"Rasterfahndung" nach Meinungsmachern

Studie zeigt, wie Soziale-Netzwerk-Analysen Gruppen filtern

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Meinungsmacher innerhalb einer Clique oder besonders kreative Köpfe lassen sich aus Online-Netzwerken automatisiert herausfiltern, haben Wissenschaftler der TU Berlin und der Wirtschaftsuniversität Wien nachgewiesen. Die Methode dürfte für Unternehmen eine willkommene Bereicherung ihrer Direktmarketing-Methoden darstellen.

Unternehmen wissen immer mehr über ihre Kunden. Zumindest sammeln sie, was sie nur kriegen können – angefangen bei Alter, Wohnort und Beruf über bisherige Käufe bis hin zu den Kontakten mit Telefonhotline oder E-Mail-Support. Die Idee ist, auf diese Weise Wünsche und Bedürfnisse der Kunden herauszufinden und ihnen ganz persönlich nahezulegen, was sie als nächstes kaufen sollen.

Die Berge von gesammelten Kundendaten sind also wertvolles Material. "Data Mining" heißt die Disziplin, die sich mit Hilfe statistischer Methoden und viel Rechenkapazitäten daran versucht, sinnvolle Informationen daraus zu gewinnen. Gesucht werden Muster und Regelmäßigkeiten im bisherigen Verhalten. Danach werden Zielgruppen für Direktmarketing-Kampagnen zusammengestellt: Bei welchen Kunden könnte sich der nächste Anruf vom Callcenter besonders lohnen?

Wichtige Positionen herausrechnen

Wirtschaftswissenschaftler der TU Berlin und der Wirtschaftsuniversität Wien haben nun eine Methode entwickelt, die für Unternehmen eine willkommene Bereicherung für das Direktmarketing darstellen dürfte. Ihnen ist es gelungen, Meinungsmacher und besonders kreative Köpfe aus einem Online-Netzwerk herauszufiltern. Die Arbeit ist im Dezember-Heft der Fachzeitschrift Journal of Consumer Research veröffentlicht.

Die Forscher griffen auf die Soziale Netzwerkanalyse zurück. Dabei werden Beziehungsmuster zwischen Personen ausgewertet: Wer kommuniziert mit wem und wie häufig? Diese Muster können mathematisch ausgewertet werden, ohne die Inhalte der Kommunikation oder individuelle Eigenschaften zu analysieren. Die Netzwerkanalyse stößt bereits seit einigen Jahren auch bei Geheimdiensten und Strafverfolgern auf Interesse (siehe Findet man in einem größeren Heuhaufen die Nadel besser?). So gelang es zum Beispiel lediglich mit Hilfe öffentlich zugänglicher Informationen, wichtige Positionen in Terrorgruppen zu identifizieren.

Wie die Soziale Netzwerkanalyse die klassische Kundendaten-Auswertung ergänzen kann, beschreibt der amerikanische Marketing-Manager Paul Barsch in seinem Blog am einfachen Beispiel eines Kunden bei einer Telefongesellschaft:

The analysis shows that Mr. Smith is chronically late on his bills ... you also examine that he constantly uses your call center to ask mundane questions ... he likes to switch phones frequently, bringing back product just before the thirty day exchange policy expires. In the initial analysis, it appears Mr. Smith is costing your company a lot of money (...)
By adding call detail records to your data warehouse, and using social network analysis techniques, you now see that Mr. Smith is a "node” in a pretty complex network of customers. In fact ... you also see that Thomas is linked to five very profitable customers.

Typische Beziehungsmuster

Diese "Nodes", Knotenpunkte im Kommunikationsnetz, spielten eine zentrale Rolle im Projekt der Berliner. In Zusammenarbeit mit holländischen Partnern haben sie Beziehungsnetzwerke von Kindern und Jugendlichen untersucht. Die Wissenschaftler befragten zunächst 537 Schüler und Schülerinnen dazu, welche Rolle sie in ihren Klassen und Cliquen einnehmen – wem sie helfen, wie sie Probleme lösen und ob und wie sie Spielzeug verbessern würden. Am Ende wussten die Forscher, wie die Kinder untereinander vernetzt waren und wie viele Kontakte sie jeweils hatten.

Dabei ergaben sich typische Beziehungsmuster: "Kreative sind in solchen Netzwerken meist so positioniert, dass sie zwischen verschiedenartigen Gruppen stehen", sagt Jan Kratzer, Professor für Innovationsmanagement und Entrepreneurship an der TU Berlin und Mitverfasser der Studie. "Stellen wir uns ein Kind vor, das Nachmittags zum Geigenunterricht geht und dann noch im Fußballclub spielt." Es hat dadurch sehr variantenreiche Kontakte und kann die verschiedensten Informationen aufnehmen.

Meinungsmacher seien dagegen in Cliquen eingebettet und hätten keine so große Reichweite wie die Kreativen, so Kratzer. "Meinung wird durch informative, auch normative Einflüsse übertragen. Dafür sind meist direkte Kontakte notwendig."

Die Analysemethode lässt sich relativ leicht auf Online-Netzwerke übertragen: Eine Software könnte bestimmte User-Typen anhand ihrer Standard-Profildaten und ihrer Kontakte aufzuspüren.

Dass die Methode funktioniert, haben die Forscher anhand von Profildaten des holländischen Jugendnetzwerks hyves.nl überprüft. Zwar bedeute eine bestimmte Position im Netzwerk nicht zwingend, dass jemand die gesuchten Eigenschaften tatsächlich aufweist, betont Kratzer. Persönlichkeitsmerkmale würden ebenfalls ebenfalls eine große Rolle spielen. Dennoch steige die Wahrscheinlichkeit erheblich, die interessanten User zu finden.

Kontakte zu Meinungsmachern sind bei Unternehmen besonders begehrt, da klassische Werbung immer weniger ankommt. Wer den Wortführer überzeugt kann darauf hoffen, dass bald auch die ganze Clique das gleiche kauft. Multiplikatoren-Marketing heißt dieser Ansatz, der schon länger zum Standard-Repertoire der Werbetreibenden gehört. Kreative Köpfe werden dagegen händeringend für Trendforschung und Produktentwicklung gesucht. Sie werden auch als "Lead User" bezeichnet.

Data-Mining als neue Form des Marketing

Ob auch andere interessante Typen ermittelt werden können – zum Beispiel Leute, die jeden Trend mitmachen und gerne viel Geld ausgeben? Denkbar, bestätigt Kratzer. Bei den Anwendungsmöglichkeiten ist er allerdings wesentlich zurückhaltender als die Pressestelle seiner Uni. Den Nutzen des automatischen Typen-Scannings sieht Kratzer weniger darin, die großen Netzwerke wie StudiVZ oder Facebook zu durchkämmen. Dagegen sprächen nicht nur Datenschutz-Bestimmungen: Zunächst müssen User für ein bestimmtes Produkt interessieren, bevor sie sich als Multiplikatoren einspannen lassen oder sich gar mit Verbesserungsvorschlägen engagieren.

Kratzer verweist auf unternehmenseigene Online-Plattformen, in denn sich Fans bestimmter Produkte austauschen. "Das ist bei Sportequipment sehr intensiv der Fall, im Bereich Mountainbiking oder Kitesurfing." Es gäbe auch Chirurgen-Diskussionsgruppen, in denen es um die Konzeption von medizinischen Geräten ginge. Viele Produkt-Communities werden von den Unternehmen eigens dafür betrieben, um sie nach Ideen und Verbesserungsvorschlägen zu scannen.

Doch einige werden der Informationsflut in der eigenen Community kaum noch Herr, sagt Kratzer. Lego zum Beispiel betreibe einen Blog, in dem Kinder Ideen für neue Spielzeuge austauschen – dieser umfasse mittlerweile 60.000 Beiträge. Auch Volkswagen habe ähnliche Probleme in einem Blog mit zehntausenden von Usern. "Das ist eine Informationsflut, die bewältigt werden will", so Kratzer. Dabei könnte das automatische Scannen der User-Profile eine Vorauswahl liefern.

Dennoch würden auch die großen Plattformen wie Facebook und MySpace schon jetzt intensiv genutzt – allerdings eher in den USA als in Deutschland. "In den USA ist vieles schon lange erlaubt, bis hin zum inhaltlichen Scannen bestimmter Mails. Dort kann man aus der Masse der Informationen, die aus Online-Plattformen gezogen werden können, viel mehr anfangen", so Kratzer. Das Interesse der Unternehmen an dieser Form von Data-Mining sei jedoch auch hierzulande sehr groß. "Das wird die neue Form des Marketing werden", ist sich Kratzer sicher. "Ich glaube, dass das in Deutschland auch noch kommt, das wird bloß noch seine Zeit dauern."