Schönheitsoperationen statt Schleier

Einer der Hauptkomponenten der antimuslimischen Stimmungsmache in Europa ist das Thema "Frauenunterdrückung im Islam"

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Die Schweizer Initiatoren des Referendums gegen den Bau von Minaretten warben mit einem Plakat auf dem eine bedrohlich erscheinende, bis zur Nase schwarz verschleierte Frau gezeigt wurde. Der Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin sprach sich für ein Kopftuchverbot in Schulen aus, da dieses den Machtanspruch des Mannes über die Frau verkörpere und kein religiöses, sondern ein politisches Symbol sei. Die seit dem Schweizer Referendum auch im Vereinigten Königreich (UK) zunehmende antiislamische Mobilisierung, die sich gegen den Moscheebau als Zeichen der angeblichen „Islamisierung Europas“ richtet, bedient sich wie die Schweizer Anti-Minarett-Initiative zur Stigmatisierung der Muslime ebenfalls des Bildes einer bis an die Nase schwarz verschleierten Frau, die, wie auf einem Halteverbotsschild, mit einem roten Kreis umgeben und mit einem Schrägbalken durchgestrichen ist.

Die Schweizer Feministin Julia Onken begründete ihren Aufruf, im Referendum gegen den Bau von Minaretten zu stimmen, unter anderem damit, dass der Koran „frauenfeindliche und Frauen verachtende Regeln“ vorschreibe, „z.B. die Verhüllung des ganzen Körpers, ausser Hände und Gesicht. Zwangsheirat. Ehrenmord. Züchtigung durch den Ehemann bei Ungehorsam.“

Der Koran

Der Koran ist genauso wenig wie die Bibel ein Gesetzbuch oder Regelwerk, sondern vor allem eine Quelle der spirituellen Inspiration und ethischen Leitung für die Gläubigen. Wie alle als heilig angesehenen Bücher enthält er widersprüchliche und unverständliche Verse. Es finden sich in ihm sowohl frauenfeindliche wie frauenfreundliche Stellen. Auf die Interpretation kommt es an.

Da es im Islam keine den Vatikan vergleichbare Instanz gibt, die verbindlich festlegt, was unter Islam zu verstehen sei, wird die gesamte Geschichte des Islams vom Richtungsstreit der Gelehrten über die richtige Auslegung des Korans und seiner Verse begleitet. Auch eine wachsende Anzahl von islamischen Feministinnen bezieht sich in ihrem Kampf gegen patriarchale Strukturen in ihren jeweiligen Gesellschaften auf den Koran, indem sie die darin enthaltenen egalitären und emanzipatorischen Züge heraus arbeiten.

Im Koran stehen zum Thema Körperbedeckung nur zwei kurze uneindeutige Verse, die von Muslimen höchst unterschiedlich ausgelegt werden. Von Zwangsheirat und Ehrenmorden ist überhaupt nicht die Rede. Diese haben mit dem Islam nichts zu tun, sondern gründen in lokalen patriarchalen Traditionen. Der Vers, der tatsächlich die Züchtigung von Frauen durch den Ehemann erlaubt, wird nur von einer verschwindend geringen Minderheit der Gläubigen als buchstäbliche Handlungsanweisung betrachtet. Die Zurückweisung von Gewalt gegen Frauen hingegen ist die Regel.

Es gibt eine ganze Reihe von islamischen Rechtsgelehrten und Theoretikern, die sich für die Rechte der Frauen einsetzen. Der einflussreiche schiitische Ayatollah Muhammad Hussein Fadlallah im Libanon zum Beispiel verbietet, dass Ehemänner ihre Frauen schlagen und billigt letzteren das Recht zu zurückzuschlagen, falls diese es doch tun sollten. Zudem ist es ein Trugschluss, den Islam verkürzt mit dem Koran gleichzusetzen. Das Verständnis des Korans und die Auslegung seiner Verse ist eine so komplizierte Angelegenheit, dass sich dazu eine ganze Wissenschaft herausgebildet hat. Die Interpretationen haben sich im Laufe der Geschichte verändert und auch heute findet unter Muslimen eine lebhafte Debatte darüber statt, was der Islam sei. Um sich darüber zu informieren, was Muslime denken und wie sie zur „Frauenfrage“ stehen, wäre es wesentlich sinnvoller, sich mit den Werken zeitgenössischer Autoren wie zum Beispiel denen des Schweizer Muslims Tariq Ramadan auseinanderzusetzen, als selektiv Koranverse herauszupicken.

Klischees an Stelle von Kenntnissen

Nicht auf der Basis von Kenntnissen wird meist über den Islam geurteilt, sondern auf der Basis von Klischees. Das Bild, das vom Islam aufgerichtet wird, hat wenig mit der Realität von etwa 1,3 Milliarden unter ganz verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen lebenden Musliminnen und Muslimen weltweit zu tun. Der Islam ist kein monolithischer Block, sondern im Gegenteil eine vielfältige und dynamische Religion, die so gegensätzlich Phänomene wie das wahabitische Königreich Saudi-Arabien mit seiner tatsächlich frauenfeindlichen Islam-Interpretation und die matriachalen Minangkabau auf West-Sumatra umfasst. Auch die Minangkabau-Frauen tragen ein Kopftuch, ohne dass dies ihre zentrale gesellschaftliche Position beeinträchtigt hätte.1

Die immergleichen Klischees, die gegen die Islam und die Muslime ins Feld geführt werden, setzen sich aus Vorurteilen, Halb- und Unwahrheiten sowie dem Aufbauschen und Verallgemeinern marginaler Erscheinungen zusammen. Diejenigen, die diese Klischees verbreiten, wissen es entweder nicht besser oder betreiben gezielte Desinformation; diejenigen, die sie begierig aufgreifen, werden von Vorurteilen und allzu oft auch von einem latenten oder offenen Rassismus geleitet. Es ließe sich auch sagen: Der Kampf der „Islamkritiker“, wie sie sich selbst gerne nennen, gilt einem Islam, den sie selbst erfunden haben oder anders: Sie haben sich den Islam so hergerichtet, wie sie ihn brauchen, um auf ihn einschlagen zu können.

Die Doppelmoral der antimuslimischen Propaganda

Der Themenkomplex Frauen und Sexualität ist neben dem der Gewalt bereits seit den Kreuzzügen das zentrale Thema antimuslimischer Propaganda. Damals wurde den Muslimen allerdings eine allzu große Sinnlichkeit und Libertinage vorgeworfen.2 Dass den Muslimen heute das genaue Gegenteil vorgeworfen wird , gründet weniger im Verhalten der Muslime selbst als in der Veränderung des Selbstbildes westlicher Gesellschaften, die sich gerne als „aufgeklärt“, „zivilisiert“ und „emanzipiert“ sehen.

Wie wenig auch das mit der Realität zu tun hat, wie wenig patriarchale Machtverhältnisse auch in Europa und den USA überwunden sind, zeigen die fortgesetzte Diskriminierung am Arbeitsplatz und das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. 40% aller Frauen in Deutschland haben seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt.3 UNIFEM zufolge erleben 40-50% aller Frauen in den EU-Staaten sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz. In den USA werden 83% aller Schülerinnen zwischen 12 und 16 Jahren an öffentlichen Schulen Opfer von sexuellen Übergriffen. In den USA werden jede Woche 25 Frauen von ihren (ehemaligen) Partnern ermordet, das sind mehr Frauen als zum Beispiel innerhalb eines Jahres in Jordanien wegen der „Ehre“ ermordet werden.4

Die Unterdrückung von Frauen in muslimischen Gesellschaften auf den Islam zurückzuführen, ist eine Erfindung des europäischen Kolonialismus des 19.Jahrhunderts, der ideologisch als „mission civilisatrice“ oder „the white man's burden“ verbrämt wurde. Als Beleg für die „Minderwertigkeit“ und „Unzivilisiertheit“ der Muslime musste unter anderem die Frauenunterdrückung herhalten.5 Nicht nur aus dem viktorianischen England sind weiße Männer zur Rettung muslimischer Frauen ausgezogen, auch der Krieg gegen Afghanistan wurde mit der Notwendigkeit zur „Befreiung“ der Frauen begründet. Gemeint war und ist damit freilich nie mehr als die Ersetzung des einheimischen Patriarchats durch ein an westlichen Strukturen orientiertes, mit dem Kapitalismus kompatiblen Patriarchat: Schönheitsoperationen statt Schleier. In beiden Fällen bestimmt „die Tyrannei des männlichen Blicks“, wie Frauen aussehen.

Aber rassistischen Stereotypen ist mit Fakten nicht beizukommen. Dass es bei diesen Stereotypen weniger um die Frauen selbst geht als um Vorwände zur Dämonisierung des Islams, zeigt sich auch an der ausgeprägten Doppelmoral, die damit einher geht. Patriarchale Gesellschaftsstrukturen bestehen weltweit und zeigen sich in höchst unterschiedlichen Formen. Die christliche und jüdische Religion haben nicht weniger frauenfeindliche Züge als der Islam, ohne dass diese Religionen deswegen pauschal dämonisiert würden. Die linke ägyptische Feministin Nawal al-Saadawi bezeichnet den Islam sogar als die frauenfreundlichste unter den drei großen montheistischen Religionen. In Jerusalem greifen jüdische Fundamentalisten regelmäßig diejenigen Frauen körperlich an, die in ihren Augen „unzüchtig“ gekleidet sind. Würde diese relativ marginale Erscheinung zum Wesen des Judentums und dieses per se zur frauenfeindlichen Religion erklärt, würde zu Recht der Vorwurf des Antisemitismus erhoben.

Mit dem Islam ist das anders. Kein Vorurteil, keine Unwahrheit, keine Übertreibung wird ausgelassen. Über den Islam und die Muslime darf alles gesagt werden, ohne dass sich Protest regte. Muslime sind von ganz oben „zum Abschuss freigegeben“ – innerhalb Europas vorwiegend im übertragenen Sinn, außerhalb Europa buchstäblich.