Zwischen Selbstbestimmung und Selbstausbeutung

Interview mit dem Rechtsphilosophen Reinhard Merkel über elektronisches und pharmakologisches Neuro-Enhancement

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Prof. Dr. Reinhard Merkel lehrt Rechtsphilosophie und Strafrecht an der Universität Hamburg. Von 2003 bis 2005 war er Mitglied der Enquete-Kommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" des Deutschen Bundestags. Merkel war Sechster im 400 Meter Lagenschwimmen bei den olympischen Spielen 1968 in Mexico. Er ist Mitverfasser des vieldiskutierten Memorandums Das optimierte Gehirn, in dem sieben Wissenschaftler zu den Herausforderungen des "Neuro-Enhancements" Stellung nehmen (Chance verspielt?). Im Interview mit dem Rechtsphilosophen von der Universität Hamburg geht es um die Grenze zwischen Therapie und Enhancement, das Recht auf mentale Selbstbestimmung und die Rolle der Ärzteschaft.

Die fortgeschrittensten Invasiv-Techniken finden sich im Bereich der Retina- und der Cochlear-Implantate. Diese dienen zwar der Therapie, aber schon hier stellt sich die Frage, mal simpel gesprochen: Warum nicht drei Frequenzen mehr abgreifen und diese dem Menschen zur Verfügung stellen? Sind wir da schon bei Enhancement?

Reinhard Merkel: Die Trennlinie wird schwierig. Die Deep Brain Stimulation erlebt zur Zeit einen großen Aufschwung, wobei in vielen Forschungsgruppen Angst davor herrscht, dass ihre Arbeit mit den Vorgängen aus 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verglichen wird, als Lobotomien und andere Radikaleingriffe vorgenommen wurden. Aber man sieht vor allem enorme Chancen, psychisch Kranken zu helfen.

Wobei diese Verfahren signifikante Vorteile gegenüber den herkömmlichen pharmakologischen Verfahren haben?

Reinhard Merkel: Da ist man sehr optimistisch, weil man das anvisierte Zielgebiet im Gehirn viel besser bestimmen und begrenzen kann als durch Medikamente. Das reduziert die Nebenwirkungsrisiken natürlich erheblich. Die neueste Entwicklung in dieser Sphäre wird „Optogenetics“ genannt: eine Hirnstimulation mittels Laserlichts. An Gehirnen von Mäusen hat man ihre Wirksamkeit bereits demonstriert. Zunächst machen über Retro-Viren eingeschleuste Gene bestimmte Hirnareale lichtempfindlich. Danach kann man mit einem Lichtsignal, das über eine Glasfaser ins Gehirn geschickt wird, die Tiere von außen steuern, etwa so, dass sie nur noch rechts herum laufen.

Diese Art der Deep Brain Stimulation ist beeindruckend und erschreckend zugleich. Im Prinzip scheint es möglich, damit sogar einzelne, neuronale Zellen exakt anzusteuern. Hier hat man das auf uns zurollende Problem plastisch vor Augen: Auf der einen Seite ergeben sich Chancen für die Behandlung von schweren, psychischen Erkrankungen, auf der anderen Seite ist, jedenfalls prinzipiell, eine Steuerung von Außen möglich. Man kann übrigens durchaus vermuten, dass im Hochleistungssport schon heute Experimente mit neuronalem Doping durchgeführt werden. Die Stimulation des sogenannten "Belohnungszentrums" im Gehirn bietet sich hierfür an. Filippo Cogiamanian und seine Kollegen von der Universität Mailand haben beispielsweise bereits getestet, welche positiven Auswirkungen die transcraniale Magnetstimulation auf die Ausdauer von gesunden Probanden haben kann.

Reinhard Merkel. Bild: R. Merkel

Recht auf mentale Selbstbestimmung

Was ist zu tun?

Reinhard Merkel: Die neuen Verfahren und Entwicklungen machen es aus meiner Sicht notwendig, ein "Recht auf mentale Selbstbestimmung" juristisch auszuarbeiten. Aus meiner Sicht hat dieses Recht sogar Grundrechtscharakter und gehört damit in die Verfassung. Verfassungsrechtler sagen heute zwar, man könne es unter das allgemeine Persönlichkeitsrecht subsumieren. Das ist aus meiner Sicht allerdings so allgemein formuliert, dass es die Dinge, die da aus uns zukommen, nicht plausibel und trennscharf erfassen kann.

Was ist in dieser Hinsicht das Besondere an den Enhancement-Techniken?

Reinhard Merkel: Nun, vor allem, dass sie einerseits zu signifikanten Veränderungen der Persönlichkeit führen können, andererseits ihre rein körperlichen Wirkungen trotzdem vernachlässigbar gering sein mögen. Sind solche Einwirkungen ohne Einwilligung des Betroffenen vorgenommen worden, dann haben sie für ihn zwar gravierende Auswirkungen, werden aber von den klassischen juristischen Schutzrechten, vor allem den Körperverletzungstatbeständen im Strafgesetzbuch, nicht erfasst. Und das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist für so etwas viel zu unspezifisch. Damit haben wir eine fühlbare Lücke im Recht des Schutzes des Person. Und sie wird im Maß der Weiterentwicklung der neuen Techniken mentaler Invasion, also wohl in absehbarer Zukunft, noch weitaus deutlicher fühlbar werden.

Wie soll ein mentales Selbstbestimmungsrecht aussehen?

Reinhard Merkel: Es besteht aus einem Abwehr- und einem Selbstgestaltungsrecht. Das Abwehrrecht umfasst jeden unerwünschten Eingriff von außen. In dem Maße, wie diese Verfahren erforscht und möglich werden, werden auch heimliche Eingriffe denkbar. Man denke nur an die Experimente mit dem populär als "Kuschelhormon" bezeichneten Oxytocin. Da ist es zukünftig denkbar, dass Geschäftsräume über die Klimaanlage gezielt mit Oxytocin beflutet werden. Damit erhielte der Begriff der "vertraulichen Atmosphäre" eine ganze neue Bedeutung. Solche Eingriffe müssen rechtlich blockierbar sein. Solch ein Abwehrrecht würde etwa auch die Position von Gefängnisinsassen stärken.

Warum?

Reinhard Merkel: Weil beispielsweise psychisch kranken und deshalb auch nach einer Haftverbüßung gefährlichen Schwerverbrechern künftig vermehrt die Aufforderung angetragen werden könnte, einem Eingriff in ihr Gehirn zuzustimmen, damit sie entlassen werden können und nicht sicherungsverwahrt bleiben müssen. Die Alternative allerdings, solche Verfahren vollständig zu untersagen, weil man sie vielleicht als Nötigung seitens des Staates ansieht, halte ich ebenfalls für falsch. Der Staat muss – wenn denn die Nebenwirkungen irgendwann überschaubar und die Verfahren gut erforscht sind – solche Offerten machen. Denn im Vergleich mit der Alternative einer dauerhaften Verwahrung stellen sie für einen Betroffenen noch immer das typischerweise kleinere Übel dar. Nur muss man ihn eben selber entscheiden lassen.

Und das Gestaltungsrecht?

Reinhard Merkel: Was den Staat nichts angeht ist das, was einer aus freien Stücken mit sich selbst anstellt. Hier darf er nur dann eingreifen, wenn dieser Selbsteingriff mittelbare Wirkungen auf die Gesellschaft hat, die für andere zu unzumutbare Belastungen führen. Mehr noch, der Staat hat sogar die Pflicht einzugreifen, wenn ein unzulässiger kollektiver Nötigungsdruck erzeugt wird. Das wäre dann gegeben, wenn jemand nur noch dann konkurrenzfähig wäre, wenn er Veränderungen seines Gehirns vornehmen ließe.

Ich persönlich bin kein Fan pharmakologischer Beeinflussung meines Geistes, aber das ist meine Sache. Die Frage ist, ob wir alles, was wir für uns selber ablehnen, vom Staat auch gleich unserem Nachbarn verbieten lassen wollen. Das halte ich für gänzlich indiskutabel. Solange jemand primär bei sich selbst bleibt und die Effekte nach außen die Grenze des erlaubten Risikos nicht überschreiten, muss eine Gesellschaft dies aushalten. Belästigungen darf jemand durch den Gebrauch seiner Freiheit dem Nachbarn zumuten, selbst wenn sich dieser dadurch unter Druck gesetzt fühlt, sich anstrengen zu müssen, um mitzuhalten.

Neuroenhancement, Drogen, Doping

Die Grenzen der Gestaltungsfreiheit wurden im Rahmen der Betäubungsmittel ja schon diskutiert. Existiert ein Unterschied zum Enhancement?

Reinhard Merkel: Also erstens: Nach wie herrschen doch erhebliche Zweifel, ob die Besitzstrafbarkeit von Drogen, die ja auf Doping-Mittel im Sport erweitert worden ist, vernünftig legitimierbar ist. Bislang werden hauptsächlich abstrakte Rechtsgüter wie "Volksgesundheit" postuliert und herangezogen, um die Legitimität plausibel zu machen. Aber in Wahrheit geht es um drei Dinge bei diesen Besitzverboten: Das eine sind die internationalen Verpflichtungen, die maßgeblich auf Betreiben der USA in völkerrechtliche Konventionen integriert worden sind. Dort kennt man so skrupulöse Debatten eher nicht; dort gilt: Wenn der Staat im Ganzen legitimiert ist, dann darf er auch verbieten, was ihm missfällt. Das andere ist eine in Deutschland (wie sicher auch sonstwo) verbreitete Abwehrattitüde gegenüber neuartigen chemischen Drogen. Und der dritte Aspekt ist der legitime Jugendschutz.

Alles zusammen mischt sich allerdings zu einer wenig rationalen Doppelmoral. Denn auf der einen Seite fördert der Staat den schon ohne Doping schwer gesundheitsschädlichen Hochleistungssport mit sehr viel Geld, auf der anderen Seite stellt er das Haschischrauchen unter Strafe. Da kann man eigentlich nur staunen. Und zweitens: Das mentale Enhancement dient ja Zielen, die als solche ersichtlich ganz unverdächtig sind. Mehr als das: Sie sind höchst lobenswert, nämlich identisch mit denen, die von einer guten Schul- oder Universitätssausbildung, vom Lesen, Nachdenken, Forschen und anderen geistigen Tätigkeiten gefördert werden sollen. Und das genau ist beim rein körperbezogenen Doping nicht der Fall, und genauso wenig beim Drogenkonsum, der ausschließlich einem Augenblicksgenuss dienen soll. Auch das sollte man beim Vergleich Neuroenhancement und Drogenkonsum bzw. Sportdoping nicht übersehen.

Dass Alkohol und Nikotin individuell wie sozial erheblich größere Schäden anrichten, steht ja außer Zweifel.

Reinhard Merkel: Ja. Aber diese Drogen haben ihre Quasi-Legitimität eben durch eine langsame historische Entwicklung erhalten. Dieser Prozess der Legitimation speist sich aus der Selbstverständlichkeit, mit der unsere Lebensform solche Praktiken zunächst in deren ersten bagatellhaften Anfängen akzeptiert hat, und dann nach und nach eben in ihrer allmählichen gesellschaftsweiten Ausbreitung.

Wie werden diese kollektiven Emotionen, die der Gesetzgeber kanalisiert, bei der Enhancement-Debatte wirken?

Reinhard Merkel: Wenn die Mittel und Methoden tatsächlich zukünftig besser funktionieren und weit verbreitet werden, dann wird dieses kollektive Missbehagen beim Gesetzgeber vermutlich auf bereitwillig offene Ohren stoßen. Wir werden mit einigen Verbotsgesetzen konfrontiert werden, so viel lässt sich halbwegs gewiss voraus sagen.

Recht auf Rausch

Wird man ihnen vorwerfen durch die Hintertür der "mentalen Selbstbestimmung" das "Recht auf Rausch" wieder einbringen zu wollen?

Reinhard Merkel: Auch dazu zweierlei: Erstens meine ich, dass das Recht auf Rausch durchaus gedeckt ist von der individuellen Handlungsfreiheit. Der Gesetzgeber hat das gleichwohl blockiert, das Bundesverfassungsgericht wiederum hat mit etwas vagen Erwägungen hinsichtlich der Ausstrahlung auf die Jugend, das generelle Vertrauen der Bürger auf das wohlgeordnete Gemeinwesen und anderen recht weichen Kriterien diese Blockade akzeptiert als etwas, was der freien Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers anheimgegeben sei. Aus meiner Sicht ist das Strafrecht freilich kein legitimes Mittel, um die Drogenproblematik in den Griff zu bekommen.

Und zweitens geht es, wie ich vorhin schon angedeutet habe, bei den Zielen des mentalen Enhancements um etwas gesellschaftlich Gebilligtes, ja Hochgeschätztes. Man wird wohl dennoch auch im Bereich des Enhancements zunächst Verbotsgesetze erlassen, beispielsweise in einem Annex zum Arzneimittelgesetz. Das ist bei freiwilligen Selbst-Enhancements unangemessen. Dagegen sollte der unerwünschte und einwilligungslose Eingriff durch technisches oder pharmakologisches Enhancement meiner Ansicht nach durchaus verboten, ja sogar in das Strafgesetzbuch aufgenommen werden. Damit würde man auch Kinder schützen, deren Eltern meinen, zu Enhancement greifen zu müssen.

Also Vitamintabletten für den Nachwuchs, aber keine anabolen Steroide?

Reinhard Merkel: Ja, mit Falltypen, die in ihrem Kernbereich so klar konturiert sind wie Ihre beiden Beispiele, lässt sich das Gemeinte gut verdeutlichen. In weniger klaren Grenzfällen des einen oder des anderen Typus ist die Abgrenzung allerdings nicht einfach; aber möglich ist sie trotzdem. Da muss sich wohl nicht zuletzt auch die Ärzteschaft neu positionieren. Vitamine auch für ein Kind zu verschreiben, das nicht im mindesten krank ist, ist ja kein ethisches Problem. Sollten sich die Nebenwirkungsgefahren eines künftigen Enhancements so minimieren lassen, dass sie eher diesem Bereich zuzuordnen wären als dem der anabolen Steroide, dann wäre schwer einzusehen, warum das Verschreiben von Enhancements problematischer sein sollte als das von Vitaminpillen. - Dass wir an diesem Punkt der Entwicklung längst nicht sind, muss man freilich dazu sagen. Und vielleicht kommen wir ja niemals dahin. Dann bleiben Enhancements an kleinen Kindern unzulässig. Das ist ganz einfach.

Und was Erwachsene angeht: Es werden künftig ganz gewiss auch gesunde Bürger zu ihren Ärzten kommen und nach einem Mittel fragen, das sie leistungsfähiger und konzentrierter macht. Vermutlich geschieht das schon heute. Angenommen die gesetzliche Krankenversicherung wird nicht belastet, weil der Mann oder die Frau privat versichert ist; Dann stellt sich die Frage: Ist da irgendetwas rechtswidrig? Ich denke nicht. Gleichwohl, fürchte ich, werden Verordnungen oder Verbotsgesetze erlassen werden, die sich an die Ärzte wenden und diesen untersagen, solche Mittel nur zu Enhancement-Zwecken zu verschreiben.

Dann besteht immer noch die Möglichkeit aus dem Vollen der diagnostischen Handbücher zu schöpfen und eine milde Form kognitiver Defizite zu attestieren. Im Beratungsgespräch gilt es doch aber für den Arzt festzustellen, was die Ursachen dieses Wunsches nach Steigerung über die Normalbefindlichkeit hinaus ist. Vielleicht stellt sich als die zugrunde liegende Krankheit heraus: Ein defizitäres Selbstgefühl, verbunden mit Getriebenheit.

Reinhard Merkel: Ja, das könnte sehr wohl sein. Und dann ist eine entsprechende berufsethische Pflicht der Ärzte wohl schon unter dem Gesichtspunkt der Schadensvermeidung begründet, ganz gewiss aber unter dem der bestmöglichen Hilfe für den Patienten. Ich bin aber unsicher, wie weit ein solcher ethischer Appell an die Ärzte in Rechtsnormen, und sogar in solche eines rechtlichen Verbots, übersetzbar ist.

Ist der Arzt standesrechtlich verpflichtet, auch die Wirkung über das Individuum hinaus abzuschätzen?

Reinhard Merkel: Das ist nicht ganz leicht zu sagen. Standesrechtlich, so weit ich weiß, nicht; standesethisch mag sich das anders verhalten. Jedenfalls ist das eine Frage, die man eher der Ethik-Kommission der Bundesärztekammer stellen muss. Die wird aber, so vermute ich, die Enhancement-Debatte auf absehbare Zeit noch weit von sich weisen, nicht zuletzt, weil man um das Image der Ärzte bangt. Psychologisch ließe sich das verstehen; der Bedeutung des Themas angemessen wäre es nicht.

Gefragt sind dann Regulierungsinstrumente unterhalb eines an die Person adressierten Verbots

Nach allem, was man sieht, scheint die Gesellschaft doch für Enhancement nicht reif zu sein, weil sie es primär zu Selbstausbeutung des Einzelnen nutzen wird.

Reinhard Merkel: Das sehe ich für die Gegenwart ähnlich, aber vielleicht in der Tendenz nicht ganz so skeptisch. Man könnte immerhin hoffen, dass eine vernünftige öffentliche Diskussion die wesentlichen Probleme des Neuroenhancements halbwegs transparent macht. Dazu würden natürlich gut begründete Empfehlungen für einen persönlich verantwortungsvollen Umfang mit Neuro-Enhancern gehören. Solche Empfehlungen mögen dann ja durchaus Wirkung haben.

Im Übrigen muss näher untersucht werden, welche Spill-over-Effekte in die gesellschaftliche Sphäre Neuro-Enhancement haben wird. Kann man das überhaupt verlässlich feststellen? Dazu müssten Studien organisiert werden, die Neuro-Enhancement an gesunden Probanden testen. Die Legitimität solcher Studien ist aber unter Wissenschaftlern sehr umstritten. Denn dann wären ja, sagen manche, vielleicht auch Studien mit Doping-Mitteln an Sportlern legitimierbar. Die Verlockungen sind allerdings groß, auch, weil bei uns die Bildungsgesellschaft als politisches Programm propagiert wird. Und dabei hat man ja nicht primär das individuelle Lebensglück, sondern die Erhöhung der ökonomischen Konkurrenzfähigkeit des ganzen Landes im Blick. Hier werden die Enhancement-Befürworter durchaus für ihre Sache argumentieren können. Man muss aber deutlich dazu sagen, dass alle diese Aspekte erst dann bedeutsam werden können, wenn die ethisch vorrangigen des individuellen Risikos und möglicher anderer nachteiliger Effekte für einzelne Personen zufriedenstellend geklärt sind.

Der Begriff des "Enhancement", wenn man ihn denn als "Steigerung" oder "Erweiterung" definiert, hat einen interessanten Bedeutungswandel erfahren. In den 60er Jahren war mit pharmakologisch unterstützter Bewusstseinserweiterung etwas ganz anderes gemeint als heute mit Enhancement, wo es ja in erster Linie um die Integration in den Arbeitsalltag geht.

Reinhard Merkel: Damals wurden exaltierte Bewusstseinszustände gesucht, man suchte bewusst abseits des Mainstreams nach neuen Wegen der Selbsterfahrung und -erweiterung. Heute ist das eher ein Anpassen an soziale Normen des Wettbewerbs, an die kompetitiven Strukturen der Gesellschaft. In seiner vielleicht ungebremsten gesellschaftlichen Wirkung wäre das höchst problematisch und bekämpfenswert. Das alleine reicht aber nicht aus, es dem individuellen Benutzer zu verbieten. Gefragt sind dann Regulierungsinstrumente unterhalb eines an die Person adressierten Verbots. Die sozialen Wirkungen von Alkohol und Zigaretten sind ja ebenfalls höchst problematisch, viel problematischer als alles, was wir uns derzeit unter dem Stichwort „Neuroenhancement“ vorstellen können. Dennoch käme wohl niemand ernsthaft auf die Idee, ein generelles rechtliches Trink- oder Rauchverbot für jedermann zu fordern.

Ist die Einführung einer neuen Kategorie, abseits von Nahrungsergänzungsmitteln, Genussmitteln, Drogen und Medikamenten, nötig?

Reinhard Merkel: Begrifflich ist es angemessen, eine Kategorie des Neuro-Enhancements einzuführen, um die juristische und ethische Sonderstellung zu markieren. Die nun zum Thema Enhancement aufkeimende Bereichsethik „Neuroethics“ benötigt selbstverständlich Brücken zu den fundamentalen ethischen Prinzipien, deren abstrakt-allgemeine Geltung so gut wie unbestritten ist. Das Verletzungsverbot und das Solidaritätsgebot gehören dazu. Ich führe ein drittes Prinzip ein, das ich "Normenschutzprinzip" nenne: Alles was mit dem schutzbedürftigen körperlichen oder seelischen Bereich des Menschen zu tun hat, ist danach mit einer besonderen normativen Sensibilität und Vorsicht zu behandeln. Ein drei Tage alter Mäuse-Embryo und ein drei Tage alter menschlicher Embryo mögen in ihrem äußeren Erscheinungsbild und in ihrer aktuellen Null-Subjektivität keinerlei Unterschied aufweisen; gleichwohl gehen wir mit dem Human-Embryo anders um und sind dazu ethisch auch verpflichtet.