischen Überbau. Die Ansätze beispielsweise von Edward Fredkin am MIT mit seiner “Digitalen Physik” finde ich regelrecht fanatisch.

Ich denke ich kann dafür bürgen, dass Shannon Physik oder Welt nicht nur mit Methoden der Informationsmedien, also Turing-Maschinen, Church/Turing-Hypothesis, Information und Entropie etc. und in den uns bekannten Formen so diskutiert hätte. Im Gegenteil: Shannon problematisierte Physik lediglich mit Medientechnik und führte eigentlich sogar umgekehrt Physik ins reine und mathematische Denken ein. Auch die berühmte und ehrwürdige Oxford Universität ist nicht immun gegen digitalen Informationsfanatismus. Die Forschungsgruppe der “Philosophie der Information” kennt sicher nicht die Einräder Shannons, geschweige denn deren historische Bedeutung als Metapher für Steuerung...

Natürlich hat Shannon einen Link zwischen Thermodynamik und Elektronik hergestellt, also zwischen Energie und Information. Es ging ihm aber eigentlich und konkret um den Fluß von Elektronen in Vakuumröhren. Röhren und Radar waren die Medien Shannons seit 1945, seine epistemologische Frage und seine physikalische Situation. Aus Informationstheorie ohne Radar aber eine Kulturphilosophie zu machen, das kann ja nicht so ohne weiteres funktionieren... Die CIA denkt ja schließlich schon seit den 80er Jahren nicht mehr nur in Bits. Die haben auch schon andere Einheiten für Information oder Strukturen, beispielsweise das Guat. Die kryptotheoretischen Hauptschriften Shannons sind nicht Kryptoanalyse, wie wir es etwa von Alan Turing kennen.

Die "Communication Theory of Secrecy Systems" von 1949 soll keine Kryptologie sein?

Axel Roch: Langsam. Natürlich geht es um Kryptologie, aber nicht um Kryptoanalyse natürlicher Sprachen, sondern um Kryptografie technischer Medien. Es ging Shannon nicht um Wörter, also um das Deutsche, das Japanische oder das Russische, sondern um die Sicherheit elektronischer Signale. Shannon hat 1945 einfach einen Auftrag bekommen: Hier bitte, wir haben ein neues Medium, das heißt Radar, wir sicher können wir hier eigentlich mit den bekannten kryptologischen Verfahren funken, wie könnten die kryptografischen Grundlagen diesbezüglich aussehen? Das war damals Grundlagenforschung.

Im Ergebnis, so hat Shannon das ja dann auch durchgerechnet, müssen wir bei taktischen Radarsignalen nicht nur sicher verschlüsseln, sondern auch noch komprimieren, damit das Funksignal nicht nur sicher ist, sondern auch noch weniger störbar oder eben störfest. Das war der Job Shannons. Er hat seine Theorie der Kryptologie - ich meine die von 1945/1949 - nicht im Kontext der Enigma, der Geheimschreiber oder nachfolgender Kryptosysteme entwickelt, nicht wie Turing, sondern im Kontext von Radarsystemen. Turing dekodierte verschlüsselte Sprache, Shannon kodierte elektronische Steuersignale, Trajektorien.

Wie gesagt: Es ging damals um neue Methoden elektronischer Kriegführung, also eben um taktische Systeme, nicht um strategische Kryptologie oder gar Kommunikation. Wir haben auch deswegen so viele intelligente Kompressionsverfahren heute oder zumindest die mathematischen Grundlagen dafür, weil seit 1945 nicht mehr nur Text sicher verschlüsselt wird, sondern Signale auch unauffällig versteckt werden sollen.

Shannnons No-Drop-Juggling Diorama - im Hintergrund W. C. Fields. Bild: Axel Roch

Was gefällt Dir denn an Claude Shannon als Person?

Axel Roch: Dass er seine Quellen des Denkens mitteilt und zugleich versteckt. Shannon war ein Mathematiker und Ingenieur mit Imagination. Der fand Sherlock Holmes genauso wichtig wie George Boole. Elektrotechniker und sehr erfahrene Ingenieure, so bin ich mehrfach überzeugt worden, staunen bis heute über die Eleganz der Schaltungen seiner Gadgets und Spielapparaturen, die er in den 50er Jahren bastelte. Shannon war ein echtes Genie. Mathematiker lehren an den Universitäten immer noch seine Schriften im Orginal, auch aufgrund des klaren und einfachen Ausdrucks.

Außerdem finde ich, dass es bei Shannon immer noch etwas zu entdecken gibt, natürlich auch immer weniger, aber immer noch genug! Jacob Ziv beispielsweise, einer der Miterfinder des LZW-Kompressionverfahrens - wir kennen alle den nach ihm benannten LZW-Algorithmus (Lempel-Ziv-Welch) von den TIF-Dateien - hat in nicht-publizierten Vorlesungen Shannons seinen Ansatz für neue Kodierverfahren gefunden. Da lagen im Büro einfach Manuskripte rum, die Ziv las und mit Erlaubnis der Sekretärin Shannons exzerpierte bzw. kopierte, die dann seinem wissenschaftlichen Denken einen entscheidenden Impuls gegeben haben. Das muss man sich mal vorstellen: Aufgrund der Nachlässigkeit eines Genies wie Shannon schlugen andere Wissenschaftler geistiges Kapital und bringen es in Folge sogar bis zum Präsidenten der israelischen Version des MITs, das Technion in Haifa.

Erster portabler Spielcomputer: Die Mind-Reading-Machine von 1953 (Das Interface hat Shannon einem menschlichem Gesicht nachempfunden). Bild: HNF/Jan Braun

Allerdings war Shannon doch als Wissenschaftler seit den 60er-Jahren nicht mehr aktiv.

Axel Roch: Stimmt. Dennoch hatte Shannon in den 50er Jahren und auch noch spielerisch in den 80er Jahren viel mehr produziert und nachgedacht als publiziert. Man kann sich darüber streiten, was wichtig ist und was nicht, aber beeindruckend ist das immer wieder.

Und: Shannon wird immer wieder unterschätzt. Seine Ironie, sein tiefer Humor, eigentlich fast alles. Shannon hat sehr sehr wenig in seinen Schriften über die Inspirationsquellen seines Denkens gesagt, war aber sehr weit gebildet oder eben wirklich interdisziplinär. In den 40er Jahren hat er nebenher Psychologie und Physiologie studiert. Zum Thema Kodierung und Kompression zitierte Shannon einen römischen Dichter: "I labour to be brief; I become obscure." Ich arbeite, um mich kurz zu fassen - also ich kodiere - , ich werde dunkel - also ich komprimiere Daten zu Rauschen. Heute folgt jeder Kompressionsalgorithmus, so immerhin Shannon, diesem Ausspruch des Horaz.

Während und bevor Shannon seine Theorie der Kryptografie formulierte, las er beispielsweise intensiv James Joyce. So wie Joyce in Finnegans Wake von 1939 natürliche Sprachen mischt und semantisch kodiert oder korrumpiert, so ähnlich geht Shannon syntaktisch bzw. formal mit technischen Sprachen bzw. Signalen um. Was Joyce in der Literatur leistete, hat Shannon für Mathematik, Technik und Medien geleistet. Das ist aus meiner Sicht keine übertriebene oder um Sensation bemühte Parallelisierung. Insofern ist Shannon als Person äußerst spannend.

Wenn wir politisch in unserer Bildungskultur oder -gesellschaft wüssten, wie wir solche Shannons, also Mathematiker mit Imagination, finden und fördern könnten, wären wir vielleicht besser in der Lage, die neuen Probleme, die auf uns zukommen, anders oder grundsätzlicher zu verstehen oder zu beschreiben. Wir brauchen mehr Shannons pro Studienjahr!

Die erste Computerspielkonsole 1953: Der 3-Relay-Kit. Bild: Bell Labs, ATT-Archive

Findest Du denn die Spielzeuge von Shannon auch kulturell oder philosophisch wichtig? Die Familie von Shannon sagt doch immer: alles nur Spaß, Spielereien, Gadgets etc...

Axel Roch: Ja, leider. Shannons Humor und Witz wird allgemein unterschätzt. Für Shannon waren seine Gadgets technischer, materieller und physikalischer Denksport. Klar finde ich die Spielzeuge wichtig, sonst hätte ich ja nicht zwei Kapitel darüber geschrieben. Shannon hat in den 50er Jahren die ersten portablen Computerspiele gebastelt. Er hat auch, das war bislang in der Mediengeschichte noch gar nicht bekannt, 1953 die erste Computerspielkonsole gebaut: den 3-Relay-Kit. Der hat in theoretischen Vorträgen einfach immer wieder Pausen gemacht und dann konkrete Gadgets bzw. Spielzeuge vorgeführt, die Mind-Reading Machine (eine Gedankenlesende Maschine), ein Hex-Player (bekannt als 7x8-Hoax), ein Tic-Tac-Toe-Spiel und Nimwit beispielsweise. Der 7x8-Hoax ist eine Maschine, die so tut, als ob sie logisch-algorithmische Entscheidungen trifft, aber eigentlich nur analoge Potentialgefälle misst. Shannon hat es also geschafft, Mathematiker mit Medien auszutricksen.

Auch die Informationstheorie und noch mehr die spätere algorithmische Informationstheorie von Gregory Chaitin behandeln Mathematik ja durchaus sehr physikalisch. Shannon selber hatte ein großes Schwarz-Weiß-Poster von David Hilbert in seinem Zimmer in Winchester hängen. Er hat Hilbert - diesem reinen Denker wohlgemerkt - eine Sprechblase ins Gesicht gekritzelt, die nichts sagt, außer einen Buchstaben: P, probably probability. Das war eine brilliante Geste. Denn Shannon hat eigentlich und epistemologisch Physik ins reine und mathematische Denken zurückgeholt.

In den 80er Jahren interessierte sich Shannon daher auch verstärkt für physikalische Kunstfertigkeiten, besonders für Zirkuskünste. Bei Shannon gibt es so etwas wie einen physikalischen Turing-Test: Ein ultimativer Clown-Roboter, der auf einem Einrad fahren und gleichzeitig dabei mehrere Bälle jonglieren soll. Heute können Roboter schon Einradfahren und auch mal ein paar Bälle blind jonglieren. Ob Computer oder Medien aber jemals erfolgreich und mit Applaus in einem Zirkuszelt auftreten und dabei mit einer Aufführung glänzen können, ist doch zu bezweifeln. Man bräuchte ganze Generationen und Hundertschaften von Technikern und auch gute Materialwissenschaften, um Robotern Einradfahren und gleichzeitig das Jonglieren beibringen zu können. Und dann kommen immer wieder Konzeptkünstler oder Amateurartisten, die solchen Robotern einfach bunte oder spezielle Bälle wild zuwerfen.

Es war Shannon klar, dass Computer und Medien sich äußerst schwer tun, Bälle in realen Umgebungen zu fangen. Shannon hatte sehr viel Spaß mit diesen physikalischen Aspekten der Medien. Er baute 1982 den ersten Jonglierroboter der Weltgeschichte überhaupt, benannt nach W. C. Fields, einem amerikanischen Komiker.

Der erste Jonglierroboter der Weltgeschichte, Shannons W. C. Fields von 1982. Bild: MIT Museum

Dein Buch ist zur Ausstellung “Codes und Clowns” erschienen. Wie findest Du denn die Ausstellung im HNF in Paderborn?

Axel Roch: Die Ausstellung ist super. Zum ersten Mal - eine Weltpremiere - ist das echte Einrad Shannons zu sehen. Das ist etwa so, als ob man in einer Physikausstellung den Apfel Newtons zeigen würde. Den gibt es ja aber bekanntlich nur als Bild und Metapher. Das Einrad Shannons dagegen existiert konkret. Ich möchte dem HNF hier ein dickes Lob aussprechen: Zum ersten Mal sind die Spielzeuge Shannons in Europa in diesen Details zu sehen. Das wirklich enorme Fingerspitzengefühl von Norbert Ryska und Dr. Jochen Viehoff hat es ermöglicht, Shannons Einrad zum ersten Mal öffentlich zu zeigen. Eine echte Sensation. Bislang kannte unser einer das ja nur aus mündlichen Überlieferungen.

Shannons Einrad von 1951. Bild: Axel Roch

Aber was sagt uns die Ausstellung denn?

Axel Roch: Also viele der Spielzeuge Shannons sind endlich in Glaskästen verpackt und einzeln studierbar. Soviel Detailgenauigkeit war schon mal dringend nötig. Man hätte zwar das Publikum noch mehr über das Einrad oder andere Spielzeuge und deren Bezug zur Informationstheorie informieren können, das sind ja schließlich nicht nur Spielereien, sondern konkrete wissenschaftliche Metaphern der Steuerung für Shannon. Die Eröffnungsfeier war aber, soweit ich das beurteilen darf oder kann, die erste angemessene und öffentliche Trauerfeier für Claude Shannon.

Shannon selber hatte Ende der 80er Jahre seinen eigenen Trauerzug, also seine Beerdigungsprozession entworfen und mit seiner Familie besprochen, sinngemäß etwa: “Wenn ich einmal sterbe, dann möchte ich so ein letztes Mal gewürdigt werden.” In dieser letzten Message Shannons – seinem Trauerzug - sollte Jazz gespielt werden, der Sarg Shannons sollte mit Einradfahrern gehalten und bewegt werden, da gab es Jonglier-Akrobatik, da sollten $100-Noten wie Konfetti umhergeworfen werden, da gab es neben den Zirkuskünstlern Wissenschaftler und Mathematiker, aber auch Mäuse und Katzen, viele seiner elektronischen Gadgets und sogar einen Clown wie bei Shakespeare.

Paderborn hat als Museum zur Eröffnung der Shannon-Sonderausstellung so eine Art Trauerzug veranstaltet und inszeniert, da wurde sogar Shannons Lieblings-Jazz nochmal gespielt... Andere Technik-, Wissenschafts- oder Kulturmuseen hierzulande, speziell im Bereich Informationswissenschaften und Computerspiele, müssen auf so etwas erst mal lebendig und konzeptionell reagieren. Das wird spannend, wie sich die museale Landschaft hier in Reaktion auf das HNF verändern wird.

Ich meine: Es gibt natürlich schon sehr viel wichtige und spannende Ausstellungen über Computerspiele. Aber viele Museen tun sich doch schwer, die Computerspielkultur in diesen Formen zu inszenieren oder zu integrieren. Paderborn hat das für einen Moment geschafft - andere Museen sind jetzt im Zugzwang.

Jeder, der sich mit Medien oder Information beschäftigt, muss eigentlich diese Ausstellung besuchen. Mein Buch kann man ja, um die Toys auch historisch dekodieren zu können, im Flugzeug oder auf dem Einrad nach Paderborn lesen. Das wäre vielleicht die derzeit beste oder optimale Kombination in der Sache mehr Shannon pro Medien.

Axel Roch
“Claude E. Shannon: Spielzeug, Leben und die geheime Geschichte seiner Theorie der Information”
Hardcover, 117 Abb., 256 Seiten, gegenstalt.com, Berlin 2009
ISBN 978-3-9813156-0-8
34,- Euro

Die Ausstellung Codes und Clowns ist im Heinz Nixdorf MuseumsForum in Paderborn bis 28. Februar 2010 zu sehen.