Marodes deutsches Bildungssystem erzeugt 2,8 Billionen Euro Folgekosten

Die Bertelsmann Stiftung hat die Folgekosten der unzureichenden Bildung ausgerechnet und fordert Chancengleichheit. Aber warum macht sie das?

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Ein marodes, sozial unausgewogenes Bildungssystem sabotiert nicht nur individuelle Lebenswege, Entwicklungschancen und Berufsperspektiven. Immer mehr Ökonomen sind davon überzeugt, dass es auch der Volkswirtschaft schadet, indem die Möglichkeiten des sogenannten „Humankapitals“ nicht ausgeschöpft werden und dem Wirtschaftskreislauf auf diese Weise wichtige Wachstumsimpulse verloren gehen.

Schon in den letzten Jahren kamen mit Ludger Wößmann und Eric A. Hanushek zwei renommierte Vertreter ihrer Zunft zu einem interessanten Ergebnis, nachdem sie die Schülerleistungen von 36 internationalen Vergleichstests in Mathematik und Naturwissenschaften zwischen 1964 und 2003 mit den Wirtschaftsdaten der entsprechenden Länder verglichen hatten.

Der eindeutige Zusammenhang ist frappierend: Je besser die Leistungen in den zurückliegenden internationalen Schülerleistungstests, desto höher ist das zwischen 1960 und 2000 gemessene durchschnittliche Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf.

Ludger Wößmann

Im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung hat Wößmann nun eine Berechnung vorgelegt, die das Thema nicht historisch betrachtet, sondern weit ins 21. Jahrhundert hinein projiziert. Demnach betragen die Folgekosten unzureichender Bildung durch das nicht generierte Wirtschaftswachstum in den nächsten Jahren rund 2,8 Billionen Euro.

Die Methode

Der Professor für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Bildungsökonomik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, der auch als "Bereichsleiter Humankapital und Innovation" am ifo Institut für Wirtschaftsforschung tätig ist, kombiniert einen Koeffizienten, der die langfristigen Wachstumseffekte von kognitiven Testleistungen wiedergibt, mit einer aus den PISA-Studien gewonnenen Definition von unzureichender Bildung und Szenarien einer Reform, die vor allem das Ziel verfolgt, den Anteil der Risikoschüler innerhalb der kommenden zehn Jahre deutlich zu senken.

Wößmann konzentriert sich - aus nicht deutlich erkennbaren und wenig einleuchtenden Gründen - auf die Fächer Mathematik und Naturwissenschaften und zählt 23,7 Prozent der Schülerinnen und Schüler zu dieser Gruppe, weil sie bei den PISA-Mikrodaten für 2000 und 2003 unter dem Schwellenwert von 420 PISA-Punkten lagen. Dabei gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern - Bayern stellt mit 16,2 Prozent den niedrigsten, Nordrhein-Westfalen mit 28,2 Prozent den höchsten Anteil der Risikoschüler. Der Volkswirtschaftler modelliert dazu eine Bildungsreform, der es gelingt, den Anteil junger Menschen, die über unzureichende Bildungsvoraussetzungen verfügen, innerhalb von nur 10 Jahren um 90 Prozent zu senken. In diesem Fall würde auch der PISA-Durchschnitt deutlich steigen - und dann muss eigentlich nur noch gerechnet werden.

Ein konservativer Schätzwert für den Wachstumskoeffizienten beträgt (…) 1,265 Prozentpunkte zusätzliches Wirtschaftswachstum für eine Kompetenzerhöhung von 100 PISA-Punkten. Dementsprechend wäre die langfristige Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf in Deutschland durch die modellierte Bildungsreform – nach der Übergangsphase – Jahr für Jahr um 0,18 Prozentpunkte höher als ohne die Reform.

Ludger Wößmann

Bayern würde in diesem Szenario vergleichsweise geringfügig profitieren, doch die überschaubare Kompetenzverbesserung soll auch im südlichsten Bundesland immerhin zu einem alljährlichen BIP-Wachstum von 0,12 Prozentpunkten führen. Nordrhein-Westfalen wäre der große Gewinner des Modells. Wößmann prophezeit im Westen eine Steigerung des jährlichen BIP-Wachstums von 0,23 Prozent.

Die anschließende Projektion der volkswirtschaftlichen Folgekosten führt durch komplizierte Formeln, die Einbeziehung von Potentialwachstumsraten, Daten zur Bevölkerungsentwicklung oder zur Dauer des Erwerbslebens sowie eine finale Abdiskontierung zu den besagten 2,8 Billionen Euro. Für Bayern ginge es demzufolge um 343 Milliarden Euro, für Nordrhein-Westfalen um rund 790 Milliarden Euro – als Summe des gesicherten (mit Reform) oder entgangenen (ohne Reform) Bruttoinlandsprodukts.

Mehr Investitionen und eine bedarfsorientierte Verteilung

Jörg Dräger, einst Wissenschaftssenator in Hamburg, heute Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung und Geschäftsführer des Bertelsmann nahen Centrums für Hochschulentwicklung, wertete die Studie als "bildungspolitisches Neuland" und verwies bei der Vorstellung darauf, dass die oft zitierten „Risikoschüler“ vielfach aus sozial benachteiligten Familien oder Familien mit Migrationshintergrund stammen. Nur wenn für sie endlich Chancengerechtigkeit hergestellt werde, könne auch der gesellschaftliche Zusammenhalt und die ökonomische Zukunftsfähigkeit gesichert werden, meinte Dräger.

„Wir müssen die Lebens- und Lernbedingungen dieser Kinder und ihrer Familien dringend verbessern. Ihre Heterogenität und kulturelle Vielfalt sollten wir auch als eine Bereicherung unserer Gesellschaft wertschätzen und dies zum Ausgangspunkt allen Handelns in den verschiedensten Bildungsorten machen“, heißt es auch in einem aktuellen Positionspapier der Stiftung, das mit Reformvorschlägen zur neunzigprozentigen Reduzierung des Risikoschüleranteils aufwartet.

Die Autoren fordern hier ein qualitativ hochwertiges Angebot im Bereich frühkindliche Bildung, individuelle Förderung, mehr Ganztagsschulen und "soziale Service-Leistungen" sowie eine „bedarfsorientierte Verteilung der finanziellen Ressourcen“.

Mittel müssen verstärkt dort eingesetzt werden, wo die Herausforderungen am größten sind. Wenn Ressourcen mit der Gießkanne verteilt werden, können Ungleichheiten von Bildungseinrichtung zu Bildungseinrichtung nicht ausgeglichen werden. Als Voraussetzung für eine solche indikatorengesteuerte Mittelverteilung sind Informationssysteme zu entwickeln, die Investitionsbedarfe und Wirkungen transparent machen.

Bertelsmann Stiftung

Reformen gegen den Systemwechsel

Diese Vorschläge sind nicht wirklich neu, aber deshalb trotzdem sinnvoll. Udo Beckmann, Vorsitzender des „Verbandes Bildung und Erziehung“ interpretierte sie Ende vergangener Woche postwendend als dringenden Appell an die Politik, Bildungsausgaben „als Investitionen und nicht als Kosten“ zu betrachten.

Die Studie fordert die Bildungspolitik auf, sich die Denkweise der Klimapolitik anzueignen und einen langfristigen Betrachtungshorizont einzunehmen. Diese Auffassung teilt der VBE. Um das zu erreichen, müsste die Bildungspolitik allerdings dringend aus der Ecke des parteipolitischen Gezänks und der föderalen Eitelkeiten herausgeholt werden und auf einen gesamtgesellschaftlichen Konsens hinarbeiten.

Udo Beckmann

Auch das klingt vernünftig und doch stellt sich die Frage, warum ausgerechnet die Bertelsmann Stiftung die soziale Auslese des deutschen Bildungssystems plötzlich in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Schließlich arbeitet sie mit Hilfe ihres einflussreichen Flagschiffes CHE seit vielen Jahren darauf hin, die deutschen Fachhochschulen und Universitäten zu Unternehmen weiterzuentwickeln, um dem Leitbild einer "standortgerechten Dienstleistungshochschule" zum bildungspolitischen Durchbruch zu verhelfen. Vom CHE werden die segensreichen Auswirkungen der Studiengebühren propagiert, und im Bereich der Schulpolitik sprechen Kritiker von einer beispiellosen „Rationalisierungs- und Ökonomisierungsoffensive“, die einen "Paradigmenwechsel" anstrebt, um die "Führungs- und Sozialtechniken des Kapitals" auch in die Strukturen der Bildungsinstitute einzuschleusen.

Doch die Bertelsmann Stiftung ist flexibel, wenn es um ideologische Vorgaben geht. Dem Autor ihrer aktuellen Studie geht es vor allem darum, dass am Ende „die Rendite stimmt“ und das System der freien Marktwirtschaft von einer möglichst großen Bevölkerungsgruppe akzeptiert wird. Zu diesem Zweck sollen die Startchancen für den Einzelnen optimiert und bildungspolitische Bestandsgarantien – etwa für das dreigliedrige Schulsystem – notfalls veräußert werden, so dass die während der laufenden Studentenproteste vielfach geäußerte Systemfrage gar nicht erst gestellt werden muss.

Ein freiheitliches Wirtschaftssystem kann sich nur entfalten, wenn jeder seine Potenziale voll entfalten kann. Dabei geht es ja nicht um Gleichmacherei oder darum, dass jeder am Ende das Gleiche verdient, sondern darum, dass jeder mit den gleichen Voraussetzungen am Marktprozess teilnehmen kann.

Ludger Wößmann

Mitte November präzisierte Wößmann seine Vorstellungen in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung. Es sei faktisch unmöglich, den technischen Fortschritt mitsamt seiner Tendenz zur Rationalisierung aufzuhalten, gleiches gelte für die Globalisierung. Eine Rücknahme der Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 hält Wößmann ebenfalls für kontraproduktiv, und so stellt die Reform der Bildungslandschaft eine der wenigen Möglichkeiten dar, der schwindenden Akzeptanz des gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems entgegenzuwirken.

Damit ein Mensch ein freiheitliches System akzeptieren kann, muss er ungeachtet der gesellschaftlichen Stellung seiner Familie zum Zeitpunkt seiner Mündigkeit möglichst die gleichen Startchancen wie jeder andere haben. Er muss in die Lage versetzt worden sein, von den Möglichkeiten zu profitieren, die sich in einer freien Wirtschaft ergeben. Gute Bildung schafft echte Chancengleichheit, indem sie zur eigenverantwortlichen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben befähigt.

Ludger Wößmann

"So ein bisschen Bildung ziert den ganzen Menschen"

Der Blick auf die sozial Benachteiligten bedeutet unter diesen Voraussetzungen eben keinen inhaltlichen Kurswechsel. Vielmehr geht es der Bertelsmann Stiftung und den Autoren der Studie um eine noch engere Verzahnung von Bildungs- und Wirtschaftssystem. Beide sollen dem Gesetz von Angebot und Nachfrage gehorchen und mit ihren Akteuren als Wettbewerber am Marktprozess teilnehmen.

Wilhelm von Humboldt hatte vor exakt 200 Jahren, als er dem preußischen König die Grundzüge einer notwendigen Bildungsreform skizzierte, ganz andere Vorstellungen. Sie zielten vornehmlich auf die Persönlichkeitsentwicklung der Menschen und Bürger - nicht auf die Stabilisierung ökonomischer Prozesse.

Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierzu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von einem zum andern überzugehen.

Wilhelm von Humboldt

Doch die Zeiten ändern sich und vielleicht sieht es in der ganzen, zuletzt so oft beschworenen Bildungsrepublik eines Tages aus wie im Berliner Humboldt-Flagship-Store, der vor wenigen Tagen eröffnet wurde. Er bietet zwar keine weitergehenden Anhaltspunkte zur Persönlichkeitsbildung, aber neben "Merchandising-Basics" wie Schlüsselbändern, Aktentaschen, Krawatten, Babylätzchen oder Sektkühlern sogar eine uniforme Uni-Streetwear-Kollektion "HU BLN" an.

Hier können sich schon Kinder T-Shirts mit der Aufschrift "Little Humboldt" zulegen. Auf die Damenwelt wartet ein "figurbetontes Shirt" mit der Tucholsky-Erkenntnis "Es gibt keinen Erfolg ohne Frauen", und die männlichen Nachwuchsakademiker dürfen das Heine-Zitat "So ein bisschen Bildung ziert den ganzen Menschen" spazieren tragen. Wenn sie denn genügend Selbstironie mitbringen - oder die Zusammenhänge ganz einfach nicht verstanden haben.