Ankunft in der einst fernen Zukunft

Von der utopischen Performance her gesehen ist das Jahr 2010 ein Skandal

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Nächstes Jahr schreiben wir das Jahr 2010 und das ist natürlich ein Skandal. Jedenfalls für diejenigen, die im vorigen Jahrhundert mit Science-Fiction-Romanen aufgewachsen sind. Denn 2010 war in diesen Romanen schon die krass ferne Zukunft und ganz schön utopisch, so mit sich drehender Weltraumstation, herumstaksenden metallenen Robotern und Nick, dem Weltraum-Comic-Helden. Der sollte heute eigentlich durch die dampfenden Dschungel der Venus stapfen. Und irgendwie war auch klar, dass es in dieser fernen Zukunft so etwas wie Arbeitslosigkeit oder Krieg nicht mehr geben würde. Wenn, dann höchstens mit den fünfäugigen Jungs aus dem Andromeda-Nebel.

Jetzt, kurz vor dem Jahre 2010 wissen wir, das stimmt alles nicht. Die frühere Zukunft, also unsere Gegenwart, leidet – utopisch gesehen – schwer an einem Grauschleier. Aus jeder Mauerritze guckt uns triefäugig die Banalität des Alltags entgegen und wenn auch am Bildschirm alles so schön bunt ist – es fehlt der richtige Kick, das atemberaubende Gefühl, mit Staunen auf eine andere Welt zu sehen.

Nehmen wir nur die internationale Raumstation, die über unseren Köpfen durch das Weltall trudelt. Auf den Umschlagseiten der Romanheftchen ähnelte diese Raumstation einem Speichenrad, das sich um sich selbst drehte, um etwas Schwerkraft zu erzeugen. Irgendwo dockten Raumschiffe an, die gerade vom Mars kamen und kleine Männchen mit Raumanzügen bohnerten die Metallhülle. Demgegenüber sieht die reale Raumstation aus, als ob man ihre Teile vom Hinterhof der Computer-Schrott-Recycling-Anlage zusammengeklaut hätte – ästhetisch völlig unbefriedigend. Drinnen treiben sich Touristen herum, die russischen Geräte gehen dauernd kaputt und die Astronauten verbröseln den Innenraum. Und die interstellare Raumfahrt beschränkt sich darauf, dass die Amerikaner alte Raketenteile in einen Mondkrater stürzen lassen.

Gut, nicht alle Dinge des Jahres 2010 sind enttäuschend. Neulich, bei der Magenspiegelung, lernt man schon die Vorteile der Miniaturisierung zu schätzen. Trotzdem. Keine Städte auf dem Meeresgrund und auch nicht auf dem Mond und Alpha Centauri lässt auch nichts von sich hören. Einzig der Flachbildschirm hängt mittlerweile an der Wand, was aber die Nachrichten nicht besser macht.

Eine Utopie aus dem Jahr 1956

Und diese Nachrichten handeln von Dingen, die es eigentlich seit rund 40 Jahren nicht mehr geben sollte. So finden wir in der „Münchner Illustrierten“ vom 28. Januar 1956 unter dem Titel „Du wirst es erleben“ ein Zukunftsroman, wie er in den optimistischen 1950er Jahren gerne gelesen wurde. In einer fernen Zukunft erwacht der Reporter „Egon Larsen“ aus einem künstlichen Winterschlaf. Von der „Weltregierung“ wird er auf eine Weltreise geschickt und erzählt den Lesern der Illustrierte, wie die Welt der Zukunft aussieht. Etwa dass „die amerikanischen Neger“ den Vereinigten Staaten nach einer tiefen wirtschaftlichen Depression „all ihren Besitz und ihre Arbeitskraft der wirtschaftlichen und sozialen Rettung des Landes zur Verfügung stellten“. Das Amerika, das sich der Autor des Zukunftsromans vorstellt, sieht so aus:

Das Amerika, das ich nun vorfand, ist das Ergebnis dieser von Grund aus geänderten Denk- und damit Lebensweise: ein technisch hochentwickeltes Land, das die Technik als Herrn seines Schicksals entthront hat; ein reiches Land, das nicht mehr an die Allmacht des Geldes glaubt; eine Nation, die aus ethischen Gründen vermeidet, sich in die Angelegenheiten anderer Länder zu mischen.

Der Reporter kommt auf seiner Zukunftsreise auch nach Deutschland und besucht auf der Bodensee-Insel Mainau eine Schule der Zukunft. In dieser Zukunft spielen Geld und Herkunft keine große Rolle mehr, wie ein Gespräch des Reporters mit der Schulleiterin zeigt:

"Versuchen nicht viele, in romantisch klingende Berufe hineinzukommen – Berufe, in denen es mehr Geld und Ehren und Titel zu erwerben gibt als in anderen, bescheideneren?"

Frau Dr. Gräbner lachte: "Geldsucht ist eine Krankheit wie Gelbsucht, heißt das Motto der Psychologen, das neuerdings zum Sprichwort geworden ist. Wir erleben ja auch eine steigende soziale Ächtung des Geldsüchtigen. Die Gesellschaft garantiert jedem, dass er bis an sein Lebensende menschenwürdig existieren kann und gibt ihm alle Möglichkeiten der Entfaltung seiner Talente – was will man mehr?"

Der Reporter gelangt auf seiner Zukunftsreise auch nach München – der „Hauptstadt des Vergnügens“. Das Oktoberfest und der Fasching finden nun zweimal im Jahr statt – wegen der „Ströme von Fremden“. Die bayerische Großstadt ist in der Zukunftsvision der „Münchner Illustrierten“ auch eine „Wahlheimat der Kunstschaffenden“. Denn

Je weniger die Menschen zu arbeiten brauchen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, umso größer wird ihr Bedarf an künstlerischen Erlebnissen.

Der Autor dieser Utopie von 1956 war in seinem Schritt nach vorne relativ bescheiden: Er wählte das Jahr 1975! Was hätte seine Fantasie wohl für das München von 2010 bereitgehalten – einer Stadt in einer unendlich fern scheinenden Zukunft von rund 54 Jahren?

Nun, wir wissen, dass es bisher mit der „steigenden Ächtung der Geldsüchtigen“ nicht sehr weit gekommen ist. Statt Roboter und Entfaltung der Talente bietet uns das Jahr 2010 die Klimakatastrophe, die Folgen der Finanzkrise und Hartz-IV. Rein vom Utopischen gesehen bringt das Jahr also eine schlechte Performance. Aber wir dürfen nicht vergessen, was Utopie im buchstäblichen Sinne heißt: Der Ort, den es nirgends gibt.