James Cameron stellt das Universum auf den Kopf - und wie!

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Keine Science Fiction mehr, sondern Science Fantasy: "Avatar im Aufbruch nach Pandora"

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Mit "Avatar - Aufbruch nach Pandora" kehrt der "Titan" James Cameron als einer der wenigen unabhängigen Mega-Produzenten-Regisseure ins Kino zurück. Dieser "Avatar" (dem im Erfolgsfall eine Fortsetzung folgen wird) ist schon jetzt eine Produktion der Superlative. Er stellt das bisherige Kino-Universum auf den Kopf: als esoterisches Mainstream-Kino von gigantischem Format mit mindestens 237 Mio. Dollar Produktionskosten. Wie geht das? Der Film sprengt alte Filmgattungen auf und verschmilzt zahllose Mythen aus Kino und Literatur zu einer neuen Einheit. Jeder Zuschauer wird bekannte Mythen und Genres wiedererkennen, vertraut und doch verfremdet. Fangen wir an zu raten: Menschen, "Aliens" und "Terminatoren" mutieren zum Versöhnungsfest im Stil von "Herr der Ringe". Abgemischt in einer wilden Mutation von "Pocahontas" und "Meuterei auf der Bounty" entsteht ein "Silent Running", eine interstellare Öko-Revolte der neuen Dimension. Doch das ist keine Science Fiction mehr, sondern das ist Science Fantasy.

Camerons "Titanic" hatte 1.8 Milliarden Dollar als erfolgreichster Film aller Zeiten weltweit eingespielt, "Avatar" liegt mit 73 Millionen in den USA am Startwochenende für einen 3-D-Spielfilm nicht schlecht - und jetzt schon bei 232 Millionen Dollar weltweit -, aber unter dem Niveau von anderen Blockbustern wie "Dark Knight". Um in die Gewinnzone von "Titanic" zu kommen, dürfen die Einnahmen des Films nicht absacken. Die Kampagne der allzuschönen Bio-Ethno-Plakate sollen jetzt durch Mund-zu-Mund-Propaganda abgelöst werden. Der Film hätte das verdient.

Einführung in die Grundlagen interstellarer Ethik

Ein hochsensibler Cameron fabuliert mit seinem Team ein unterseeisch leuchtendes Paradies aus, im Nachbarsonnensystem, vom Grashalm über Dschungel- und Felsenlandschaften bis zum Flugsaurier. Er schildert gut-alien-menschlich den Verteidigungskampf der einheimischen, blau leuchtenden Na'Vi gegen die Ausbeutung und Zerstörung ihres tropischen Planeten durch die Kolonisatoren, die von der Erde hierher gekommen sind. Dazwischen stehen die menschlichen Exo-Biologen als die neuronalen Hobbits. Also Schluss mit den bösen grünen Männchen aus "Mars Attacks". Denn der Tiefseetaucher Cameron führt das Publikum in die Grundlagen interstellarer Ethik ein, so dass diesmal die Aliens die besseren Menschen sind.

Die alten Kampf- und Konfliktszenarien zwischen irdischer Rasse und bedrohlichen Außerirdischen, das Ringen um Überlegenheit, offen in "War of the Worlds", sublimiert in "2001" und "Close Encounters of the Third Kind" sind passée, gleichgültig, ob die Differenzen militärischer wissenschaftlicher Natur waren. In "Avatar" nimmt Cameron das genetische Unterwerfungsschema von "Aliens" zurück und wendet sich seinem eigenen Lieblingsfilm "The Abyss" wieder zu: Extraterrestrische Tiefseewesen sind hier bereits Vorboten einer Befriedung der Erde und laufen am Ende zu kühnen Leistungen auf.

Aber jetzt ist Schluss mit einer Unterwasserwand aus Monitoren mit bekannten Kriegs- und Friedensbildern. Cameron wendet sich dem delikaten Thema von neuer Koexistenz und fantastisch-wissenschaftlicher Symbiose zu, auf dem schmalen Grat zwischen Entwurf und Kitsch, Freiheit, Unterwerfung und Ausbeutung wie in den irdischen Entdeckungs- und Kolonisationsdramen "The Mission" und "1492: Conquest of Paradise". Camerons "Avatar" ist eine visuell und emotional bewegende Hymne auf die einfühlsam-intelligente Vernetzung von Mensch und artverwandten Aliens in einer gar nicht so entfernten und doch surrealen Natur.

HD und 3-D: Die Performance einfangen und gestalten

In "Avatar" zieht Cameron alle Register seines logischen, wirtschaftlichen und filmischen Könnens. Von besonderer Bedeutung ist die innovative Technik. Man sollte sich den Film auf jeden Fall in 3-D in großen Kinosälen, am liebsten IMAX in echten Großstädten, ansehen, weniger in der zwar auch passablen 2-D-Fassung und nur zur Not in den sogenannten kleinräumigen Black-Boxes. Ab 30 Meter Leinwandbreite und ab Reihe 15 wird einem ein majestätisches Leindwandschauspiel geliefert, das mit seiner Technik nicht effekthascherisch protzt, sondern im Dienste der Geschichte steht.

Es vereint auf virtuose Weise Realfilm und Trickfilm auf einem neuen digitalen High-Definition-Niveau. Das von Cameron mitentwickelte 3D Fusion Camera System verleiht den Stereobildern eine neue Schmiegsamkeit im Sinne des menschlichen Sichtfelds und wird so auch zum Maßstab einer realistischeren 3-D-Bildgestaltung. Gerade die Hochauflöslichkeit der digitalen Kunstlandschaften und der virtuell designten Akteure sowie der echten Kulissen und normalen Schauspieler führt zu einer selbst bei "Herr der Ringe" und "Matrix" nicht gesehenen plastischen Integration von Real und Trick. Hinzu kommt die Fusion von Aufnahme und Postproduktion: Es gibt keinen Blue oder Green Screen mehr, die Schauspieler agieren völlig frei in feinsten mimischen Details im sogenannten "Volume" (leerer Probenraum), bis alles stimmt.

Der Hintergrund wird auf dem Monitor für den Regisseur gleich mit eingeblendet. Das Performance-Capture Verfahren (Mini-Kameras an Kopfhelmen) liefert quicklebendige Detailstudien realer und virtueller Gesichter. Die Mimik wird zur Geographie. Durch die HD-Bearbeitung können menschliche wie außerirdische Physis glaubwürdig, lebendig und interessant gestaltet werden. Die Zeit der Plastikmasken ist vorbei. Das Kino wird zum exo-biologischen, trans-rassischen Okular der greifbaren Natur in All, die den Dschungel und die Zivilisation mit der Präzision eines Dokumentarfilms festhält. Disney und Grzimek lassen grüßen: "Die Wüste lebt", "Dschungelbuch" und "Serengeti darf nicht sterben".

Netzlogik der Avatare und Netz der Natur

Wie um alles in der Welt, soll alle dies miteinander verbunden werden? Nun, es geht genau darum, um die Struktur und Qualität der Verbindungen: zwischen Mensch und Mitmensch, Mensch und Natur, irdischen Repräsentanten und einheimischen Aliens. Der Titel "Avatar - Aufbruch nach Pandora" ist mehrdeutig gemeint. Es geht nicht nur um die Reise des Ex-Marines Jake Sully (Samuel Worthington, eindrucksvoll wie in "Terminator Salvation") nach Pandora. Es geht nicht nur darum, dass Jake seinen genetischen Zwillingsbruder, einen Exobiologen im Team von Grace Augustin (Sigourney Weaver), ersetzt.

Es geht um den Durchbruch zu einer interstellaren und interrassischen Kommunikation zwischen Mensch und Aliens, jenseits der Trennung in Original und Kopie, Freund und Feind, Subjekt und Objekt, auf höchster und zugleich elementarster, und dabei friedlicher Ebene. Und am Ende hat Jake Sully das geschafft, was David Bowman als Starchild in „2001“ nur halbherzig gewährt wurde.

Einige Augenaufschläge - früher oder später

Jake Sully, zugleich der Ich-Erzähler des Films, schlägt irgendwann im 22. Jahrhundert als Mensch die Augen auf, ortlos und zeitlos in einer dunklen Röhre. Am Ende von "Avatar" werden es wirkliche Na'Vi-Augen, mit denen "Jeiksully" (mit U gesprochen) dem Zuschauer entgegenblickt. Blick und Einblick, Sicht und Einsicht, darum wird es immer wieder gehen. Jake Sully ist einer der kryogenisch eingefrorenen Passagiere, die in einem Antigrav-Container des interstellaren Riesen-Raumschiffs ISV Venture Star wie anatomisches Frachtgut oder "Frischfleisch" transportiert werden. Jake Sully soll seinen eineiigen Zwillingsbruder ersetzen, der aus ungeklärten Gründen, angeblich durch Raubmord, starb. Jake ist sich bewusst, dass er nur schlechter Ersatz ist: ein ungebildeter Marine mit einer Körperbehinderung (seine Beine wurden im Einsatz gelähmt), wo doch sein Bruder ein anerkannter und hochtrainierter Wissenschaftler war.

Das Ziel des Fluges: Pandora, ist ein erdähnlicher Himmelskörper - mit Meeren, bizarren Kontinenten und starker Bewölkung, Dauernebel und Niederschlag. Dahinter versteckt sich eine paradiesische, surreale Welt, die fremdartig in Formen und Farben spielt. Ein aquariumsförmig anmutender tropischer Dschungel, gefährliche Raubtiere, Mischwesen aus Meer und Land mit polyploiden Ausbuchtungen und Extremitäten, wie in der Tiefsee oder einem Versuchslabor. Dazu majestätische geologische Formationen, Krater, Canyons und Gebirge, die an das Magnetfeld TMA 1 auf dem Mond in „2001“ erinnern. Über allem schweben fliegende bewachsene Felsinseln und spannen sich steinerne Bögen, eingerahmt von Riesenbäumen und verbunden mit Superlianen - allesamt hervorgelockt durch den repulsiven Magnetismus des Planeten, der von kosmischen Kräften und dem brutalem Bergbau der menschlichen Kolonisatoren nur weiter angestachelt wird.

Pandora hat eine giftige Atmosphäre, die für Menschen zwar keine Raumanzüge (wie in "Alien"), aber Atemmasken nötig macht. Pandora ist ein Planet, aber zugleich auch ein Trabant, der um einen riesigen, jupiterförmigen Gas-Planeten Polyphemus (mit Wirbelstreifen und rotem Fleck) kreist; das Zentralgestirn heißt Alpha Centauri-A, ein für uns relativ nahes Nachbargestirn. Die rätselhafte Konstellation, die magnetische Geologie und extreme Biologie - all dies lässt bereits eine umfassendere kosmische Handlung in den nächsten Teilen ahnen, in der Cameron noch zur Kubrick-Form auflaufen könnte.

Während der Landung mit einem der militärisch umrüstbaren Valkyrie-Shuttle zeigt sich das andere, entstellte Gesicht Pandoras: ein Grubenpanorama mit Tagebau, Raffinerien und Wachtürmen. Ein industrieller und militärischer Komplex der Minenkorporation, der Resource Development Agency (RDA), ein menschliches Fort, wie in der "Alien"-Serie. Ein Militärflughafen mit Kampf- und Arbeits-Robotern, sogenannten Ein-Mann-Anzügen (Amplified Mobility Platform, AMP, Suits), mit von zwei Seitenrotoren angetriebenen Hueys (Scorpion Gunships) und anderen, stärker armierten Flugzeugen. Hochgerüstete Marines mit Atemmasken werden aus dem Bauch des Shuttle gespuckt. Jake erweist sich als genau beobachtender Nachzügler im aufklappbaren Rollstuhl: ein junger vitaler Veteran, dem die Beine, aber nicht Herz und Verstand versagen. Der Held überquert den Flugplatz, arrogant als "Frischfleisch" von den Marines tituliert, er sieht fremde Riesen-Pfeile stecken in den vorbeirollenden Mega-Reifen eines Minenkippers.

Der fürsorglich-autoritäre, kraftstrotzende Sicherheitschef Colonel Miles Quaritch (Stephen Lang, "Public Enemies", mit der Pantherkrallen-Spur am Jar-Head) hält seinen gestressten Marines in der Kantine eine zünftige Ansprache: über die Gefahren des Dschungels und die längst fällige Bekämpfung der feindlichen Ureinwohner. Er verspricht Jake eine Bein-OP für das Ausspionieren der wissenschaftlichen Abteilung und vor allem der Na'Vi. Jake wird vom relaxten Norm Spellman (Joel Moore) zum "AVTR"-Forschungszentrum gebracht: Hier regiert die biologisch-genetisch-neuronale Interdisziplinariät der Exo-Biologen, die mit Holo-Panoramen ihre komplexen Netzwerkvorstellungen auch auf die Natur des Planeten Pandora projizieren. Und hier stehen auch die blauen Tanks mit den traum- und bewusstlosen Avataren.

Eine Erweiterung der "Matrix"-Idee für den Realraum

Jeder Avatar besteht aus Misch-DNA von Mensch und Na'Vi. Das Ergebnis der Züchtung sind drei Meter große Hybrid-Wesen, die den Einwohnern von Pandora gleichen, aber von Menschen fernsteuerbar sind. Jake erkennt, dass eines dieser Wesen, trotz seiner großen Cats-Augen, Raubtiernase sowie Elbenohren und Löwenschwanzquaste, seinem Bruder und ihm selbst ähnlich aussieht. Dies ist also jetzt sein Avatar. Solch ein Wesen ist durch neuronale Datenübertragung aktivier- und steuerbar, durch sogenannte: Neurotransmitter oder weniger freundlich: Controller, in denen sich die menschlichen Partner zu einer Session mit ihren Doubles draußen einklinken. Das Ganze stellt eine Erweiterung der "Matrix"-Idee für den Realraum dar. Gehirn-Channeling, irgendwo zwischen Traum und Diktat, Empathie und Telekontrolle.

Dr. Grace Augustin, die Forschungsleiterin (ihr eigenes Denkmal: Sigourney Weaver) lehnt den Ankömmling Jake zunächst ab. Als Marine sei er nicht zur xeno-botanischen Forschung und zum Experiment mit den Avataren qualifiziert. Auch befürchtet sie militärische Einflussnahme in ihrem Bereich. Jake wird wegen seiner genetischen Identität auf Probe eingesetzt, um seinen Avatar nicht ungenutzt zu lassen. Der Indoor-Golf-spielende Minen-Manager Parker Selfridge (Giovanni Ribisi), eine typisch opportunistische Manager-Figur, drängt in der Kommando- und Kommunikationszentrale auf Erfolge im Avatar-Projekt.

Der Zielkonflikt: Priorität für den Konzern hat die ungehinderte Ausbeutung Pandoras. Der Boden ist reich ist an hochmagnetischem supraleitendem Unobtainium, einem Mineral, das von vitaler Bedeutung für die Probleme auf der Erde ist. Augustin soll endlich eine "diplomatische Lösung" für die Wirtschaft abliefern, was nur heißen soll: Der Widerstand der Na'Vi gegen die irdischen Ausbeuter und Kolonisatoren soll unterlaufen werden. Wäre der Einsatz der Avatare schon hinreichend effektiv, könnten sie als V-Leute die Einheimischen weitgehend kontrollieren und unschädlich machen.

Zerstörungsfantasien, Empathie und Utopie

Als Jake und sein Kollege Norm Spellman (Joel Moore) sich in die Neuro-Transmitter-Röhren legen, werden die zugeordneten Avatare im Operationssaal aktiviert und schrittweise angepasst. "Jurassic Park" und "Einer flog übers Kuckucksnest" erleben ein schräges Crossing over. Der Film setzt eine erste Fluchtlinie in das Reich der Science Fantasy: Alptraumhafte Perspektiven im OP von humanoiden Riesenviechern mit Löwenschwanz. Sie erheben sich, tapsen herum, irritieren ihre Betreuer. Jake ist noch nicht in der Körperbewegung synchronisiert. Wesen mit nachtblauer Haut und großen Katzenaugen, drei Meter hoch, torkeln und rennen durch die Station und hinaus in den Garten.

Hier erlebt Jake seine erste vorläufige Wiederauferstehung. Als Avatar kann er einfach loslaufen, mit seinen neuen überlangen Beinen, in der Sonne schwitzend, mit zugekniffenen Augen, die Zehen als Klauen in der Erde. Am Ende der Strecke begegnet er dem Avatar von Grace Augustin: Der Hase trifft den Igel. Und siehe da, von außen erweist sich das medizisch-biologische Forschungszentrum als eine gutmenschliche Dschungelmission, ein Lambaréné-Hospital für Mensch und Na'Vi im 22. Jahrhundert. Grace Augustin ist eine Diane Fossey, die ihre "Gorillas im Nebel" schützt und am liebsten unter ihnen lebt und für sie auch zu sterben bereit ist.

Während der Dschungelerkundungen fungiert Jake als Avatar-Marine, der das Forscherteams beschützen soll, aber in Unkenntnis der Fauna und Flora treibt ihn eine Herde Hammerdinos und ein Superdoberjaguar (Thanator) immer weiter durch den Regenwald. Auch Augustin scheint ihn, gewollt oder ungewollt, aufzugeben. In der nächtlichen, unterseeischen Leuchtkraft der Natur (Bioluminiszenz) wird Ava-Jake still und heimlich von Neytiri, der Na'Vi-Jägerin aus dem Omaticaya Clan (hervorragend Zoë Saldana) als Dreamwalker und neuerlicher Vertreter der fremden Skypeople beobachtet.

Sie will ihn zunächst, wie so viele andere, mit einem Pfeil töten, wird aber durch ein magisches Zeichen, eine Spore des Secret Tree, davon abgehalten. Sie beschützt ihn vor einem Rudel angreifender Viperwolves. Wie die Göttin Artemis persönlich bewegt sich Neytiri mit tänzerischer Eleganz durch die Wildnis, mit atemberaubender instinktiver Wendigkeit wechselt sie die Ebenen und Richtungen, zwischen Abwehr und Zuwendung, Flucht und Angriff, unbewusster Geschicklichkeit, in einer Unschuld des Werdens, vereint mit ihresgleichen im hellen Herzen der Natur. Tarzan hätte seine Freude an ihr. Als sie den Angreifer getötet hat, wird die hohe Ethik der Na'Vis offenbar: eine Moral, die der eigenen und fremden Kreatur den gleichen, uneingeschränkten Respekt zollt. Sie verrichtet ein Gebet, um Frieden mit der Tierseele zu schließen. Denn alles Leben sei nur ein Geschenk auf Zeit. Die traurigen Topen eines Levi-Strauss feiern in Pandora ihre erhabene Wiederauferstehung.

Erste Annäherung zweier durch Lichtjahre getrennter Individuen

Die schwebenden sanften "Federquallen", die sich auf Jakes Avatar-Körper versammeln, verweisen auf das Zentrum der Natur für Neytiris Clan, den Secret Tree, in dem sich die Erinnerungen der Ahnen speichern lassen und durch dessen rhizomatische Sporen und Gewebe (Deleuze) wundersame Heilkräfte und Wiederbelebungen erlauben. Jakes und Neytiris Begegnung erweist sich sich trotz aller Vorbehalte als eine erste Annäherung zweier durch Lichtjahre getrennter Individuen, deren zukünftige Liebe immer auch als verschwiegenes Zentrum einer pantheistischen Naturerfahrung in einem riesigen Kosmos dargestellt wird.

Die Na'Vi residieren in Kelutral, in der Höhlung eines alten Riesenbaumes und können sich in den endlosen Spiralstrukturen eines energetischen Netzwerkes mit jedem einzelnen Lebewesen und der gesamten Natur auf Pandora verbinden. Jeder einzelne Haarzopf hat am Ende dieselbe hell strahlende Anschlussgarbe, die in den Sporen oder im Secret Tree selbst sichtbar wird.

In seinen Avatar-Sitzungen dringt Jake immer tiefer in die Lebenswelt der Na'Vi ein. Er fügt sich der Entscheidung der königlichen Mutter, Seherin und Schamanin , entweder zu sterben oder ihre Sprache, Kultur, Lebens- und Kampftechniken zu erlernen. Auf diese Weise verschiebt sich seine Wahrnehmung und die des Zuschauers vom Menschen zum Na'Vi. Die Ersatzperson Jake wird zum unersetzlichen Helden, zum wissenschaftlich begabten Intruder, zum strategischen Doppelspion und zum interstellaren Naturburschen. Aus dem Dschungel erhebt sich Jakes abenteuerliche Reise bis in den Himmel, zum Initiations-Ritual der Zähmung eines Flugsauriers (Mountain Banshee) auf den schwebenden Felsinseln der Hallelujah-Mountains, in einem mitreißenden Rodeo und Wettfliegen mit Neytiri über dem Abgrund. Hier, in der traumhaft dahingleitenden Symbiose zwischen Mensch, Na'Vi und Tier wird das Konzept der einseitigen Avatar-Steuerung für Held und Zuschauer endgültig hinweggefegt.

Jake führt sich und das Exo-biologische Team endlich und nachhaltig auf die andere Seite. Sobald Colonel Quaritch und das Unternehmen feststellen müssen, dass er nicht als Spion funktioniert, sondern sich als Mitkämpfer der Na'Vi den Rodungs-Maschinen entgegenstellt, wird der im Hintergrund lauernde Präventivschlag des Militärs grausame Wirklichkeit.

Wie lange hält das Netz?

Die Spannung des Films (mit "Matrix") ist vor allem die Spannung, wie lange das Netz hält, oder ob und wie es irgendwann reißen oder sich neu bilden wird.

Wie aber kann Jake als Avatar in seinen zeitbegrenzten und kraftraubenden Sitzungen seiner Rolle als Rebellenführer gerecht werden? Denn ihm und seinen Mitstreitern können jederzeit in Hellios Gate die Controller-Röhren abgeschaltet werden, so dass die Gestalt des Avatars ohnmächtig wie eine Marionette zusammenbricht. Gibt es eine Möglichkeit, die neuronale Apparatur an einen unangreifbaren Standort zu verlegen, um von dort aus in noch intensiveren Sessions den Krieg mitzusteuern? Sind magisches Können und modernes Wissen, Magie, Exobiologie und Transmittertechonologie miteinander verknüpfbar, verstärken sie sich oder löschen sie sich gegenseitig aus?

Vielleicht läuft die Sache sogar umgekehrt: Basieren die Neurotransmitter auf dem Magnetismus von Pandora oder stehen sie in geheimer Verbindung mit dem Bio-Netzwerk um den Secret Tree? Kann die menschliche Technik schließlich durch die Natur ersetzt werden, indem es gelingt, sich als Individuum und Wissensträger ins Netz der Natur selbst einzuspeisen? Wie auch immer: Am Ende gelingt Jake der evolutionäre Sprung vom Menschen zum Na'Vi, im Umkehrung zum Filmcut vom Affen zum Astronauten in "2001", in einen Zustand kriegerisch-naiver Unschuld, der sich doch an das Wissen seiner früheren Zivilisation erinnern kann. Pandora lebt und wird weiter leben - offenen Auges und offenen Herzens: "Oel ngati kameie." - "I see you." Absolut sehenswert!

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