Verfassungswidrige Säule

Nicht nur die Rechtsprechung prägt eine negative Bilanz von fünf Jahren Hartz IV

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Vor fünf Jahren trat am 1. Januar 2005 in Deutschland das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, allgemein als „Hartz IV“ bekannt, in Kraft. Für die wohl umstrittenste sozialpolitische Entscheidung in der Geschichte der Bundesrepublik liegen somit fünf Jahre an praktische Erfahrungen vor und auch die wissenschaftliche Begleitforschung kann mittlerweile auf diverse Studien verweisen. Die hier unternommene Bilanz greift zunächst die zentrale Frage nach der Wirkung der „Reformen“ beim Abbau der Arbeitslosigkeit auf und widmet sich dann den „Kolateralschäden“, also den gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen.

Die politisch Verantwortlichen für Hartz IV wurden in den vergangenen Jahren nicht müde zu betonen, die Reformen würden „wirken“. In dieses Horn bläst auch die kurz vor Weihnachten 2009 vorgelegte Hartz-IV-Bilanz der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, des IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung). Grundsätzlich gehe die Reform in die richtige Richtung, heißt es dort, und als Beweis wird auf die sinkende Zahl der arbeitsfähigen Hartz-IV-Empfänger verwiesen: Diese sei von 5,4 Millionen in 2006 auf 4,9 Millionen in 2009, mithin also um rund 500.000, gesunken.

Dieses Rechenbeispiel steht aber auf schwachen Füßen. So kommt das IAB natürlich nicht umhin, auf den für 2010 erwarteten, durch die Finanzkrise verursachten Anstieg der Arbeitslosenzahlen zu verweisen, was sich auch auf die Zahl der Übertritte in Hartz IV auswirkt: „Dass solche Übertritte in den Jahren 2010 und 2011 in höherem Umfang als zuletzt stattfinden werden, ist bereits abzusehen.“

Die generelle Krux dieser Bilanz der Arbeitsagentur aber besteht in dem Unvermögen, empirisch nachzuweisen, dass ein Rückgang der Arbeitslosigkeit auf die „Reformen“ zurückzuführen ist, und nicht etwa vorwiegend auf einen konjunkturellen Aufschwung. Hierzu gebe es lediglich „bestimmte Anzeichen“, wobei freilich „belastbare kausalanalytische Befunde hierzu noch fehlen“. An anderer Stelle macht das IAB allerdings eine klare Aussage, was die Beziehung zwischen „Reformen“ und Arbeitslosigkeit anbelangt: Eine „Aktivierung“ könne nur dann erfolgreich sein, „wenn auf der Arbeitsnachfrageseite auch genügend adäquate Jobs für erwerbsfähige Hilfebedürftige verfügbar sind.“ Anders ausgedrückt: Wenn nicht genügend freie Stellen vorhanden sind, nützt auch Hartz IV nichts.

Eine Studie an der Universität Oldenburg von Tobias Müller mit dem Titel „Was haben die Hartz-Reformen bewirkt“ (Weißensee Verlag) kommt dann auch zu dem Schluss, „dass der Beschäftigungsaufschwung 2006 bis Ende 2008 auch ohne die Hartz-Reformen zumindest in ähnlicher Art und Weise zustande gekommen wäre“. Die Wirkung der Arbeitsmarktreformen, also das Kern-Versprechen, durch Hartz IV die Arbeitslosenzahlen zu reduzieren, ist so weder durch einen stabilen Trend noch durch Kausalitätsnachweise erhärtet.

Und die IAB-Bilanz blendet in geradezu schönfärberischer Art und Weise die massiven gesamtgesellschaftlichen Probleme, die mit Hartz IV verbunden sind, aus. So ist zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht keineswegs der Meinung, dass man hier in die „richtige Richtung“ gehe. Sondern es erklärte 2007 eine zentrale Säule des ganzen Gesetzes – die Zusammenlegung von Arbeits- und Sozialämtern - für verfassungswidrig. Bis Ende 2010 hat die Politik dieses Problem zu lösen. „Das Versprechen von Dienstleistungen aus einer Hand, deren angemessener Preis der Umbau des Sozialleistungssystems sein sollte, wurde in grotesker Weise verfehlt“, so die Bilanz von Matthias Knuth von der Uni Duisburg-Essen.

Derzeit ist ein weiteres Verfahren vor den Verfassungsrichtern anhängig und es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder ebenfalls nicht verfassungskonform zustande gekommen sind. Zu einer Hartz-IV-Bilanz hinzuzuzählen, sind auch die Hunderttausenden an Gerichtsverfahren vor den Sozialgerichten, die in einer großen Zahl der Fälle die Entscheidungen der Arbeitsagenturen korrigierten.

Richtungsänderung in der Sozialpolitik

Hartz IV aber ist nicht nur eine Maßnahme, die lediglich die Langzeitarbeitslosen betrifft. Hartz IV war eine Richtungsänderung in der Sozialpolitik der Bundesrepublik, ist tief in die gesellschaftlichen Strukturen eingedrungen und hat massiv die Beziehungen und Kräfteverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verändert.

Hartz IV ist auch eine Erziehungsmaschine, die den Menschen dazu bringe soll, sich vor allem in „marktwirtschaftlichen Zusammenhängen“ zu definieren, wie es der Sozialwissenschaftler Markus Promberger in seinem „Versuch einer Bilanz“ sieht. Die Arbeitsagenturen kontrollieren und sanktionieren nicht nur das Tun, sondern auch die Haltung der Langzeitarbeitslosen, ist auch das Fazit einer Studie von Olaf Behrend über „Aktivieren als Form sozialer Kontrolle“. Hartz IV mit seinen Sanktionen bis hin zum Entzug sämtlicher Leistungen wirkt so als gesellschaftliches Disziplinierungsmittel und gilt mittlerweile als Synonym für sozialen Abstieg. Im Zuge der Durchsetzung des Gesetzes wuchs in Deutschland der Niedriglohnsektor und die Entwicklung am Arbeitsmarkt ist geprägt durch die Zunahme sogenannter atypischer Beschäftigungsformen wie Zeit- oder Leiharbeit. Dazu gehört auch die Zahl von 1,3 Millionen an „working poor“, Menschen also, die trotz Erwerbstätigkeit auf Hartz IV angewiesen sind.

Eine Bilanz von Hartz IV wäre unvollständig, ohne auf die politischen Verwerfungen im Gefolge dieser Sozialpolitik hinzuweisen. Sie brachte nicht nur mehrere hunderttausend Bürger auf die Straße, die ihren Protest kundtaten, sondern veränderte auch die politische Architektur. Aus den Protesten gegen das Gesetz entstand mit der „Linken“ eine neue Partei, während die bei Hartz IV federführende SPD bei der vergangenen Bundestagswahl eine katastrophale Niederlage erlitt.

Fünf Jahre Hartz IV sind aufgrund dieser Befunde zu sehen als Symptom für einen historischen gesellschaftlichen Wandel in der Bundesrepublik, der auf neoliberalen Grundsätzen wie Glauben an den Markt, Deregulierung und die Reduzierung des Subjekts zum bloßen Anbieter der Ware Arbeitskraft basierte. Dazu gehört der höchst fragwürdige Ansatz, den Arbeitsmarkt als Schüssel für das Problem der Arbeitslosigkeit zu sehen. Ihm geschuldet ist dieses soziale Großexperiment mit acht Millionen Menschen, dessen Erträge gering und dessen gesellschaftliche Kosten zu teuer sind.

Ob sich nun angesichts der Finanzkrise eine dauerhafte Neubewertung von Markt und Politik und in dessen Folge auch von Hartz IV einstellen wird, bleibt zu sehen. Das Verfassungsgericht will jedenfalls Anfang 2010 entscheiden, ob die Regelsätze zumindest für Kinder angehoben werden müssen, was zumindest einer der Forderungen des Kinderschutzbundes und anderer Wohlfahrtsverbände entspräche.