Kein Platz im Hotel Amerika

Hotel Amerika

Über Maria Leitner, die Pionierin der Undercover-Reportage

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Der Günter Wallraff der Weimarer Republik war eine Frau. Maria Leitner wurde zweimal ins Exil gezwungen, berichtete unter Lebensgefahr aus Nazi-Deutschland und verschwand 1941 auf der Flucht. Eine Erinnerung.

Haben Bücher auch im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit noch eine Aura? Manche ganz bestimmt, oder zumindest dann, wenn man um ihre Geschichte weiß. Die Erstausgabe von Hotel Amerika wirkt recht unscheinbar. 314 in großer Schrift bedruckte Seiten zwischen hellblauen Buchdeckeln, auf denen steht, dass es sich um einen "Reportage-Roman" handelt. Sehr aufwendig hergestellt wurde das Buch nicht. Man merkt ihm an, dass der Neue Deutsche Verlag, bei dem es 1930 in einer Auflage von 6000 Exemplaren erschien, auf die Kosten achtete - aus wirtschaftlicher Notwendigkeit und auch, weil es sich für einen Verlag, dessen wichtigste Zielgruppen die Arbeiter, die Angestellten und die Arbeitslosen waren, nicht gehört hätte, mitten in der Weltwirtschaftskrise teure Prachtbände auf den Markt zu bringen.

Der deutsche Geist

Willi Münzenberg, der Verleger, war damals noch ein überzeugter Kommunist. Er war Chef des zweitgrößten Medienkonzerns der Weimarer Republik (der größte war die Unternehmensgruppe des deutschnationalen Alfred Hugenberg, eines Steigbügelhalters von Adolf Hitler). Der Kinofan Münzenberg gründete den Prometheus Verleih, der sowjetische Filme wie Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin in die deutschen Kinos brachte, produzierte Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929) und war an der Herstellung eines anderen deutschen Filmklassikers beteiligt, der Gegenstand des größten Zensurskandals in der sterbenden Republik war und den man leider auch nur sehr selten zu sehen bekommt, weil ARD und ZDF immer Unterhaltungsfilme aus dem Dritten Reich zeigen müssen: Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? (1932).

Münzenberg versuchte, die Frage im Sinne der Arbeiter zu beantworten. Seine Zeitungen und Verlage bezogen eindeutig Stellung gegen Nationalsozialismus und Führerkult. Wenn ein Roman im Neuen Deutschen Verlag erschien, konnte man das bereits als eine politische Aussage verstehen. Den Schutzumschlag zu Hotel Amerika, steht im Impressum der Erstausgabe, entwarf John Heartfield, der Meister der Photomontage und auch ein entschlossener Nazi-Gegner. Das Buch ist extrem selten geworden. Wenn man es überhaupt noch findet, dann nur ohne Umschlag, im mehr oder weniger vergilbten Blau des Leineneinbandes. Das hat mit einem sehr traurigen Tag der deutschen Geschichte zu tun.

Am 10. Mai 1933 lud die gut organisierte, von einem Vertreter des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes geführte "Deutsche Studentenschaft" in fast jeder Universitätsstadt zur öffentlichen Bücherverbrennung. Die Vorarbeit hatten Repräsentanten des Verbandes Deutscher Volksbibliothekare geleistet. Sie hatten ein Ausleihverbot für "bolschewistische, marxistische und jüdische Literatur" in deutschen Büchereien angeregt und gleich mit der Identifizierung der "Volksschädlinge" begonnen. Auf den Scheiterhaufen landete auch Maria Leitners Roman. Am 16. Mai veröffentlichte das Börsenblatt für den deutschen Buchhandel die "erste amtliche Liste" des preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, in der die Belletristik-Titel aufgeführt waren, die bei der "Säuberung" der Volksbüchereien aus den Regalen verschwinden sollten. Zur "Ausmerzung" vorgesehen waren Werke von 94 deutschsprachigen und 37 fremdsprachigen Autoren, wobei man damals andere Unterscheidungen machte.

Weil Nazis scheinbar nichts zu blöd ist, hatte die "Deutsche Studentenschaft" am 12. und 13. April zwölf Schwachsinns-"Thesen wider den undeutschen Geist" in den Universitäten ausgehängt:

These 5: Schreibt der Jude deutsch, dann lügt er.

These 7: Wir wollen den Juden als Fremdling achten, und wir wollen das Volkstum ernst nehmen. Wir fordern deshalb von der Zensur: Jüdische Werke erscheinen in hebräischer Sprache. Erscheinen sie in Deutsch, sind sie als Übersetzung zu kennzeichnen. [...] Deutsche Schrift steht nur Deutschen zur Verfügung. Der undeutsche Geist wird aus öffentlichen Büchereien ausgemerzt.

Zu den 131 Autoren auf der schwarzen Liste für die "Schöne Literatur" (es gab außerdem Listen für "Allgemeines", "Kunst" und "Geschichte") gehörten Bertolt Brecht, Oskar Maria Graf, Ernest Hemingway, B. Traven, Upton Sinclair, Anna Seghers, Ernst Toller, Irmgard Keun, Jack London, Erich Kästner, Isaak Babel, Lion Feuchtwanger, Thomas und Heinrich Mann, Jaroslav Hašek und Alfred Döblin. Mit dabei war auch Maria Leitner mit Hotel Amerika.

Revolution in Ungarn

Wahrscheinlich musste sich Maria Leitner oft spöttische Bemerkungen anhören, weil sie am 19. Januar 1892 im kroatischen Ort Varasdin (das heutige Varazdin, bei Zagreb) geboren wurde, den man eigentlich nur aus Emmerich Kálmáns Operette Gräfin Mariza kennt ("Komm mit nach Varasdin"). Ihr Vater Leopold war ein jüdischer Bauunternehmer. Weil er sich in Budapest bessere Geschäfte erhoffte, zog die Familie, in der Deutsch gesprochen wurde, 1896 um. Für Maria Lékai (die ungarische Version des Namens Leitner) war das ein Glücksfall, weil Budapest viel weltoffener war als der Operetten-Ort und bessere Bildungsmöglichkeiten bot. Von 1902 bis 1910 besuchte sie die "Ungarische Königl. Höhere Mädchenschule".

Die europäischen Universitäten waren Frauen damals noch zumeist verschlossen. Maria ging deshalb in die Schweiz, wo man in dieser Hinsicht fortschrittlicher war. Möglicherweise studierte sie Kunstgeschichte, Anglistik oder fernöstliche Sprachen, aber das weiß man nicht genau. 1913 begann sie, für eine große Boulevardzeitung in Budapest zu schreiben. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde sie Auslandskorrespondentin in Stockholm. Der Krieg und dessen für die k.u.k. Monarchie unglücklicher Verlauf hatten Folgen. Leopold Leitner verlor sein kleines Baugeschäft (er starb 1918); Marias Mutter schlug sich als Pensionswirtin durch. Unter Ungarns Jugend, besonders in den Städten, wuchs der Antimilitarismus.

Das Attentat von Sarajewo hatte den Krieg ausgelöst. Viele junge Leute dachten, dass ihn ein zweites Attentat beenden und eine revolutionäre Entwicklung einleiten könnte. János (Johann), einer von Marias Brüdern, war schwer lungenkrank und wollte sich opfern, weil er glaubte, dass er nicht mehr lange zu leben haben würde. Sein Anschlag auf Graf Istvan Tisza, ungarischer Ministerpräsident und eine Symbolfigur des Krieges, scheiterte am 16. Oktober 1918 offenbar daran, dass er keine Ahnung von Waffen hatte. Er drückte ab und nichts passierte, weil er die bereits schussbereite Browning-Pistole noch einmal "entsichert" hatte.

János Lékai (Johann Leitner)

János wurde festgenommen. Die Presse ging auf die Jagd nach Interviews mit seinen Angehörigen. Der Reporter des Pesti Futur (Pester Kurier, 23.10.1918) machte die nach Budapest zurückgekehrte Maria Leitner ausfindig und traf "eine interessante junge Dame, die bei meinem Eintritt im [revolutionären] ‚Aktionsbuch' blätterte, das keine zehn Personen in Pest kannten". "Das Fräulein" diktierte ihm in den Notizblock, dass sie von den "terroristischen Absichten" ihres Bruders nichts geahnt habe. Aber was hätte sie anderes sagen sollen? Bekannt ist jedenfalls, dass sie genauso wie János und ihr jüngerer Bruder Miksa (Maximilian) zum "Galileo-Kreis" gehörte, einer sich schöngeistig gebenden Tarnorganisation für radikale, sozialistische Studien betreibende Anti-Militaristen.

In der Nacht vom 30. auf den 31. Oktober 1918 brach in Budapest ein Arbeiter- und Soldatenaufstand aus. Am 24. November wurde die von Béla Kuhn angeführte Kommunistische Partei Ungarns gegründet. Maria Leitner und ihre Brüder (János war in den revolutionären Wirren freigekommen) traten in die KP ein, die sich nach dem Rücktritt der bürgerlichen Regierung (20.3.1919) mit den Sozialdemokraten in aller Eile zur Sozialistischen Partei Ungarns zusammenschloss. Dann wurde die Räterepublik ausgerufen.

Im Gegensatz zu ihren Brüdern, die wichtige Funktionärsposten bekleideten, weiß man nicht, was Maria Leitner zu der Zeit machte. Vermutlich hielt sie sich im Sommer 1919 im Burgenland auf, dem damaligen Deutschwestungarn (das Burgenland kam erst 1921 zu Österreich). Das lässt sich daraus ableiten, dass sie 1929 in der Berliner Welt am Abend in Fortsetzungen die Erzählung "Sandkorn im Sturm" veröffentlichte. Aus der Geschichte spricht die eigene Erfahrung. Die Handlung spielt in einem burgenländischen Dorf zur Zeit der Konterrevolution. Im Wirtshaus feiert man auf Kosten des örtlichen Großgrundbesitzers die brutale Wiederherstellung der alten Ordnung (sowie einen dumpfen Antisemitismus), und zur allgemeinen Belustigung wird ein Repräsentant der Räterepublik gefoltert. Als der Mann stirbt, sind alle sehr betroffen. Die Stimmung kippt um, aber da ist es schon zu spät.

1929 schrieb Maria längst Texte, die Volker Weidermann (Das Buch der verbrannten Bücher) zu Recht als "Glanzstücke der Neuen Sachlichkeit" bezeichnet. "Sandkorn" dagegen ist stilistisch noch vom Expressionismus beeinflusst. Man kann also vermuten, dass sie die Erzählung bald nach den Ereignissen des Sommers 1919 schrieb und 1929 eine Zeitung fand, die sie zum zehnten Jahrestag der gescheiterten Revolution in Ungarn druckte. Wie oft bei Maria Leitner geht es darum, wie die einfachen Leute von den Mächtigen manipuliert und zu Handlungen gebracht werden, die ihnen nur schaden können. Das Ende ist programmatisch für ihr gesamtes Schreiben. Sara will ihrem Sohn den Anblick des gefolterten und getöteten Menschen ersparen. Heinrich, ihr aus dem Krieg heimgekehrter Mann, ist dagegen, dass etwas verborgen wird:

Sara hielt ihn fest. Ihre Hände verdeckten schnell seine Augen: "Du sollst nicht hinschauen", flüsterte sie. "Du sollst nichts wissen." Heinrich aber löste ihre Hände von seinem Gesicht. Er nahm das Kind in seine Arme und flüsterte: "Verhülle nicht seine Augen. Er soll sehen. Er soll wissen."