Warum wir zum Gehen im Kreis neigen

Ohne äußere Orientierungspunkte können Menschen nicht gerade gehen

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Es ist womöglich eine paradigmatische Erzählung der Moderne, die Descartes in seinem Discours de la méthode den Lesern vorschlägt. Wer nicht weiter weiß und sich nicht orientieren kann, wird mit einem Wanderer verglichen, der sich in einem Wald verlaufen hat. Der einflussreiche französische Philosoph empfiehlt, nicht hin und her zu laufen oder zu verharren, sondern gerade bei Unkenntnis des richtigen Weges eine beliebige Richtung einzuschlagen und diese möglichst unbeirrt zu verfolgen. Also einfach immer gerade aus. Die Entschlossenheit, einmal bei seiner Entscheidung zu bleiben, wird als goldener Weg zur Lösung der Probleme empfohlen. Zudem ist die Gerade die kürzeste Entfernung.

Allerdings hat sich Descartes die Situation zu einfach vorgestellt. Selbst wenn wir seine Entschlossenheit zur Geradlinigkeit übernehmen wollten, könnten wir nicht geradeaus gehen, wenn wir uns in unbekanntem Gelände nicht orientieren können. Die Erzählungen, dass Wanderer in der Wüste im Kreis gehen und womöglich wieder ihre eigenen Fußspuren entdecken, könnten wahr sein, haben nun Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Biologische Kybernetik, des Multimodal Interaction Lab der McGill University und des Laboratoire d'Analyse et d'Architecture des Systèmes des Centre National de Recherche Scientifique herausgefunden. Man könne sich zwar an Sonne oder Mond oder an markanten Bergen oder Türmen orientieren, ansonsten aber stehen die Chancen gut, immer im Kreis zu gehen, also die Bewegung des Universums nachzuahmen.

Bild: Telepolis

Erstaunlich ist freilich, dass es keine Bevorzugung einer Richtung zu geben scheint, schreiben die Autoren in ihrer Studie, die in Current Biology erschienen ist. Dieselbe Person geht einmal links, das andere Mal rechts. Die kreisförmige Bewegung scheint dem Zufall zu folgen oder der fälschlichen Überzeugung eines Menschen, wie es wäre, geradeaus zu gehen, was Descartes gar nicht gefallen hätte, da damit seine "Lösung" keine wäre.

Die Tübinger Wissenschaftler Jan Souman und Marc Ernst haben zusammen mit kanadischen und französischen Kollegen Versuchspersonen mit einem GPS-System ausgestattet und sie in der Sahara und in einem Waldgebiet im Rheintal gebeten, einen geraden Weg einzuschlagen. Das klappte auch, solange sich die Versuchspersonen an der Sonne bzw. an den Schatten orientieren konnten, sobald diese aber von Wolken verdeckt war, wichen sie von der Geraden ab und begannen in Kurven und Kreisen zu gehen. Von den vier Versuchspersonen, die bei verdeckter Sonne im Kreis gingen, kreuzten drei mehrmals die von ihnen zuvor eingeschlagenen Wege, ohne dies zu bemerken.

In einem weiteren Experiment sollten Versuchspersonen, denen die Augen verbunden wurden, auf einem freien Feld versuchen, geradeaus zu laufen. Zufällig wichen die Wege von der geraden Linie ab, und das recht schnell. Manche Versuchspersonen versuchten geradeaus zu gehen und gingen in Kreisen, die manchmal sogar einen Durchmesser mit weniger als 20 Metern hatten. Kleine Abweichungen der sensomotorischen Reize scheinen sich zu verstärken und ein Rauschen zu erzeugen, das die Absicht durchkreuzt. Die Körperwahrnehmung reicht nicht aus, ohne Halt im Außen gerät man in die Selbsttäuschung. Dabei sollen unterschiedlich lange und kräftige Beine (biomechanische Asymmetrien) keine Rolle spielen, und auch andere spezifische "Neigungen" schließen die Wissenschaftler aus.

Die Neigung zum Kreisen könnte dafür sprechen, dass die Menschen lieber im Vertrauten bleiben und sich nicht in der Ferne verlieren wollen. Mit verbundenen Augen und ohne äußere Orientierungshilfen würden sich Menschen nach den Experimenten im Durchschnitt nicht weiter als 100 Meter von ihrem Startpunkt entfernen. Man kreist also doch lieber um sich, was nun aber doch Descartes, dem Vertreter der Rationalität, wieder entgegen kommen könnte. Rational wäre womöglich, dem natürlichen Streben nach dem Beisichbleiben zu widerstehen. Fragt sich nur, wie man die Geschwindigkeit erreichen könnte, die einen aus der Kreisbahn treibt, also die Fluchtgeschwindigkeit, von der der französische Philosoph wohl überhaupt träumte. Eine Erklärung für das Phänomen, im Kreis zu gehen, sind uns die Wissenschaftler aber schuldig geblieben.