Formen von Unfreiheit

Interview mit dem Althistoriker Egon Flaig über alte und neue Sklaverei

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Gleichwohl der Sklave seit der Antike als eine Art sprachbegabtes Werkzeug definiert wird und ausschließlich für seinen Herren zu schaffen scheint, vollzieht sich die Begriffsbestimmung der Sklaverei in der Sphäre des Rechts und nicht in der Arbeit selbst. Die Sklaven sind weniger unter eine bestimmte Art der Tätigkeit und also unter eine Klasse oder Schicht subsummierbar als unter einen Status der totalen Rechtslosigkeit. Diese Erniedrigung wird vom Sklaven so stark empfunden, dass er zum Teil oder ganz die Sicht des Herren über seine eigene Minderwertigkeit adaptiert und deswegen Selbstentfremdung impliziert. So nimmt es kaum Wunder dass geschichtlich Sklavenaufstände eher eine Ausnahme als die Regel sind. Dabei ist die Sklaverei, wie Professor Egon Flaig, der Inhaber des Lehrstuhls für Alte Geschichte an der Universität Rostock mit seiner neuesten Publikation "Weltgeschichte der Sklaverei" zeigt, noch längst kein überwundenes historisches Phänomen.

Herr Professor Flaig - was sind die Allgemeinmerkmale von Sklaverei?

Egon Flaig: Ordnet man die Typen von persönlicher Unfreiheit auf einer Skala an, dann befindet sich die Sklaverei als Extrem an jenem Ende, wo die Unfreiheit quasi total ist. Doch der extreme Typ ist nicht unbedingt der schlimmste. Die schlimmsten Formen von Unfreiheit bemessen sich am Grad des Leidens der Betroffenen. Das Leiden in den Lagersystemen des 20. Jahrhunderts dürfte - für eine hohe Quote der Insassen - bei weitem jenes übertroffen haben, dem Sklaven in den meisten "Branchen" ausgesetzt waren. Daher ist Zwangsprostitution in der Regel schlimmer als Sklaverei. Es ist also kein Wunder, dass manche darüber empört sind, wenn Wissenschaftler streng unterscheiden und Zwangsprostitution nicht zur Sklaverei rechnen. Aber eine historische Soziologie der Unfreiheit darf nicht vom Ausmaß des Leidens ausgehen, sondern von den objektiven sozialen Verhältnissen.

"In der Sklaverei ist der Mensch keine rechtliche Person"

Sklaverei ist eine Institution. Zwangsprostitution ist keine. Wenn eine Prostituierte entflieht und sich ins Polizeipräsidium rettet, dann wird die Polizei keinesfalls die Prostituierte in Ketten legen und sie ihrem Peiniger zurückbringen. Im Gegenteil: Sie wird den Peiniger jagen. In der Sklaverei ist es genau umgekehrt.

Damit komme ich zu Ihrer Frage. Zwar ist auch die Leibeigenschaft eine Institution gewesen und an manchen Stellen der Erde auch geblieben. Aber die Unfreiheit ist hier keine extreme: Der Leibeigene hat eine Familie im rechtlichen Sinne, seine Kinder gehören ihm; er hat anerkanntes Eigentum und er gilt als Person mit Rechten.

In der Sklaverei hingegen ist der Mensch keine rechtliche Person mehr. Sowohl das muslimische als auch das römische Recht bezeichnen den Sklaven als einen "rechtlich Toten". Er hat überhaupt keine Rechte (abgesehen von Schutzbestimmungen - die sein Leben oder die Feiertagsarbeit betreffen - und das sind keine "Rechte"), keine Familie; seine Kinder gehören nicht ihm, seine Ehe ist immer nur eine Pseudo-Ehe, die der Herr jederzeit auseinanderreißen kann, kein Eigentum (wird ihm Besitz überlassen, dann bleibt dieser immer im Eigentum des Herrn). Er ist verfügbar und verkaufbar.

Die deutliche Unterscheidung im Artikel 4 der Menschenrechte hat einen guten Sinn: Wenn die Sklaverei zurückkehrt (nämlich als institutionalisierte Unfreiheit wieder möglich wird), dann sind alle anderen Formen von Unfreiheit nicht mehr zu verhindern.

"Abolition war der Kulturbruch schlechthin"

Die Konsequenz ist klar: Es ist unsinnig, jegliches Verhältnis von Unfreiheit als Sklaverei zu bezeichnen, sosehr uns die Betroffenen auch leid tun mögen; und es ist amnestische Barbarei (Vergessensbarbarei), so zu tun, als habe die Abschaffung der Sklaverei nicht stattgefunden. Weder historisch noch soziologisch trifft es zu, dass die Sklaverei sich in "neuen Formen" fortsetze, will sagen: Zwangsarbeit, Zwangsprostitution, Arbeitsemigration usw. Wer das behauptet, weiß nicht, wovon er redet. Erst wenn man die diversen Formen von Unfreiheit in der Geschichte der letzten 3000 Jahre berücksichtigt, wird überhaupt erkennbar, was für ein ungeheurer Einschnitt im 19. Jahrhundert global erfolgte. Die Abolition war ein "Kulturbruch", ich würde sagen: Der Kulturbruch schlechthin. Mit enormem militärischen und politischem Einsatz unterdrückten zwei, drei Kolonialmächte die institutionalisierte Unfreiheit in ihrer extremen Form und brachten sie beinahe gänzlich zum Verschwinden. Nur in Teilen der islamischen Welt hat sie sich gehalten.

"Wir sprechen mit den Vokabeln der Abolitionisten"

Es ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit, dass vor allem die Briten, aber auch die Franzosen und schließlich auch die Amerikaner und sogar die Deutschen und Holländer im Laufe von 60-90 Jahren die Sklaverei weltweit unterdrückten. Die anderen Formen von Unfreiheit und auch die neuen sind überhaupt nur bekämpfbar, weil die Sklaverei selber - fast überall - verboten ist. Wäre dem nicht so, hätten wir keine Chance, die anderen Formen der Unfreiheit zu bekämpfen. Noch mehr: Wir würden gar nicht erkennen, dass die anderen Formen ein Problem sind. Wenn Sklaverei existiert, dann verschieben sich fundamental und weitreichend alle Begriffe von zwischenmenschlicher Gerechtigkeit. Warum sind wir denn empört über Zwangsprostitution, Schuldknechtschaft, Kinderverkauf? All das sind soziale Praktiken, für die sich immer Rechtfertigungen finden lassen - nämlich aus "kultureller Besonderheit". Was gibt uns also das Recht, uns empört zu zeigen? Das ist überhaupt nicht natürlich. Das ist kulturell bedingt; daher historisch erworben.

Einzig und allein die moralischen Maßstäbe der Abolitionisten des 19. Jahrhundert geben uns das Recht zur Empörung. Wir sprechen mit ihren Vokabeln, wir denken in ihren Begriffen - auch wenn es uns nicht bewusst ist. Aber das war einmal sehr bewusst. Denn alle Verdinglichung ist - wie Adorno sagt - ein Vergessen.

Welche Formen von Sklaverei existieren noch in der Gegenwart und wo?

Egon Flaig: Der Artikel 4 der Menschenrechte unterscheidet zwischen Sklaverei und "sklaverei-ähnlichen Verhältnissen". Zu Recht. Unter den vielfältigen Typen von persönlicher Unfreiheit ist die Sklaverei die extremste. Die anderen Formen sind deutlich von ihm zu sondern. Ich zähle die am weitesten verbreiteten Formen auf:

  1. Schuldknechtschaft - eventuell über mehrere Generationen - existiert in mehreren Regionen Südostasiens, des Vorderen Orients und vor allem in Indien.
  2. Zwangsarbeit, gedeckt durch Pseudoverträge, gibt es einigen arabischen Ländern; sie hat in Brasilien in großem Umfang existiert, scheint indes unter der Regierung Lula am Verschwinden zu sein.
  3. Verschwunden sind die Lagersysteme der Diktaturen des 20. Jahrhunderts.
  4. Zwangsprostitution nimmt wieder zu, auch in Westeuropa.
  5. Zwangsheirat betrifft wahrscheinlich mehrere hunderttausend muslimische Frauen in Deutschland. Frauen, die ohne und wider ihren Willen verheiratet werden, befinden sich lebenslänglich in Unfreiheit. Wer das leugnet steht nicht auf dem Boden des Grundgesetzes und pfeift auf die Menschenrechte. Alle diese Ehen sind nach Artikel 4 der Menschenrechte null und nichtig. Die Bundesrepublik Deutschland macht sich täglich mitschuldig, indem sie diese Form der Unfreiheit auf ihrem Territorium duldet und sogar noch durch Sozialhilfe alimentiert.
  6. Formen von Leibeigenschaft existieren in einigen Ländern Südostasiens, in Indien und im Vorderen Orient.
  7. Die Praxis des Kinderverkaufs, wahrscheinlich seit Jahrtausenden fortdauernd, vor allem in Südostasien, erzeugt unablässig sklavenähnliche Verhältnisse, die sehr schwer zu kontrollieren und noch schwerer zu bekämpfen sind (stellen Sie sich einmal vor, man würde ganze Regionen von Thailand oder Birma, - oder auch von Nordafrika -, unter internationale Kontrolle stellen!).
  8. Eigentliche Sklaverei existiert in Mauretanien, im Jemen und im Sudan. In manchen Städten Europas, insbesondere in London, wird eine besondere Form "verborgener" Sklaverei eingeschleust, überwiegend von reichen vorderasiatischen, in der Regel muslimischen Familien, die ihre - oft südostasiatischen - Dienstboten in extremer Unfreiheit halten.

Auch in der Bundesrepublik gibt es z.B. für Hartz IV-Empfänger Tätigkeiten, die sie annehmen müssen, um Leistungen beziehen zu können. Kann man das als einen sklavenähnlicher Zustand bezeichnen?

Egon Flaig: Ich muss mich sehr wundern über diese Frage. In welcher Welt leben wir? Welche Annnahmen oder Vorurteile sind nötig, um eine solche Frage überhaupt stellen zu können? Ich werde antworten auf zwei Ebenen: Zunächst gehe ich ein auf die sozialen Pflichten; dann gehe ich ein auf die Frage der Vergleichbarkeit differenter historischer Situationen.

"Rechte implizieren Pflichten, andernfalls werden sie zu Privilegien"

Zum ersten. Meine Gegenfrage lautet: Warum soll die arbeitende Bevölkerung überhaupt die Hartz-IV-Empfänger mit ihren Beiträgen versorgen? Ist es normal, dass die Arbeitenden für die Nicht-Arbeitenden aufkommen sollen? Und zwar auch dann, wenn diese Nicht-Arbeitenden die Chance haben zu arbeiten, sich aber weigern, die angebotene Arbeit anzunehmen? Aufrechtzuerhalten ist ein solcher Zustand ohnehin nicht - er würde jede Gesellschaft in den Ruin treiben. Zwar halte ich daran fest, dass es ein Recht auf Arbeit geben muss. Aber es gibt kein Recht auf die von mir gewünschte Arbeit. Die Zeiten sind längst vorbei, in denen wir noch träumen konnten, jeder könne den Beruf ausüben, der ihm behagt. Es hat nie eine Gesellschaft gegeben, die einen solchen paradiesischen Zustand garantierte - und es wird niemals eine solche geben - das liegt im Begriff der Gesellschaft selber.

"Der Vergleich des arbeitsunwilligen Hartz-IV-Empfängers mit dem Sklaven ist legitim und heilsam"

Wenn ein Nicht-Arbeitender sich weigert, eine Arbeit anzunehmen, weil sie ihm "nicht passt", aber gleichzeitig fordert, dass die Arbeitenden für ihn aufkommen, dann tut er ein Doppeltes: Erstens wird er zum Ausbeuter - er lebt auf Kosten anderer - ähnlich wie ein Sklavenhalter; zweitens gibt er die Verantwortung für seine soziale Existenz ab und bürdet sie der Gesellschaft auf. Gerechtigkeit verlangt, dass jeder für sein Brot und seine Wohnung auch eine Gegenleistung zu erbringen hat; diese besteht in einer Gesellschaft vor allem aus seiner Arbeit - sofern er nicht physisch oder geistig behindert ist. Rechte implizieren Pflichten, andernfalls werden sie zu Privilegien. Wer das nicht akzeptiert, beansprucht für sich das Recht, von anderen versorgt zu werden - im Klartext: dass andere für ihn arbeiten. Ein solcher Anspruch entspringt entweder der Mentalität eines Kleinkindes oder derjenigen eines Kriminellen - oder soll ich hinzufügen: Derjenigen eines Sklavenhalters? Der Sozialstaat ist eine enorme historische Errungenschaft, und wir sind gehalten, ihn zu verteidigen. Darum müssen wir ihn auch vor Missbrauch schützen. Vor allem müssen wir verhindern, dass er sich in eine Versorgungsanstalt verwandelt, welche die Verantwortungslosigkeit fördert - mit fatalen Konsequenzen für die individuellen Fähigkeiten und die sozialen Kompetenzen der Fürsorge-Empfänger. Das Ende wäre eine sozioenergetische Entropie: Ein signifikanter Teil der Staatsbürger würde in alimentierter Unmündigkeit gehalten.

Der Vergleich des arbeitsunwilligen Hartz-IV-Empfängers mit dem Sklaven ist legitim und heilsam. Durch Vergleiche lernen wir unterscheiden, durch Unterscheiden kommen wir zu Erkenntnissen. Damit der Vergleich methodisch korrekt sei, frage ich nun Sie:

  1. Wurde je Hartz-IV Empfängern - als solchen - der Pass entzogen, die Staatsbürgerschaft aberkannt und wurden sie in den Zustand der völligen Rechtlosigkeit versetzt?
  2. Wo wurde ihr Vermögen eingezogen?
  3. Wo wurden ihre Ehen aufgelöst und sämtliche Verwandschaftsverhältnisse annulliert?
  4. Wo wurden ihnen die Kinder weggenommen und verkauft?
  5. Und angenommen, man inhaftierte sämtliche arbeitsunwilligen Hartz-IV-Empfänger, wären sie dann Sklaven? Sogar Gefängnis-Insassen haben Rechte, auf die sie sich berufen können; sie sind Rechtspersonen, obwohl sie für eine bestimmte Zeit bestimmte Rechte nicht ausüben können.
  6. Können Sie mir die Hartz-IV-Empfänger zeigen, die man in Kolonnen die Straßen entlang treibt, unterm Peitschenknallen von Aufsehern?
  7. Können Sie mir sagen, wo man sie öffentlich auf den Plätzen aufstellt, um sie - vor aller Augen - zu peitschen, ihnen ein Brandmal auf die Stirn zu drücken, ihnen Gliedmaßen abzuschneiden, oder sie zu Tode zu foltern?

"Kinderarbeit in der Frühzeit der Industrialisierung für die damaligen Eltern nicht unbedingt ein Skandal"

Warum diese hundsgemeinen Fragen? Weil mir daran liegt, dass wir in unseren Köpfen nicht Müll haben, sondern Begriffe. Müll im Kopf reicht vollkommen, um sich zu entrüsten und um mal ordentlich auf die Pauke zu hauen. Müll im Kopf taugt leider nicht, um uns über soziale Verhältnisse rational zu verständigen. Dazu bedarf es klarer Begriffe. Und - leider muss ich das sagen - eines Minimums an historischem Wissen. Wer von Sklaverei nichts weiß, kann sich auch nicht gegen sie engagieren.

Was sind die Unterschiede zwischen Sklaverei und Zwangs- oder Kinderarbeit, Vertragsknechtschaft oder erzwungener Prostitution?

Egon Flaig: Vorsicht! Es geht um Formen von Unfreiheit! Kinderarbeit ist an sich keine Form von Unfreiheit. Mehrere tausend Jahre lang blieben die allermeisten Familienbetriebe - ob bäuerlich oder handwerklich - auf die Mitarbeit der Kinder angewiesen. Diese Kinder waren Mitglieder ihrer Familie; sie waren - insofern sie z. B. nicht die Zeit hatten eine Schule zu besuchen - benachteiligt. Aber sie waren persönlich frei, unterstanden lediglich der väterlichen, mütterlichen oder sonstigen verwandtschaftlichen Autorität. Als Erwachsene waren sie so frei wie andere auch. Problematisch wird es, wenn Kinder außerhalb der Familie arbeiten. Nehmen wir die berüchtigte Kinderarbeit in der Frühzeit der Industrialisierung. Für uns ein Skandal. Für die damaligen Eltern nicht unbedingt: Genauso wie ihre Kinder ihnen in der Schusterei geholfen hatten (solange sie noch selbständige Handwerker waren), so arbeiteten sie nun halt in derselben Fabrik, in der auch Vater und Mutter arbeiteten. Aber selbstverständlich ist das soziale Verhältnis ein völlig anderes. Trotzdem fehlt das Moment der persönlichen Unfreiheit. Die Kinder können den Arbeitgeber wechseln. Der Arbeitgeber ist eben kein Herr: Er verfügt über die Arbeitskraft, aber er verfügt nicht über den arbeitenden Menschen.

"Wer glaubt, die Menschenrechte seien eine westliche Erfindung, kann gegen Sklaverei nichts tun"

Nehmen wir den gar nicht so seltenen marginalen Fall: Nicht einmal der Arbeitszwang für herumstreunende, kriminelle und aufgegriffene Kinder (in den "Arbeitshäusern") machte aus ihnen Sklaven. Denn sie behielten ihren Status als britische Bürger, den sie mit der Volljährigkeit antraten; sie behielten ihre Verwandtschaftsverhältnisse, ihren Namen, ihr Eigentum. Sie unterstanden keinem "Herrn", sondern einer Behörde (ob kommunal, kirchlich oder sonst wie karitativ ist nebensächlich), die legalerweise nur in definierten Grenzen über die "Insassen" verfügen konnte. Die Einschränkung ihrer Freiheit war sehr sektoriell und vorübergehend - ein Sonderfall von zeitweiliger Unfreiheit.

Damit kommen wir zu den Fällen, die Sie mit Ihrer Frage wahrscheinlich anzielen: Kinder, die nicht im familiären Rahmen arbeiten und die nicht als "Arbeiter" behandelt werden, denen also verwehrt wird, das Arbeitsverhältnis zu kündigen. Die meisten Fälle - wahrscheinlich viele Millionen - finden sich in Indien. Sehr häufig ist eine Form von Schuldknechtschaft (Kinder arbeiten die Schulden ihrer Eltern ab). Diese Form von Unfreiheit ist durch den Artikel 4 verboten, es ist ein "sklavenähnlicher" Zustand. Bezeichnenderweise unternehmen die lokalen Behörden nichts oder wenig - d.h. sie behandeln dieses Verhältnis als eine traditionale soziale Institution. Kaum nähern sich jedoch eine westliche Kamera und zwei Reporter, kommt Panik auf. Das heißt: Die Behörden wissen sehr wohl, dass das Verhältnis illegal ist; und der "Arbeitgeber" wenn man den Herrn über die Schuldknechte mal so nennen will, weiß es auch. Diese Situation indes, wo die Behörden verlogen handeln und der "Herr" regelmäßig die Sache "verbergen" muss, liefert die Chance, um durch permanenten Druck, die "Arbeitgeber"-"Herren" zu zwingen, ja sie zu kriminalisieren, bis dieser Missstand aufhört. Machen wir uns nichts vor: Wer die Menschenrechte ablehnt, kommt an dieser Stelle nicht weiter. Wer glaubt, die Menschenrechte seien eine westliche Erfindung - eine böse zumal, um die sogenannte dritte Welt unter imperialistischer, moralischer Hegemonie zu halten, wer das glaubt, kann gegen Sklaverei nichts tun. Daher die Hilflosigkeit der sogenannten Linken in der Darfur-Frage und im südsudanesischen Bürgerkrieg. Die Hunderttausende, die dort versklavt wurden, dürfen eigentlich nicht befreit werden. Denn Sklaverei kann ja gar kein Verbrechen sein, wenn die Kultur vor Ort sie praktiziert. Sklaverei ist in der Tat nur ein Verbrechen, wenn man den Standpunkt der westlichen Abolitionisten - und daher der Menschenrechte - einnimmt.

Zwangsarbeit? Auch hier: Vorsicht. Sie ist per se keine Sklaverei. Sie kann aber zur Sklaverei führen. Zur Zwangsarbeit verurteilte Sträflinge sind an sich keine Sklaven. Verbeispielen wir das Problem an Hand der Galeerensträflinge (Venedigs oder Genuas oder welcher mittelmeerischen Stadt der frühen Neuzeit auch immer). Wenn der verurteilte Sträfling nach 5 - 10 Jahren nicht mehr Galeere rudern muss, wird man ihm a) seinen Bürgerstatus belassen, b) sein Eigentum belassen, c) seine Familienbande nicht annullieren, d) seine Vormundschaft über seine Kinder gelten lassen, e) sein Testament rechtskräftig anerkennen, f) er muss zwar Galeere rudern, (und erleidet gegebenenfalls Körperstrafen) aber er ist nicht verfügbar, er kann nicht verkauft oder vermietet werden. Ein solcher Sträfling ist offensichtlich eine Rechtsperson.

Intrusive Sklaverei

Doch in China und Russland lief es über Jahrhunderte anders: Der (lebenslänglich) Verurteilte verlor seinen Namen, seine Ehe wurde annulliert, seine Familienbande für nichtig erklärt; das heißt, diese Sträflinge hörten auf, als Rechtspersonen zu existieren. Obwohl sie eigentlich Staatssklaven waren und über sie nicht privat verfügt werden durfte, konnten die Kaiser gar nicht verhindern, dass solche Menschen andauernd vermietet und zu privaten Zwecken benutzt wurden, ja sogar verkauft wurden. Das ist logisch. Ihre extreme Rechtlosigkeit begünstigte diese Verwendung. Orlando Patterson spricht hier von "intrusiver Sklaverei" - zu Recht.

Vielleicht ist der aussagekräftigste Unterschied zwischen den Gulag-Systemen und den KZ-Systemen des 20. Jahrhunderts einerseits und der Staatssklaverei des alten Russland und China anderseits genau hier zu finden: Im Lager behält der Staat die Verfügung über den völlig entrechteten Häftling und verhindert, dass private "Zweckentfremdungen" stattfinden.

"In Europa ist die Zwangsprostituierte keine Sklavin, im Jemen ist die Zwangsprostituierte eine Sklavin"

Vertragsknechtschaft ist eine harte Form von Unfreiheit aber leichter zu bekämpfen als Schuldknechtschaft. Denn die Betroffenen sind nicht auf Grund des Vertrages in Knechtschaft. Mit dem Vertrag wurden sie in eine Gegend gelockt, wo sie fremd, abgeschnitten und ohne Freunde und Familie sind, wo ihnen die Behörden nicht helfen (oder nicht helfen wollen). Der Arbeitgeber hält sich aber nicht an den Vertrag, sondern behandelt nun den Vertragsarbeiter so, als sei dieser sein Häftling. In Brasilien hat es weniger Jahre bedurft - aber eines starken Engagements von Presse und freien Gewerkschaften und eines spektakulären Regierungswechsels -, um die Behörden zu zwingen, vor Ort zu kontrollieren, ob die Verträge eingehalten werden. Und natürlich stellte sich dann schnell heraus, dass die Arbeitgeber entweder illegale Verträge ausgestellt hatten oder die Verträge gar nicht einhielten. Schuldknechtschaft zu beseitigen ist viel schwieriger. Denn der Gläubiger ist - nach Ansicht der lokalen Behörden - im Recht, der Schuldner im Unrecht.

Ist Zwangsprostitution Sklaverei? Das hängt davon ab, ob Sklaverei als soziale Institution existiert oder nicht. Anders gesagt: In Europa ist die Zwangsprostituierte keine Sklavin, obwohl sie eine der schlimmsten Formen von Unfreiheit erleidet. Im Jemen ist die Zwangsprostituierte eine Sklavin, ganz einfach, weil man Sklavinnen zur Prostitution hält. Der Unterschied ist - vom sozialen Verhältnis aus gesehen - riesig.

Können Sie für unsere Leser den historischen Werdegang der Sklaverei kurz skizzieren?

Egon Flaig: Es gibt keinen "historischen Werdegang". Denn Sklaverei hat es in allen Hochkulturen gegeben, und in einer stattlichen Anzahl sogenannter "primitiver Kulturen". Sie speist sich aus zwei Quellen: a) aus dem Import von gewaltsam versklavten Menschen, in der Regel Gefangene von Kriegen und Überfällen; Orlando Patterson nennt das "intrusive Sklaverei" (der Sklave ist ein Fremder), b) aus der eigenen Bevölkerung, nämlich durch soziales "Herausfallen" - Kinderverkauf, Kindesaussetzung, Verkauf von verschuldeten Menschen, gerichtliche Verurteilung; Patterson nennt dies "extrusive Sklaverei" (der Versklavte wird in diesem Falle zum "Fremden" gemacht). Extrusive Sklaverei herrschte in Ostasien, v. a. China, Korea, und in Russland; intrusive herrschte vor allem in Afrika, in den präkolumbianischen Hochkulturen, bei Griechen und Römern bis zur Kaiserzeit, in der gesamten islamischen Welt und in der amerikanischen (Brasilien, Karibik, Süden der USA) Sklaverei.

"Eine 'antiimperialistische' Ideologie hat bewirkt, dass eine ganze Generation von Nichtwissern herangewachsen ist"

Sie extrapolieren in ihrem Buch die islamische Sklaverei. Relativieren sie damit nicht die christliche Sklaverei, die Sklaverei in den europäischen Kolonien und die amerikanische Sklaverei?

Egon Flaig: Man extrapoliert, um eine Lücke zwischen zwei mathematischen Werten zu schließen. Ich extrapoliere nichts. Sondern ich tue das, was Historiker bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts machten, falls sie sich mit Sklaverei in globalem Maßstab beschäftigten: Sie bezogen das größte sklavistische System selbstverständlich in ihre Überlegungen ein. Unsere französischen und teilweise die amerikanischen Kollegen tun das immer noch. Die Deutschen hatten nur kurzen Kontakt mit Sklaverei in Afrika; das Thema interessiert in Deutschland eigentlich nur wenige. Das heißt, die Deutschen sind in dieser Hinsicht unterinformiert. Wenn sich jemand damit beschäftigt, dann sind es Althistoriker oder aber Historiker, die eigentlich "Geschichte des Kolonialismus" betreiben - wobei unter "Kolonialismus" immer bloß der sogenannte europäische verstanden wird. Unter diesen Bedingungen ist freilich eine Lücke vorhanden, nämlich eine Wissenslücke - und die ist riesig. Eine "antiimperialistische" Ideologie hat bewirkt, dass eine ganze Generation von Nichtwissern herangewachsen ist, die vor historischen Tatsachen völlig ratlos steht. In diesem Fall hilft Hegels Wort "umso schlimmer für die Tatsachen!" - ignorieren wir sie einfach.

"Mein Handwerk verlangt, dass ich relativiere"

Ob ich die christliche Sklaverei relativiere? Die Frage ist doppelt seltsam. Erstens konnte ich eine "christliche" Sklaverei nicht ausmachen: Keine christliche Kirche hat je ein umfassendes Sklavengesetz erlassen - ganz im Gegensatz zum Sklavenrecht der Muslime, welches auf Fatwas beruht, also auf religiösen Gutachten. Sie meinen wohl "transatlantische" Sklaverei, also Sklaverei - praktiziert von christlichen Mächten? Dann müssten Sie Ihre Frage an diejenigen Historiker richten, die sich mit der transatlantischen Sklaverei beschäftigen! Etwa so: "Relativieren Sie nicht die islamische Sklaverei, wenn Sie sich mit einem System beschäftigen, das - abgesehen von Brasilien - etwa 250 Jahre bestand, während das islamische 1300 Jahre dauerte?"

Zweitens. Wenn Sie fragen: Relativieren Sie? Dann kann die Antwort nur lauten: "Ja selbstverständlich!" Mein Handwerk verlangt, dass ich relativiere. Ohne Relativieren kein wissenschaftliches Arbeiten. Relativieren heißt: ich muss alles in Beziehung setzen. Denn nichts hienieden ist absolut (wir könnten es mal versuchen: Sie nennen mir etwas "Absolutes" - und ich zeige Ihnen, dass auch das Absolute immer in Relation steht, also relativ ist). Wenn ich nicht die unterschiedlichsten Phänomene miteinander in Beziehung setzte, könnte ich keine Verhältnisse zwischen ihnen entdecken. Und wenn ich nicht unentwegt vergliche, könnte ich gar keine Differenzen wahrnehmen. Ich muss also tun, was Orlando Patterson oder Claude Meillassoux, die Meister des politisch-anthropologischen Erforschens der Sklaverei, so brillant vorgemacht haben: Die einzelnen Sklaverei-Typen miteinander vergleichen, die historischen Sklaverei-Systeme so genau als möglich in Komponenten zerlegen, die untereinander vergleichbar sind.

Sie verwenden das Wort "Relativieren" so, als hieße es "Verharmlosen". Worte haben präzise Bedeutungen. Wenn wir zur Bierflasche "Waschmaschine" sagen, dann zerstören wir die Basis unserer Kommunikation - und wir zerstören die Basis unserer Intelligenz. Denn Intelligenz bemisst sich an der Fähigkeit, Differenzen wahrzunehmen und sie zu verbegrifflichen. Relativieren hat überhaupt nichts zu tun mit "leugnen" oder "verharmlosen". Das Gegenteil ist richtig. Wenn ich Lagersysteme miteinander vergleiche, dann relativiere ich das Funktionieren. Das scheint eine kühle Operation zu sein, die sich an "objektiven" Gegebenheiten orientiert. Ganz richtig. Aber gerade deswegen begreife ich das subjektiv erfahrene Leiden besser. Warum besser? Weil ich nicht kurzschließe - wie das Mitleid es tut (und Mitleid ist eine ungemein wichtige Gabe des Menschen) -, sondern Erfahrungen von den Situationen her konstruiere. Ich kann sie ja bloß konstruieren. Machen kann ich sie ja nicht. Und ich muss doch dafür dankbar sein, dass ich sie nicht machen muss.

Teil 2 des Interviews: Sklaverei stirbt niemals von selbst ab