Soziale Ungleichheit macht die Menschen glücklich

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hat sich von Wissenschaftlern einen passenden Indikator für Glück und Zufriedenheit erstellen lassen

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Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, bekannt dafür, den Menschen im Auftrag der Industrie neoliberale Vorstellungen schmackhaft zu machen (Neoliberaler Auftrag noch nicht erfüllt), hat eine neue Idee gehabt und einen Wissenschaftler, der als Kurator und Berater der Stiftung kaum unabhängig zu bezeichnen ist, beauftragt, einen ökonomisch ausgerichteten, aber über das BIP hinaus erweiterten "Lebenszufriedensindikator" (Glücks-BIP) zu erstellen. Wohl wenig überraschend kam er mit seinem Ergebnis den neoliberalen Vorstellungen des Auftraggebers zur "marktwirtschaftlichen Erneuerung unseres Wirtschafts- und Sozialsystems" nahe, was wohl auch der Sinn der Veranstaltung war.

Ulrich van Suntum vom Centrum für angewandte Wirtschaftsforschung Münster suchte mit seinen Kollegen nach den "Glücksfaktoren" auf dem Hintergrund der Beobachtung, dass sich "trotz steigender Wirtschaftsleistung die Lebenszufriedenheit in Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre nicht erhöht (hat), in Westdeutschland ist sie sogar gesunken. Wirtschaftswachstum bedeutet also nicht automatisch mehr Wohlstand im Sinne von Lebensglück." Seit 1990 sei die Lebenszufriedenheit weitgehend konstant geblieben, Schwankungen nach unten gebe es nur 1997 und 2004, nach oben 2001, jeweils ein Jahr versetzt zur Konjunktur. Die Finanzkrise 2008 konnte nicht erfasst werden, weil die Daten für 2009 noch fehlen.

Zur Ermittlung der Faktoren, die über die Höhe des BIP und des materiellen Wohlstands hinausgehen und irgendwie von der Politik beeinflussbar sein sollen, hat van Suntum die Umfragen des Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) ausgewertet, und zwar nach den folgenden Faktoren, aus denen sich für ihn der Lebenszufriedensheitindikator zusammensetzt:

  1. Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (+)
  2. Arbeitslosenquote der abhängigen ziv. Erwerbspersonen (-)
  3. Ungleichheit der Einkommensverteilung (+)
  4. Realisierung gewünschter Arbeitszeit (+)
  5. Arbeiten im erlernten Beruf (+)
  6. Chance, eine gleichwertige Stelle zu finden (+)
  7. Sorge um den Arbeitsplatz (-)
  8. Sorge um die finanzielle Sicherheit (-)
  9. Jährliches Nettohaushaltseinkommen nach Steuern (+)
  10. Wohneigentum (+)
  11. Guter Gesundheitszustand (+)

Dabei spielen eine Vielzahl von Faktoren keine Rolle, beispielsweise sinnvolle, befriedigende und/oder stressfreie Arbeit, gute Beziehungen, zufriedenstellende Wohnumgebung, gesunde Lebensbedingungen oder was einem sonst einfallen mag. Arbeiten im erlernten Beruf muss ja nicht automatisch Zufriedenheit hervorrufen (und ist auch nicht so gerne gesehen, denn es ist kein Zeichen der gewünschten Flexibilität), ebenso wenig die Höhe des Nettohaushaltseinkommen oder gar Wohneigentum. Bei der Arbeitslosenquote heißt es, dass diese sich negativ auswirke, weil Arbeit ein Wert an sich sei – offenbar egal, was man macht. Vorrang hat also, das schwarz-gelbe Mantra, Arbeit als solche.

Besonders schön fällt die "Begründung" dafür aus, dass die Ungleichheit der Einkommensverteilung die Zufriedenheit steigern soll, also eine Gesellschaft, in der Arm und Reich angenähert würden, irgendwie unglücklicher machen würde, womit van Suntum angeblich nicht nur die Reichen meint:

Überraschenderweise geht eine größere Ungleichheit tendenziell mit einer steigenden Lebenszufriedenheit einher. Eine mögliche Erklärung liegt darin, dass die Nivellierung von Einkommen nicht nur für die Wohlhabenden nachteilig ist, sondern auch die Anreize und Aufstiegschancen künftiger Leistungsträger reduziert. Zudem ist die im Zeitablauf zunehmende Ungleichverteilung vorwiegend dadurch zustande gekommen, dass die Einkommen der reicheren Haushalte gestiegen sind, während sich die Einkommen der ärmeren Schichten absolut gesehen nur wenig verändert haben. Die Einkommensungleichheit ist in Deutschland somit für sich genommen offenbar kein „Unglücks-Faktor“.

Ulrich van Suntum

Das passt natürlich wunderbar zur INSM- und auch zu großen Teilen zur Ideologie von Schwarz-Gelb. Und dazu passt auch, dass nach dem Glücks-BIP nun nach einem Tiefpunkt am Ende der rotgrünen Regierung mit der großen Koalition ab 2005 die Kurve steil nach oben steigt, die Menschen also glücklicher sind. Allerdings gab es auch nach Beginn der rotgrünen Regierung von 1998 bis 2001 einen Anstieg des Glücks-BIP. Einschränkend wird gesagt, dass mit wachsendem BIP die Zufriedenheit – mit einem Jahr Verspätung – nicht konstant steige, sondern seltsamen Schwankungen unterliege:

Offenbar kommt es also weniger auf das Niveau als vielmehr auf die (ständige) Veränderung des materiellen Wohlstands an: Solange dieser steigt, herrscht (unveränderte) Zufriedenheit, bei wirtschaftlicher Stagnation werden die Menschen jedoch bereits unzufrieden.

Ulrich van Suntum
Das von INSM vorgeschlagene Glücks-BIP. Grafik: INSM

Beim Fazit überbietet sich der Wirtschaftswissenschaftler geradezu in wirtschaftsliberaler oder kapitalistischer Ideologie. Weil Arbeit ein Wert an sich sei, spreche dies für "Maßnahmen wie Kombilöhnen und workfare-Programmen" im Unterschied zum "reinen Transferbezug". Umverteilung mache nicht glücklicher, wird wiederholt, auch ein Ausbau oder Erhalt des Sozialstaats nicht:

Materielle und soziale Sicherheit scheinen um so wichtiger zu werden, je besser es den Menschen bereits geht. Das muss nicht unbedingt für einen Ausbau der Sozialversicherungen sprechen. Private Vorsorge und Vermögensbildung leisten ebenfalls einen wichtigen Beitrag dazu, dass die Menschen sich sicherer fühlen.

Ulrich van Suntum