Gutes Gewissen, sanftes Ruhekissen

Wie der Kapitalismus wieder einmal nicht ökologisch und sozial wurde

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Heuer gibt es bei mir zu Weihnachten Elektronik, wie bei vielen der deutschen Weihnachtsteilnehmer. Und so sitze ich hier, buchstäblich von Verpackungsmüll, Bedienungsanleitungen und dergleichen mehr umgeben - wie ein Kind, das den Süßigkeitenschrank gefunden hat. Glücklich, weil das meiste funktioniert. Nicht so ganz so glücklich, weil ich, wie die meisten, weiß, dass dieses Funktionieren seinen Preis hat. Es kostet krumme Rücken in Shenzhen, Menschenleneben im Kongo, rasierte Regenwälder auf Borneo (siehe Blut durch Öl) und wieder Menschenleben in Alang und Chittagong.

Und dieses Wissen macht mir im Verein mit meinem Wunsch, ein guter Mensch zu sein, ein schlechtes oder eher gesagt, ein labbriges Gewissen. Es gibt ja mildernde Umstände: Ich bin auch nicht reich, ich wünsche schon lange, dass die Schaffer und Krummbuckler in den Sonderwirtschaftszonen besser bezahlt, besser vor ihrer Arbeit geschützt, eher wie Menschen behandelt werden (s. Abteilung guter Mensch). Außerdem gönnt man sich ja außer ein wenig Elektronik zur Weihnacht auch nichts. Und doch, und doch. Das labbrig schlechte Gewissen nimmt mir niemand ab, genauso wenig wie den Millionen anderen in Deutschland, die auch gerne gut leben und gleichzeitig gerne gut leben lassen würden.

Unsere Gesellschaftsform wäre nicht sie selbst, wenn sie hier nicht eine Marketingchance wittern würde. Auftritt: der "faire Handel" und das "nachhaltige Wirtschaften". Der Plan ist eigentlich recht einfach: Versehen wir doch unsere überflüssigen (überflüssig im Sinne einer Überproduktionskrise), unter großen menschlichen und ökologischen Kosten hergestellten Produkte mit ein paar ethischen Ziergirlanden, und gehen wir dadurch ein Bündnis mit dem labbrig schlechten Gewissen unserer Zielgruppe ein - der Erfolg wird unser sein.

Und genauso läuft es. Deswegen kann es im Fernsehen gar nicht genug Dokumentationen über Ökoautos geben, die nie Marktreife erreichen - Vaporware in jeder Hinsicht des Worts. Deswegen braucht es die vielen Umwelthinweise auf den x Verpackungsschichten um den kleinsten USB-Stick herum, ja man meint fast, dass er so redundant eingepackt ist, damit man die Umwelthinweise immer noch einmal aufdrucken kann. Deswegen erzählt der Hersteller meiner neuen Kamera von seinen "eco ideas".

Deswegen wird ein um die andere Klimakonferenz einberufen, um zu scheitern; deswegen vermittelt Apple den Eindruck, dass die Umwelt schlechter dran wäre, würden nicht so viele iMacs hergestellt und verkauft und deswegen tauchen "fair gehandelte" Waren in den Regalen von Discountern auf, denen man bisher gar keine Kenntnis des Begriffs "fair" unterstellen mochte. Die Aktion 3. Welt Saar, die schon fairen Handel betrieben hat, als der noch nicht aus Marketinggründen so hieß, reibt sich verwundert die Augen:

BMW baut Hybrid-Autos, C&A setzt auf Bio-Baumwolle und Nestlé lässt seinen Kaffee „fairtrade“ zertifizieren. Lidl versucht mit fair gehandelten Produkten abzulenken von schlechten Arbeitsbedingungen in seinen Filialen und von Dumpingpreisen für Milch. Heutzutage ist irgendwie jeder ein bisschen fair und öko. Während das Nachhaltigkeitsmarketing boomt und die KonsumoptimistInnen neue grüne Zeiten heraufbeschwören, sind die „alten Ökos“ über die „Discounterisierung der Bio-Branche“ entsetzt.

Das Problem liegt nicht im mangelnden guten Willen der Beteiligten

Das schlechte Umweltgewissen, das uns solche Produkte kaufen lässt, ist eng verwandt mit unserer fortwährend folgenlosen Bestürzung über das soziale Elend in der Welt - in Wirklichkeit sind ja Umwelt- und Menschenausbeutung nicht voneinander zu trennen, und der politisch korrekte Konsum verbindet beides auch ganz gern miteinander. "Fairer Handel" blüht marketingtechnisch je mehr auf, je schlechter die Chancen dafür stehen, dass er tatsächlich stattfindet. Und so geschieht es regelmäßig, dass sich der sogenannte faire Handel im Maßstab des Weltmarkts als ebenso substanzlos erweist wie das Greenwashing der Umweltvernutzer.

Das Problem liegt nicht im mangelnden guten Willen der Beteiligten. Das Problem besteht viel eher darin, dass angesichts des Tosens entfesselter Produktivkräfte und der offensichtlichen Unfähigkeit der Weltgesellschaft, die negativen Aspekte dieses Tsunamis zu beherrschen, eine Placebopolitik betrieben wird, die viel behauptet, aber nichts bringt. Es soll gar nicht bestritten werden, dass manche Initiativenarbeit, dass die Reduzierung von CO2-Ausstoss und Stromverbrauch im Einzelfall Sinn machen. Offenkundig ist aber doch, dass diese Anstrengungen nirgends hin reichen, dass auf einen Schritt nach vorn zehn zurück folgen, parallel zum Drama der Entwicklungshilfe, die nichts nützen kann, weil die Empfängerländer jedes Jahr ein Mehrfaches des Erhaltenen in die Rückzahlung von Schulden stecken.

Man muss an Brechts Gedicht "Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters" denken:

In den Tagen, als ihr Fall gewiß war -
Auf den Mauern begann schon die Totenklage -
Richteten die Troer Stückchen grade, Stückchen
In den dreifachen Holztoren, Stückchen
Und begannen Mut zu haben und gute Hoffnung.

Auch die Troer also.

Auch wenn es für uns derzeit noch nicht gar so dramatisch aussieht - kann man sich einen besseren Kommentar zu dem unerträglichen "Hopenhagen"-Gequatsche denken?

Und was die Forderungen nach Brot für die Welt angeht, während die Wurst hier bleibt, hat Adorno in seinen Bemerkungen zum Mitleid den Nagel auf den Kopf getroffen:

Nicht die Weichheit, sondern das Beschränkende am Mitleid macht es fragwürdig, es ist immer zu wenig. (...) Die narzißtischen Deformationen des Mitleids, wie die Hochgefühle des Philanthropen und das moralische Selbstbewußtsein des Sozialfürsorgers, sind noch die verinnerlichte Bestätigung des Unterschieds von arm und reich. Daß freilich Philosophie unvorsichtig die Lust an der Härte ausplauderte, hat sie für jene verfügbar gemacht, die ihr das Geständnis am wenigsten verziehen. Die faschistischen Herren der Welt haben die Perhorreszierung des Mitleids in die der politischen Nachsicht und den Appell ans Standrecht übersetzt, worin sie sich mit Schopenhauer, dem Metaphysiker des Mitleids, trafen.

Mit der Tatsache, dass der Kapitalismus weder ökologisch noch sozial wird, kann man auf verschiedene Weise umgehen. Man kann versuchen, im Kleinen, Konkreten zu helfen. Man kann den Zustand der Welt leugnen und glauben, dass in Wahrheit alles gut ist. Man kann sich voller Ernst der Revolution widmen, hoffentlich dann der richtigen. Und man kann im Bewusstsein der fortwährenden Katastrophe darauf beharren, sich nicht billig veralbern zu lassen, von wem auch immer. In diesem Sinne wünsche ich den Leserinnen und Lesern ganz ohne Sarkasmus frohe Festtage.