Ein Finger gen China, der Rest...

Für Journalisten ist die Verurteilung des Dissidenten Liu Xiabos eine willkommene Gelegenheit, Chinas Umgang mit der Meinungsfreiheit zu geißeln - ein nicht nur kurzsichtiges, sondern auch kontraproduktives Verhalten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Bestürzung und Stillhalten

Stets wird, wenn in China ein Dissident zu einer (hohen) Haftstrafe verurteilt wird, dies mit Bestürzung, mit Entsetzen oder geschockt aufgenommen. Gerade die Politiker Europas sind es, die dann Chinas Begrenzung der Meinungsfreiheit sowie die harten Sanktionen gegen diejenen, die gegen diese Grenzen verstoßen, öffentlich anprangern. Den wirtschaftlichen Beziehungen zu China tut dies keinen Abbruch, denn gegenüber den chinesischen Politikern sind die Worte weitaus weniger heftig als jene, die laut trommelnd den Weg in die Medien finden. Wie auch etliche Unternehmen findet die Politik fortwährend Entschuldigungen dafür, dass das derzeitige Verhalten Chinas toleriert werden müsse weil sich durch weitergehenden wirtschaftlichen Fortschritt eine Wandlung der politischen Zustände zwangsläufig ergebe.

Firmen wie der Suchmaschinenbetreiber Google kleiden ihre Unterstützung der chinesischen Zensur in hübsche Phrasen, die von einem angestrebten "Gleichgewicht zwischen den Interessen der Nutzer, größerem Zugang zu Informationen und "der Antwort auf lokale Bedingungen in den Märkten, die wir bedienen" sprechen. In der Realität handelt es sich auch bei den „schweren Entscheidungen“, die Google, Yahoo oder MSN Search getroffen haben, lediglich um die Entscheidung, einer Blockade zu entgehen und vom chinesischen Kuchen ein Stück abzubekommen.

Doch damit dies nicht zu gierig und hässlich klingt, wird angegeben, jedes Engagement in China führe automatisch zu einer Öffnung und somit wäre die Unterstützung der Zensur eigentlich eher eine Ablehnung bzw. eine Methode, diese langfristig zu ändern oder abzuschaffen. Dabei sind sich sowohl Politik und Wirtschaft einig, dass man den Handelspartner China nicht verärgern möchte, weshalb die Menschenrechte, wie das auf Meinungsfreiheit, zurückstehen müssen.

Die hohle Nuss „Meinungsfreiheit“

Lediglich das Stillhalten zu kritisieren, wäre aber zu einseitig. Denn Politik, Wirtschaft und Journaille finden gerade bei Verhaftungen von Dissidenten eher selten den Punkt, an dem sie auch die eigene Situation betrachten. „Ich bedauere, dass die chinesische Regierung trotz großer Fortschritte in anderen Bereichen die Meinungs- und Pressefreiheit immer noch massiv einschränkt“, ließ sich die Bundeskanzlerin vernehmen und schweigt jedoch zu der zunehmenden Problematik der Presse- und Meinungsfreiheit in Deutschland, die nicht nur durch die momentan in Karlsruhe zu beratende Vorratsdatenspeicherung gefährdet werden.

Dabei wäre es an der Zeit, die Meinungsfreiheit in Deutschland ebenso einer kritischen Beobachtung zu unterziehen.

(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

Absatz 2 des Artikel 5 GG lässt bereits etliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit zu, gerade im Bereich des Jugendschutzes. Doch stärker wiegt der Passus „in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze“. Gerade das StGB definiert in Deutschland etliche Grenzen der Meinungsfreiheit. Neben den allgemein größtenteils anerkannten Straftatbeständen wie Beleidigung, üble Nachrede etc. finden sich dort unter anderem die umstrittenen Paragraphen zur Thematik Kinderpornografie (die auch Literatur beinhalten), Verunglimpfung des Bundespräsidenten, des Staates und seiner Symbole, Verletzung von Flaggen und Hoheitszeichen ausländischer Staaten, Störpropaganda gegen die Bundeswehr, Aufforderung zu Straftaten (ebenso wie Anleitung oder Billigung zu/von Straftaten), Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft oder Volksverhetzung.

Nationale Befindlichkeiten

Dies zeigt bereits, dass Deutschland, wie jedes Land, seine persönlichen Grenzen für die Meinungsfreiheit definiert und eine Verletzung entsprechend sanktioniert. Anders als in China gibt es in Deutschland keine Arbeitslager etc., doch die Begründungen für Einschränkungen der Meinungsfreiheit ähneln sich frappierend. China beispielsweise sieht in Aufrufen zu mehr Demokratie den Zusammenhalt des Staates gefährdet, eine Gefahr für die innere Sicherheit also.

Aus gleichen Gründen gibt es in Deutschland beispielsweise die §§ 129a und 130 StGB. Insbesondere der §130 StGB ist ein sehr spezifischer Paragraph, der seine Herkunft der Vergangenheit Deutschlands verdankt und unter anderem die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellt. Eine Praxis, die auch von ehemaligen Verfassungsrichtern kritisiert wird.

Ich bin beispielsweise kein Anhänger der Strafbarkeit der Holocaust-Leugnung. Natürlich ist das ein deutsches Sonderproblem, das sich unserer unseligen Geschichte verdankt. Aber es wäre mir recht, wenn wir dieses Sonderproblem nicht mehr hätten.

W. Hassemer in der Süddeutschen Zeitung

Jedes Land setzt seine eigenen Grenzen für Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit und die ewigwährende Kritik an China und anderen Staaten, die sich lediglich darauf kapriziert, dass es dort solche Grenzen gibt, ist nicht nur heuchlerisch, sondern auch kontraproduktiv. Sie gibt denjenigen, die die Kritik an den einzelnen (oft willkürlich auslegbaren) Grenzen und den Sanktionen abwehren möchten, bereits die Argumente hierfür an die Hand: Die Tatsache, dass bei einem anklagend ausgestreckten Zeigefinger gen China noch vier Finger auf den Ankläger selbst weisen.

Dies aber lenkt von dem eigentlichen Thema, nämlich der Frage, ob die Sanktionen noch mit den Menschenrechten zu vereinbaren sind, ab und definiert bereits die Einschränkung der Meinungsfreiheit als Menschenrechtsverstoß. Wenn dem so wäre, würde auch das deutsche Grundgesetz Menschenrechtsverstöße explizit gutheißen bzw. ermöglichen.