"2020 wird Google Gedanken lesen"

Wo steht die Forschung in zehn Jahren?

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Suchanfragen aus dem Gehirn, Selektion von Embryos als Normalfall, Bakterienentwicklung per Bauplan: Das Wissenschaftsmagazin Nature hat Experten befragt, in welche Richtung sich ihre Fachgebiete entwickeln werden.

Mit Prognosen ist das so eine Sache - je weiter in die Zukunft gerichtet sie sind, desto ungenauer werden sie. Sie sind aber trotzdem fast immer aussagekräftig: Wenn schon nicht darüber, was die nächsten Jahre bringen werden, dann zumindest über Geisteshaltung und -zustand der Personen, die sie abgeben. So verraten die technikverliebten Utopien der 50-er und 60-er sehr viel über die damalige Zeit, wie auch die düsteren Vorhersagen der 70-er etwas vom damaligen Zeitgeist erzählen. In diesem Sinne muss man wohl auch die Weissagungen sehen, die das Wissenschaftsmagazin Nature von führenden Propheten, nein Forschern, unserer Zeit eingefordert hat.

Direkte Gehirn-Maschine-Kommunikation

Zum Thema Suche etwa kommt der Google-Forschungsdirektor Peter Norvig zu Wort. Die Mehrheit der Suchanfragen werde 2020 in gesprochener Form eingegeben, meint er - eine Minderheit sogar schon in direkter Gehirn-Maschine-Kommunikation. Die durchsuchten Inhalte bestehen dann aus einer Mischung von Text, Sprache, Fotos und Videos, aber auch aus aufgezeichneten Interaktionen mit Freunden, aus Caches von GPS-Sensoren oder Aufzeichnungen medizinischer Geräte. Die Suchergebnisse werden Google & Co nicht mehr als Liste liefern, sondern sie inhaltlich zusammenfassen, automatisch in die Anwendersprache übersetzen, bewerten und ranken.

Zunehmende Akzeptanz vorgeburtlicher Selektion

Mit dem Menschen befassen sich David Relman und David Goldstein. Ersterer weist auf ein nahe liegendes, aber noch immer fast unbekanntes Terrain hin: Die Mikroben-Fauna des Menschen. Wie wirken sich Bakterien-Populationen auf unsere Gesundheit aus, wie verhalten und entwickeln sie sich? Bis 2020 sollte man dazu einige Antworten gefunden haben - die Forscher vermuten jedenfalls, dass ihr Zusammenspiel im menschlichen Körper weit wichtiger ist, als man heute weiß.

In ähnliche Richtung geht die personalisierte Medizin: In zehn Jahren wird man noch genauer wissen, welche Genkombination zu welchen Gesundheitsrisiken führt. Damit einhergehend befürchtet der Forscher Goldstein eine zunehmende Akzeptanz vorgeburtlicher Selektion - man wird dann eben nicht nur Trisomie 21 im Mutterleib feststellen können, sondern auch ein verzehnfachtes Alzheimer-Risiko. Will man sein Kind bewusst mit diesem Risiko aufwachsen lassen?

Geisteskrankheiten auf biologischer Ebene behandelbar

Dazu passt, dass der Hirnforscher Daniel Weinberger damit rechnet, dass bis 2020 auch einige Geisteskrankheiten auf biologischer Ebene behandelbar sein werden, statt stets nur an den Symptomen herumzudoktern. Dabei helfen wird uns die synthetische Biologie, wie der Genetiker George Church meint. Die Kosten einer DNA-Analyse sind inzwischen so rapide gefallen, dass als nächster Schritt nun eine Art CAD-gestützte biologische Bauplanung folgen müsste. Mit einer simplen Software klicken sich Biologen dann ihre Modellorganismen zusammen und können so etwa Bakterien erzeugen, die einen Tumor aufspüren, sich dann in dessen Zellen bohren und schließlich dort ein Zellgift freisetzen.

Ebenso werden fehlertolerante biologische Schaltkreise dann die an ihre Grenzen gekommene Elektronik ersetzen. Über diese neuen medizinischen Möglichkeiten werden sich Europäer zuerst freuen, gefolgt von Ostasien: Hier macht sich der Trend zur Überalterung der Gesellschaft am schnellsten bemerkbar. 2020, meint der Demograf Joshua Goldstein, werde die Mehrheit der Europäer mehr Jahre hinter sich als vor sich haben.

Politik und technische Expertise

Ein Traum dürften die Forderungen von Jefrey Sachs, Direktor des Earth Institute, bleiben: Sachs stellt sich vor, dass 2020 die Politik tatsächlich die technische Expertise von Wissenschaftlern berücksichtigen wird - und dass dann Lobbying-Mechanismen keine Rolle mehr spielen. Hoffnung macht dabei, dass einigen Staaten eine Beschränkung des Lobbyismus schon gelungen ist - die USA müssten nachziehen.

Ob all diese Voraussagen auch tatsächlich eingetreten sind, wird Telepolis womöglich im Januar 2020 diskutieren - am besten, Sie legen sich schon mal ein Lesezeichen an. Besonders gut stehen die Chancen zum Glück nicht, denn Nature hat sich zumindest in einem grundlegenden Fakt geirrt: Das Januarhaft des Magazins ist noch lange nicht die „erste Ausgabe der neuen Dekade“ - denn die beginnt erst 2011.