Entscheidungsfindung via Software

Die Berliner Piraten wollen mit "LiquidFeedback" parteiintern interaktive Demokratie verwirklichen

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Neben den Themenbereichen Immaterialgüterrechte und Überwachung gehört auch die stärkere Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen zu den Kernthemen der Piratenpartei. Schlagworte hierfür sind "direkter Parlamentarismus", "partizipativer Parlamentarismus" und "Liquid Democracy". Danach sollen Bürger sich nicht nur an Abstimmungen, sondern auch an der Formulierung der Gesetz- Verordnungs- und Vertragsentwürfe beteiligen können - eine Tätigkeit, die derzeit häufig von Lobbyisten oder privaten Kanzleien übernommen wird, was nicht nur erhebliche Korruptionsrisiken in sich birgt, sondern auch Effekte wie "Paperclipping" und das irreführende Benennen von Gesetzen, die das Gegenteil von dem regeln, was ihr Name suggeriert. Außerdem würden Bürger in einer "flüssigen" Demokratie ihre Stimme nicht nur für mehrere Jahre an einen für Alles zuständigen Vertreter abgeben, sondern nach Fachgebieten und Sachfragen differenziert wählen, selbst abstimmen und Vollmachten auch wieder entziehen können.

Als Labor für solche flüssigdemokratischen Experimente hält derzeit die Partei selbst her, die sich vor allem seit der Eintrittswelle im letzten Jahr Gedanken darüber macht, wie man das bisher praktizierte Demokratienniveau auch als Massenbewegung halten kann. Daraus entstanden unter anderem die Projekte Candiwi, Adhocracy, Votorola und LiquidFeedback, das seit einigen Tagen landesverbandsöffentlich zur Verfügung steht und mit dem ein Parteitag vorbereitet werden soll.

LiquidFeedback besteht aus einem Frontend und einem Kern aus PostgreSQL -Datenbankviews und -prozeduren. Die Entwickler haben sich im Verein Public Software Group e. V. organisiert und ihr Werk unter die freie MIT-Lizenz gestellt, wodurch es jedermann kostenlos zur Verfügung steht. Ziel der Programmautoren ist es nach eigenen Angaben, die innerparteiliche Demokratie bei möglichst vielen Parteien zu stärken, was ihrer Ansicht nach den Charakter der Politik nachhaltig verändern würde. Deshalb ermutigen sie andere politische Gruppierungen, Vereine und Stiftungen sogar, LiquidFeedback ebenfalls auszuprobieren.

Mit der Software lässt sich über Anträge diskutieren und abstimmen. Dabei wird unter anderem sichtbar gemacht, wie viele Teilnehmer einen Antrag in seiner derzeitigen Form unterstützen. Zudem erfährt der Initiator eines Vorschlages, durch welche Änderungen er Unterstützer gewinnen oder verlieren würde. Andere Teilnehmer können aber nicht nur Änderungsvorschläge machen, sondern auch Konkurrenzentwürfe einbringen und für diese Feedback sammeln.

Wird in LiquidFeedback ein Thema eingebracht, dann bleibt es mit allen dazu erstellten konkurrierenden Anträgen so lange auf dem Status "neu", bis es ein frei bestimmbarer Prozentsatz der Mitglieder eines Themenbereichs zuzüglich der spontan am Thema Interessierten als potenziell debattierenswert markiert. Durch die Einbeziehung der zweiten Gruppe soll sichergestellt werden, dass man sich beispielsweise nicht zum Mitglied des Themenbereichs "Soziales" erklären muss, nur um einmal beim Thema Bedingungsloses Grundeinkommen mitzureden und dann gegebenenfalls als "Karteileiche" permanent quorenerhöhend zu wirken.

Erreicht ein Thema das Interessentenquorum, dann wechseln alle Anträge zu diesem Thema in den Diskussionsstatus und alle Stimmberechtigten werden über ihn informiert. Bleibt ein neuer Antrag unterhalb des Quorums, dann gilt er nach einer frei festsetzbaren Frist als "nicht relevant". Laut Andreas Nitsche, einem der Entwickler der Software, sind dadurch aber keine Probleme wie in der Wikipedia zu befürchten, weil nicht eine Person oder ein Gremium über die Relevanz entscheidet, sondern alle interessierten Mitglieder. Darüber hinaus wird das Quorum für den Statuswechsel von der Organisation festgelegt, die LiquidFeedback einsetzt, und kann deshalb auch null Prozent betragen.

Je nach gewähltem und für die Art der Entscheidung zulässigem Verfahren dauert die Diskussionsphase 24 Stunden bis mehrere Wochen. Vor dem Beginn der eigentlichen Abstimmung läuft eine Frist, in der keine Änderungen mehr an-, aber neue Anträge eingebracht werden können. Hintergrund dieser Regelung ist die Möglichkeit, dass ein "falscher Freund" einer Idee einen mehrheitsfähigen Antrag anfertigt, der andere davon abhält, ihn selbst zu stellen, dann aber diesen Antrag im letzten Moment zurückzieht oder massiv ändert. Durch die Übergangsphase kann der Antrag in der ursprünglichen Form durch einen beliebigen anderen Initiator wieder eingestellt werden, was solche "feindlichen Übernahmen" erheblich erschwert.

Schutz gegen taktisches Wählen

Wählen lässt sich in LiquidFeedback auf verschiedene Weisen. Die Berliner implementierten für ihren Testeinsatz die sogenannte Präferenzwahl nach der Schulze-Methode, bei der Zustimmungen und Ablehnungen in einer Reihenfolge präferiert werden können, was den Anreiz vermindert, den eigentlich für am Besten befundenen Vorschlag aus taktischen Gründen nicht zu wählen, weil man anderen bessere Chancen einräumt. Nach dem Ende der Abstimmungsphase fallen die nicht mehrheitsfähigen Anträge weg und die mehrheitsfähigen werden in eine Reihenfolge gebracht. Als angenommen gilt derjenige Antrag, der in dieser Reihenfolge ganz oben steht. Stehen zwei Anträge gleichrangig auf Platz 1, dann siegt derjenige mit dem besseren Verhältnis von Zustimmungen zu Ablehnungen. Sind die Ergebnisse auch in dieser Hinsicht identisch, erhält der früher eingebrachte den Vorrang.

Abgestimmt wird in dem System nicht geheim, sondern namentlich oder mit Pseudonym. Dadurch kann nachvollzogen werden, wer wie gewählt hat, was unter anderem der Kontrolle der Verwalter von delegierten Stimmen dient. LiquidFeedback erlaubt nämlich sowohl die direkte Beteiligung an Abstimmungen als auch die themenbereichs- oder themenbezoge Delegation an Dritte. Dahinter steht die Hoffnung auf Stimmenakkumulation bei kompetenten Personen in einem evolutionären Prozess. Im Unterschied zu den Verfahren etablierter Parteien können delegierte Stimmbefugnisse aber jederzeit wieder entzogen werden.

Darüber hinaus verhindern namentliche Abstimmungen auch, dass die bei elektronischer Stimmabgabe vielfältigen Möglichkeiten der Wahlfälschung zum Einsatz kommen, ohne dass dies wenigstens im Nachhinein aufgedeckt wird. Ebenfalls der Vermeidung potenzieller Manipulationen und taktischer Entscheidungen dient die von den Herstellern des Systems unter Verweis auf das Gibbard-Satterthwaite-Theorem und das General Impossibility Theorem von Kenneth Arrow empfohlene Geheimhaltung von Zwischenergebnissen.

Die endgültige Entscheidung über Anträge soll jedoch erst auf dem für Ende Februar angesetzten Parteitag selbst fallen. Die mit LiquidFeedback zustande gekommenen Entscheidungen stellen dort auch nach einem erfolgreichen Test lediglich Handlungsempfehlungen für die anwesenden Repräsentanten dar. Zudem können mit der Software nur Sachfragen entschieden werden, da das Parteiengesetz in seiner derzeitigen Fassung geheime Personenwahlen vorschreibt.