Pulverfass Syrien

Von der islamistischen Miliz Ahrar al-Sham veröffentlichtes Bild, das von einer Drohne aufgenommen sein und Al-Assad, eine Vorstadt von Aleppo, zeigen soll.

Beinahe-Zusammenstoß von Flugzeugen der USA und Russlands, Türkei hat Luftangriffe nach Drohung Syriens eingestellt, Streit über die geplante Einnahme von Raqqa

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Die Situation in Syrien und im Irak ist hochexplosiv, verstärkt durch die Intervention des Nato-Mitglieds Türkei, das mit Russland und den nordirakischen Kurden liiert ist. Der Kampf um Aleppo, die Offensive auf Mosul und die geplante Befreiung von Raqqa haben die tiefen Risse der rivalisierenden Koalitionen und Staaten offenbart. Dass es am 17. Oktober um Mitternacht, wie jetzt bekannt wurde, beinahe zu einem Zusammenstoß zwischen einem amerikanischen und einem russischen Kampfflugzeug gekommen wäre, erhellt nur, dass es jederzeit zu einer Erweiterung der Kämpfe kommen könnte, in die dann auch Deutschland direkt hineingezogen würde.

Der Vorfall ereignete sich, weil sich in Ostsyrien ein nicht näher beschriebenes US-Flugzeug ("larger framed aircraft"), wie es Brauch zu sein scheint, "allgemein in dem Gebiet befand", in dem ein russisches Aufklärungsflugzeug, das wie meist von einem Kampfflugzeug gesichert wurde, unterwegs war. Generalleutnant Jeff Harrigian, der Kommandeur der dem Central Command unterstellten Luftwaffeneinheit, schob die Schuld den Russen zu. Es käme zwar in der letzten Zeit oft zu solchen Begegnungen in der Luft zwischen Flugzeugen, aber dieser Vorfall wurde von den USA als bedenklicher eingestuft. Man habe diesen den Russen berichtet, die gesagt hätten, der Pilot habe das amerikanische Flugzeug gar nicht gesehen.

Die Entschuldigung wurde akzeptiert, so Harrigian, um dabei die technische Überlegenheit der US-Luftwaffe herauszustreichen. Er gehe auch nicht davon aus, dass die Russen die Absicht hätten, uns anzugreifen, aber in letzter Zeit würden Flugzeuge einander so nahe kommen, dass es in der Luft zu einem "Sicherheitskonflikt" kommen könnte, was etwa heißen könnte, dass ein Flugzeug das andere abschießt. Die USA seien weiterhin auf IS konzentriert. Völkerrechtlich ist allerdings umstritten – aber das spielt heute, wenn Großmächte im Spiel sind, zunehmend keine Rolle mehr -, ob die Flugzeuge der US-Koalition in Syrien fliegen dürfen, Russland war vom syrischen Regime eingeladen worden.

Auch der Pentagon-Sprecher Dorrian wollte den Russen nichts unterstellen und erklärte, man habe zunächst nicht über den Vorfall berichtet, weil solche Vorfälle praktisch täglich intern zur Konfliktentschärfung kommuniziert würden. Man gebe dies nicht an die Öffentlichkeit, "um die Temperatur unten zu halten". Dorrian konnte oder wollte aber auch nicht erklären, warum der Vorfall, den er als bislang einzigartig darstellte, dann später doch an die Medien gebracht wurde – vermutlich, so meinte er, als Beispiel für die Wichtigkeit der Kommunikation zwischen der russischen und der amerikanischen Luftwaffe.

Man darf dies allerdings im Rahmen der Versuche der US-Regierung sehen, Russland zu isolieren. Der Kreml-Sprecher Peskow wollte zu dem Vorfall keinen Kommentar abgeben, er wisse davon nichts. Russland und Syrien hatten in den letzten Tagen die Luftangriffe auf Ostaleppo eingestellt, was die "Rebellen", vor allem von der Fateh al-Sham Front (ehemals al-Nusra) ausnutzten, um eine Gegenoffensive mit schweren Waffen wie Panzern und Artillerie sowie mit Selbstmordangriffen zu starten. Nach Berichten schlugen Raketen in Wohngebiete in Westaleppo ein und töteten dort Zivilisten. In der Stadt sollen Straßenkämpfe begonnen haben.

Dass die Situation im syrischen Luftraum mit dem Kampf um Aleppo und der geplanten Offensive auf Raqqa kritisch ist, belegt zudem, dass die türkische Luftwaffe seit dem 22. Oktober keine Luftangriffe auf syrische Ziele mehr fliegt. Das will die Zeitung Hürriyet von einer Quelle aus dem türkischen Verteidigungsministerium erfahren haben, die aber anonym bleiben wollte. Am 20. Oktober hatte die syrische Regierung gewarnt, jedes türkische Flugzeug mit allen Mitteln abzuschießen, das unberechtigt in den syrischen Luftraum eindringt.

Im Rahmen der türkischen Operation Euphrates Shield, die vorgeblich gegen den IS gerichtet ist, vor allem aber den Zweck hat, den Einfluss der Kurden in Schach zu halten oder diese in Nordsyrien zurückzudrängen, wurden Stellungen der SDF/YPG mit Artillerie beschossen und von Flugzeugen angegriffen. Das scheint zunächst von Moskau geduldet worden zu sein. Die syrische Drohung war allerdings dann auch mit Moskau abgestimmt gewesen, was auf die weiter estehenden Differenzen zu Ankara hinweist, so hieß es denn auch, dass das russische Luftabwehrsystem aktiviert worden sei. Mit fehlender Unterstützung aus der Luft ist der türkische Vorstoß Richtung al-Bab durch die von der Türkei unterstützen Milizen, die als Freie Syrische Armee bezeichnet werden, um sie als gemäßigte Kräfte darzustellen, mehr oder weniger zum Stillstand gekommen.

Unklar bleibt weiterhin, welche Truppen Raqqa angreifen sollen. Die US-Regierung hatte ursprünglich vorgesehen, dass die kurdisch dominierte SDF die Offensive am Boden durchführen sollte, unterstützt durch Luftangriffe der US-geführten Koalition. Zunächst bestand der Plan darin, wie immer die Strategie ist, die "Hauptstadt" des IS in Syrien zu umstellen und zu isolieren. Am 27. Oktober hatte der türkische Präsident Erdogan angekündigt, dass türkische Truppen und die mit ihnen verbündeten Milizen zuerst al-Bab und Manbij einnehmen werden, ersteres vom IS und zweiteres von den SDF kontrolliert, um dann auf Raqqa vorzurücken. Die türkische Regierung fürchtet, dass bei der Offensive auf Raqqa nicht nur die SDF, sondern auch die PKK wesentlich beteiligt ist, wodurch die Region und womöglich Raqqa selbst nach der Befreiung zu einem kurdischen Gebiet werden könnte, aus dem die nicht-kurdischen sunnitischen Bewohner fliehen oder vertrieben werden.

Nach einem Gespräch mit US-Präsident Obama teilte Erdogan am 27. Oktober mit, er habe diesem gesagt: "Wir brauchen keine Terrororganisationen wie PYD/YPG. Lasst uns gemeinsam Daesh aus Raqqa vertreiben. Wir werden das zusammen hinkriegen." Die Amerikaner halten aber weiterhin an den kurdischen Bodentruppen fest und suchen mit Ankara einen Kompromiss zu finden. Offenbar dient dazu die Aussicht, dass die USA eine Beteiligung der türkischen Truppen an der Mosul-Offensive versprechen, was allerdings Washington stärker in Konflikt mit Bagdad und Teheran bringen würde. Aus der Sicht von Ankara ist aber das Misstrauen berechtigt, schließlich hatten die USA auch versichert, dass sich die SDF aus Manbij nach der Eroberung zurückziehen werde, was aber nicht geschehen ist.