Parteien wollen "rechtsfreien Raum" schaffen

Mit einer von der rheinland-pfälzischen Landesregierung angestoßenen Bundesratsinitiative sollen Klagen gegen Lärmbelästigung erheblich erschwert werden

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Derzeit berät der Bundesrats-Rechtsausschuss über einen Entschließungsantrag, in dem die Bundesregierung mit relativ genauen Vorgaben zur Änderung einer ganzen Reihe von Gesetzen aufgefordert wird. So soll unter anderem durch eine Ergänzung des § 3 Absatz 1 des Bundesimmissionsschutzgesetzes (BimSchG) festgelegt werden, dass bestimmte Lärmformen nicht als schädliche Umweltwelteinwirkung gelten. Über Änderungen im BGB soll zudem erwirkt werden, dass solche Lärmformen nicht mehr als rechtlich relevante Beeinträchtigungen von Eigentums- oder Mietwohnungen zählen. Und durch Änderungen in der Baunutzungsverordnung (BauNVO) sollen bestimmte lärmintensive Einrichtungen auch in reinen Wohngebieten generell für zulässig erklärt werden.

Eingebracht wurde die Bundesratsinitiative vom SPD-alleinregierten Rheinland-Pfalz, mitgetragen wird sie vom rot-grünen Bremen, vom rot-roten Brandenburg und vom schwarz-gelben Hessen. Damit ist die gesamte politische "Bandbreite" von Roland Koch bis zur Linkspartei abgedeckt. Mehrere andere Bundesländer, darunter Bayern und Hamburg, haben bereits ihre Unterstützung angekündigt. Dies liegt möglicherweise nicht zuletzt daran, dass die Initiatoren in ihrer Öffentlichkeitsarbeit konsequent eine alte Weisheit aus der Werbebranche berücksichtigten: "Mit Kindern kann man Alles verkaufen."

In Baden-Württemberg forderte der Sozialausschuss die Landesregierung auf Antrag der dort eigentlich oppositionellen Grünen einstimmig auf, der Bundesratsinitiative beizutreten. Die Abgeordnete Brigitte Lösch meinte zur Begründung, dass die Rechtsprechung zwar auch ohne solche Gesetzesänderungen "überwiegend" gegen die Anwohner von Kindergärten urteile, man aber schon die Klagemöglichkeit ausschließen wolle.

Allerdings ergingen die davon abweichenden Entscheidungen häufig unter Berücksichtigung aller Besonderheiten und unter intensiver Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Und dabei kann offenbar auch einmal herauskommen, dass die Errichtung einer nicht allzu teuren Lärmschutzbarriere ein durchaus geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel sein kann, um eine allzu starke gesundheitliche Beeinträchtigung von Anwohnern zu vermeiden.

Wenn die allgemeine Handlungsfreiheit gegenüber der eigentlich wichtigeren körperlichen Unversehrtheit zu unverhältnismäßig bevorzugt wird, dann wären nach der Initiative gestaltete Gesetzesänderungen möglicherweise nicht grundgesetzkonform. In dem Entschließungsantrag versuchte man offenbar durch Formulierungen wie "in der Regel" einer allzu offensichtlichen Verfassungswidrigkeit vorzubeugen. An anderer Stelle heißt es dagegen in forscher Vorwegnahme einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, dass die zukünftig gesondert zu behandelnden Emissionen als "Ausdruck natürlicher Lebensäußerung [...] grundsätzlich sozialadäquat" seien.

Muezzinruf durch die Hintertür

Mit den Gesetzesänderungen, so die rheinland-pfälzische Landesregierung, "käme die Bundesregierung auch einer Ankündigung im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP nach." Dort stehen nämlich die beiden Sätze: "Kinderlärm darf keinen Anlass für gerichtliche Auseinandersetzungen geben. Wir werden die Gesetzeslage entsprechend ändern."

In den Pressemitteilungen zur Bundesratsinitiative tauchte als Grund für den angeblichen "Handlungsbedarf" fast ausschließlich das Beispiel des Kindergartens auf, gegen den Anwohner klagen würden. Fraglich ist jedoch, ob dieses Beispiel tatsächlich so praxisrelevant ist, oder ob es vielmehr um andere Fälle geht, gegen die zukünftig Klagen verhindert werden. Im Entschließungsantrag selbst ist nur von "Einzelfällen" die Rede, in denen es in der Vergangenheit zur Schließung von Einrichtungen für Kinder kam. Und bisher gibt es anscheinend keine Pläne, den Anwendungsbereich der Gesetzesänderungen auf jene Altersgruppen zu beschränken, für die Schaukeln und Rutschen auf Spielplätzen eigentlich gedacht sind. Dieses Fehlen von Altersgrenzen und Uhrzeiten hätte zur Folge, dass womöglich weniger Klagen gegen Kindergärten als gegen Jugendzentren verhindert würden, für deren Veranstaltungen bis tief in die Nacht man dann praktisch einen "rechtsfreien Raum" geschaffen hätte.

Tatsächlich zeigt sich schon in der Benennung der Bundesrats-Drucksache 831/09, dass man dies sogar bewusst in Kauf nimmt: Hier ist nämlich von "Geräuschemissionen von Kinder- und Jugendeinrichtungen" die Rede und im Text des Entschließungsantrages werden die Kindertagesstätten, um die es den Pressemitteilungen nach angeblich ausschließlich geht, mit dem Zusatz "z.B." versehen.

Auf konkrete Anfrage räumt auch die rheinland-pfälzische Landesregierung ein, dass in dem Entschließungseintrag Einrichtungen für Jugendliche "mit erfasst werden". Hinsichtlich Fragen zu Klagen gegen nächtlichen Lärm weicht man aus und meint, man werde Jugendlichen "klarmachen können, dass bestimmte Tätigkeiten nachts im Freien [...] nicht erlaubt sind, wenn Dritte dadurch gestört werden können." Im Umkehrschluss heißt dies, dass man den Schutz vor solchem Lärm tatsächlich wesentlich einschränken will und auf eine Vernunft hofft, die es offenbar nicht gibt. Würde es sie geben, dann gäbe es auch keine Klagen gegen Spielplätze, die zu später Stunde für lautstarke Trinkgelage genutzt werden. Kläger konnten deshalb zum Beispiel in Berlin erwirken, dass solche Einrichtungen mit einem Zaun versehen und nachts abgesperrt werden. Wird die Bundesratsinitiative ohne weitere Beschränkungen umgesetzt, dann wäre solchen Notbehelfen künftig ein Riegel vorgeschoben.

Darüber hinaus eröffnen die geplanten Gesetzesänderungen auch neue Missbrauchsmöglichkeiten: Religiöse Einrichtungen könnten auf die Idee kommen, eine sonst als unangemessene Belästigung eingestufte akustische Emission als Jugendveranstaltung zu tarnen und so beispielsweise einen Muezzinruf durch die Hintertür durchsetzen. Allerdings sind solche Effekte keinesfalls auf Minarettrufer begrenzt: In einer protestantischen Kirche in München etwa, entwickelte sich der Pfarrhof in den letzten Jahren zunehmend zu einem Grillgelände für Jugendliche, die dort von April bis Oktober auch wochentags sturzbetrunken auf dem Kirchdach herumturnen und die Nachbarschaft wach halten. Die Änderungen im Mietrecht bergen ebenfalls erhebliches Missbrauchspotential: Kommen sie wie geplant, dann dürfen RTL-Eltern problemlos bis zum Anschlag aufgedrehte Fernseher und Ähnliches auf ihre pubertierenden Sprösslinge schieben, die auf diese Weise ganze Häuser legal "entmieten" könnten.