"Man braucht Guantanamo nicht, um Attentäter vor Gericht zu stellen"

Roger Willemsen über die Situation der ehemaligen Guantanamo-Häftlinge und die Enttäuschung über Obamas Politik

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Nach dem gescheiterten Anschlag in Detroit gab es Meldungen darüber, dass die Drahtzieher ehemalige Guantanamo-Häftlinge seien. In den Vereinigten Staaten haben sich prompt Republikaner und auch Demokraten dafür ausgesprochen, Guantanamo doch nicht zu schließen. Roger Willemsen, der sich seit langem für die Schließung Guantanamos einsetzt, kritisiert dies scharf. Er hatte persönlich ehemalige Guantanamo-Häftlinge getroffen und für sein Buch Hier spricht Guantanamo (2006) interviewt.

Die USA erwägen nun Guantanamo doch nicht zu schließen, da laut Geheimdienstinformationen einige der Drahtzieher des gescheiterten Anschlags in Detroit ehemalige Guantanamohäftlinge sein sollen. Sind die Häftlinge oder ehemaligen Häftlinge ein Sicherheitsrisiko?

Roger Willemsen: Man braucht Guantanamo nicht, um Attentäter vor Gericht zu stellen. Man braucht Guantanamo, um an einem solchen Verfahren vorbei zu kommen. Zunächst bezweifle ich, dass ehemalige Häftlinge beteiligt waren. Wir haben solche eklatanten Desinformationen durch die US-Administration erhalten, dass es keinen Grund gibt, diese Aussage zu glauben. Was würde besser in eine Situation passen, in der man das Lager offenbar gegen alle Versprechen nicht schließen will, als einen Grund zu simulieren, es nicht zu schließen? Abgesehen davon wäre es geradezu märchenhaft, wenn die Erfahrung im Lager Häftlinge nicht gegen die USA agitiert hätte.

Sie haben Ex-Häftlinge getroffen und für Ihr Buch "Hier spricht Guantanamo" interviewt. Was hatten Sie für einen Eindruck von ihnen? Können die Erlebnisse, die diese in Guantanamo hatten, zu einer Radikalisierung geführt haben?

Roger Willemsen: Eben, so könnte es sein. Aber nach meiner Erfahrung und nach allen Recherchen, die wir für amnesty und andere Organisationen geführt haben, ist die Selbstbeherrschung der Ex-Häftlinge erstaunlich. Sie wollen in der Regel nichts anderes als einen Prozess, ein gerechtes, völkerrechtlich abgesichertes Verfahren. Und vergessen wir nicht: Es handelte sich bei ihrer Gefangennahme fast ausschließlich um unbescholtene Bürger, deren Unschuld auch von den USA eingestanden wurde, sonst hätte man sie nicht aus dem Lager entlassen – oder wer glaubt wirklich, die USA hätten Häftlinge entlassen, die sie als tickende Zeitbomben eingestuft hätten?

Wie beurteilen Sie Obamas Politik? Er hatte versprochen Guantanamo binnen eines Jahres zu schließen...

Roger Willemsen: Wir wussten, dass er uns alle enttäuschen würde, aber an die Schließung von Guantanamo und den entsprechenden Lagern in Baghram und Kandahar habe ich doch geglaubt. Dass er uns jetzt so enttäuscht, hängt auch mit dem inneramerikanischen Druck zusammen. Er wird ungestraft mit Hakenkreuz abgebildet oder als Affe. Eine vergleichbare Kampagne gegen einen Präsidenten hat es in der Geschichte der USA nicht gegeben. Das erhöht seine Angst vor unpopulären Maßnahmen.

Sind Sie noch in Kontakt mit den Guantanamo-Insassen, die Sie getroffen hatten? Was ist aus ihnen geworden? Wie haben sie Guantanamo verarbeitet? Haben sie den Übergang in den Alltag geschafft?

Roger Willemsen: Die beiden russischen Häftlinge sind gleich wieder inhaftiert und gefoltert worden, weil man sie für einen Anschlag verantwortlich machte, den sie nicht begangen haben können, weil sie zur gefragten Zeit im Lager waren. Die Situation der Häftlinge ist trostlos. Sie leben unter dem Existenzminimum, haben keine Unterstützung, keine Kompensation, können ihre Familien nicht ernähren und leben teilweise getrennt von ihnen aus Angst vor Sippenhaft.

Haben sie Rachegefühle gegen die USA oder gegen den Westen aufgrund des Unrechts, das ihnen widerfahren ist?

Roger Willemsen: Das war zunächst das Verblüffendste: Kein lautes Wort, keine Polemik, kein Hass, sondern ein beharrliches Insistieren darauf, nach internationalem Recht behandelt zu werden, das war's. Und das sollte für einen deklarierten Rechtsstaat ja wohl das Mindeste sein, dass er seine Beschuldigten einer juristisch einwandfreien Institution in einem einwandfreien Verfahren unterwirft!

Mehr von Eren Güvercin in seinem Blog.