Bordell: Nein. Abmahnkanzlei und NPD: Möglicherweise Ja

Wo die Arbeitsagentur überall zu Bewerbungen zwingt

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In der letzten Woche machte uns ein Leser aus einer süddeutschen Mittelstadt darauf aufmerksam, dass er gezwungen war, sich bei einer als Abmahnunternehmen berüchtigten Rechtsanwaltskanzlei zu bewerben. Tatsächlich suchte diese einen Juristen mit abgeschlossenem Zweiten Staatsexamen. Nachdem die Tätigkeit bei solch einem Arbeitgeber nicht nur erhebliche Gewissenskonflikte hervorrufen, sondern auch den Lebenslauf ruinieren und einen Bewerber möglicherweise sogar in die Gefahr der Strafverfolgung bringen kann, legten wir der Nürnberger Zentrale der Bundesagentur für Arbeit eine Beispielliste mit möglichen Arbeitgebern vor und baten um Auskunft, bei welchen ein Arbeitsloser zur Bewerbung gezwungen sein würde.

Eindeutig verweigern kann ein Arbeitsloser danach eine Bewerbung nur in einem Bordell oder in einem Nachtclub. Dahin, so die Behörde, würden Leistungsempfänger "nicht zur Bewerbung aufgefordert". Wird die Stelle dagegen von einem Unternehmen wie Blackwater, einer Abmahnkanzlei oder der NPD angeboten, dann müssen sich Arbeitslose möglicherweise auch dann bewerben, wenn die Beschäftigung die oben aufgeführten Nachteile mit sich bringen würde.

"Generelle Aussagen", so die Zentrale der Agentur, könne man hierzu leider nicht treffen. Bei allen drei Arbeitgebern müsste "jeweils im Einzelfall" entschieden werden, ob eine Bewerbung "unzumutbar" wäre. Die Kriterien für die Zumutbarkeit einer Arbeitsstelle regelt § 10 SGB II - eine Vorschrift, die für alle erwerbsfähigen Hilfebedürftigen im Sinne des § 7 Absatz 1 SGB II gilt.

Unter der Nummer 5 des § 10 Absatz 1 SGB II sind als so genannter "Auffangtatbestand" sonstige "wichtige Gründe" aufgeführt, die der Zumutbarkeit einer Arbeit entgegenstehen können. Möglicherweise unter diese Vorschrift fallende Bewerbungshindernisse werden nicht von Amts wegen ermittelt, sondern liegen "im Verantwortungsbereich des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen" und müssen von ihm selbst "dargelegt und nachgewiesen" werden.

Die Formulierung in § 10 Absatz 1 Nr. 5 SGB II enthält einen so genannten "unbestimmten Rechtsbegriff", der von den persönlichen Ansprechpartnern beziehungsweise Vermittlern ausgelegt wird, welche eine Anerkennung auf "begründete Einzelfälle" beschränken und sich an der "Zielsetzung" der Vorschrift orientieren sollen. Unter anderem muss der Sachbearbeiter dabei prüfen, ob die Verhältnismäßigkeit zwischen den Interessen des Einzelnen und denen der Steuer- und Beitragszahler gewahrt ist.

Informell gilt für alle Behördenentscheidungen, bei denen ein unbestimmter Rechtsbegriff ausgelegt, die Verhältnismäßigkeit geprüft oder Ermessen pflichtgemäß ausgeübt werden muss, dass ein Sachbearbeiter im Zweifelsfall dann zugunsten eines Antragstellers entscheiden wird, wenn dessen Antrag so umfangreich und mit juristisch relevanten Begriffen versehen ist, dass eine Ablehnung mehr Arbeitsaufwand erfordern würde als eine Begründung der Annahme gegenüber einem Vorgesetzten.

Auf die Frage, ob Katholiken gezwungen werden können, Arbeit in einer Klinik anzunehmen, die Abtreibungen vornimmt, meint man in Nürnberg, dass ein wichtiger Grund nach § 10 Absatz 1 Nummer 5 SGB II dann gegeben sei, "wenn das vom Hilfebedürftigen geforderte Handeln mit seinem Glauben oder seiner Weltanschauung nicht zu vereinbaren" wäre. Liege eine "Beeinträchtigung", der grundgesetzlich geschützten Glaubensfreiheit vor, dann würden die Arbeitsagenturen dies "selbstverständlich" als gültiges Zumutbarkeitshindernis anerkennen. Die Frage, ob beispielsweise ein Vegetarier gezwungen werden könnte, in einer Metzgerei zu arbeiten, bleibt dagegen unbeantwortet.

Hält die Arbeitsagentur einen vorgebrachten Grund nicht für zureichend, so kann die Ablehnung der Arbeit Leistungskürzungen nach § 31 SGB II zur Folge haben. Im Gegensatz zur "Zuweisung", gegen die nach herrschender Meinung Widerspruch eingelegt werden kann, zählt ein Vermittlungsvorschlag nicht als Verwaltungsakt und kann auch nicht als solcher angefochten werden. Dies wird erst dann möglich, wenn ein Sanktionsbescheid ergeht, was den Arbeitssuchenden in einer ungünstigen Situation belässt: Will er sich gegen eine seiner Ansicht nach falsche Behördenentscheidung wehren, dann muss er nach Auskunft des Arbeits- und Sozialhilferechtsreferenten Harald Thomé erst ein erhebliches und möglicherweise sogar existenzbedrohendes Risiko eingehen.