Helmut Schreyer: eine Deutsche Karriere

Schreyer, Freund von Konrad Zuse und Mitbauer von Teilen seiner Rechenmaschinen, während der Nazizeit

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Helmut Schreyer ist vor allem als Freund und Weggefährte von Konrad Zuse, dem deutschen Erfinder des Computers, bekannt. Schreyer und Zuse lernten sich um 1935 kennen1. Sie waren beide Mitglieder im Akademischen Verein Motiv, eine studentische Verbindung an der Technischen Hochschule Charlottenburg, der heutigen Technischen Universität Berlin. Konrad Zuse war zwei Jahre älter als Schreyer und begann 1936/37 mit dem Bau einer mechanischen Rechenmaschine in der Wohnung seiner Eltern. Dabei wurde er von Schreyer unterstützt. Er richtete ihm eine elektrische Laubsäge für die Fertigung der mechanischen Bauteile ein, setzte einen Lochstreifenleser für die Rechenmaschine zusammen und schlug Zuse vor, Telefonrelais und sogar Elektronenröhren für seine Rechenmaschinen zu verwenden. Deswegen erinnert man sich heute an Schreyer als einen der Ersten, der den Bau einer vollelektronischen Rechenmaschinen ins Auge gefasst hatte, allerdings ohne es letztendlich zum Abschluss gebracht zu haben.

Von Schreyer ist recht wenig bekannt. Einige biographische Bruchstücke sind veröffentlicht worden, aber sein Leben bleibt vom Schleier der Legende umhüllt. Das ist verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sein Name häufig zusammen mit Zuse als Miterfinder des Computers erwähnt wird. In einem Web-Auftritt der TU Berlin z.B. wird Schreyer als prominenter Alumnus der TU-Elektrotechnik erwähnt2. In diesem Aufsatz möchte ich das Phänomen Schreyer und den Widerspruch zwischen Kreativität, Forschung und akademischer Karriere zu jener Zeit thematisieren.

Um es vorwegzunehmen: Im Jahr 1933 wurde Helmut Schreyer Mitglied der NSDAP. Er war einer jener frühen Hitler-Begeisterten, die nach der „Machtergreifung“ in Scharen zur NSDAP strömten. Damals stieg die Anzahl der Parteimitglieder zwischen Januar und April 1933 von 850.000 auf über 2,5 Millionen an. Der Ansturm auf die Parteibücher war so groß, dass bereits in diesem April eine Aufnahmesperre verhängt wurde, die erst 1937 mit massiven Neuaufnahmen beendet wurde. Mitglieder wurden zuerst echte Gesinnungsgenossen, danach auch flinke Karrieristen. Die Parteizugehörigkeit von Schreyer ist bedeutsam, da sie vielleicht den Schlüssel für weitere wichtige Ereignisse in seinem Leben liefert (wie die Tatsache, dass er nie zum Militärdienst einberufen wurde). Die Angelegenheit ist auch wichtig, weil in jüngster Zeit die Einstellung von Zuse zu den damaligen Verhältnissen in Deutschland fast ins Absurde gerückt wird. So sagt ein fiktiver Zuse in Friedrich Christian Delius‘ Roman „Die Frau, für die ich den Computer erfand“3, „in meinem Freundeskreis hat es keine Parteileute gegeben.“ Doch niemand stand Zuse näher als Schreyer.

Helmut Theodor Schreyer wurde am 4. Juli 1912 in der Kleinstadt Selben, nahe Halle als Sohn des Pfarrers Paul Schreyer und seiner Frau Martha geboren. Im Lebenslauf seiner Dissertation von 1941 schreibt er:

Im Jahre 1915 kam ich nach Mosbach in Baden, wo ich 1919 die Volksschule und anschließend das dortige Realgymnasium besuchte, und dort im Jahre 1933 das Abiturium bestand. Nach praktischer Tätigkeit bei der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft begann ich in November 1934 mein Studium der Elektrotechnik-Fernmeldetechnik an der Technischen Hochschule Berlin, das ich im Dezember 1938 mit der Diplom-Hauptprüfung abschloss. Während des Studiums praktizierte ich ferner bei Siemens und Halske in Berlin und bei einer Eisengießerei in Neckarelz in Baden, sowie bei einer Rundfunkgroßhandlung in Mosbach in Baden.

Als Schreyer das Studium an der TH Charlottenburg aufnahm, wurde er Mitglied des Vereins Motiv. Nach Auskunft von Konrad Zuse4 besuchte er 1937 zum ersten Mal seine Werkstatt im Wohnzimmer der Eltern und schlug auf Anhieb vor, die mechanische Maschine in eine elektrische umzuwandeln. Ab 1938 war Schreyer „Gast“ beim Professor Wilhelm Stäblein am „Institut für Schwingungsforschung“, wahrscheinlich als Diplomand. Das Institut war das damalige und heutige Heinrich-Hertz-Institut in Berlin. Der Name wurde 1933 geändert, da Heinrich Hertz jüdischer Abstammung war. Prof. Stäblein muss Schreyer fachlich sehr geschätzt haben, da er ab Januar 1939, d.h. nur ein Monat nach der Diplomprüfung, bei ihm Assistent am Lehrstuhl für Fernsprech- und Telegrafentechnik wurde. Stäblein selbst kam aus der Industrie -- er war von 1927 bis 1936 bei der Forschungsabteilung der AEG tätig gewesen. Schreyer war, zusammen mit Herbert Raabe, einer seiner ersten Assistenten.

Im Deutschland der Dreißiger Jahre zu studieren, war etwas anderes als heute, in der Ära der Massenuniversität. Bei einer Bevölkerung von 65 Millionen gab es lediglich etwa 100.000 Studenten, heute dagegen, 2,1 Millionen Studenten auf 82,1 Millionen Einwohner. D.h. 1933 gab es 1,5 Studenten je Tausend Einwohner, heute etwa siebzehnmal so viel. Wenige Familien konnten sich den „Luxus“ leisten, ihre Kinder an die Universität zu schicken. Die Lebenseinstellung der Studenten war dementsprechend eine andere als heute, wo die Studenten oft noch als progressiv gelten. Körperschaften und studentische Verbindungen erlebten damals das Auslaufen ihrer Blütezeit und waren konservativ eingestellt. Konrad Zuse selbst urteilte über den AV Motiv, dass er eher rechts einzuordnen war5. In der Weimarer Republik brach aber allmählich der Elitestatus der Studenten ein. Kriegsrückkehrer und die Zulassung von Frauen in den Universitäten ließen die Studentenzahlen von 79.000 im Jahr 1914 bis auf 125.000 im Jahr 1924 steigen. In den darauf folgenden Jahren wurde immer lauter über die Überfüllung der Universitäten geklagt. Die Studenten, als Gruppe betrachtet, verarmten zusehends6. Es bildete sich ein fruchtbarer Boden für rechte radikale Ideen.

Wir kennen die genauen politischen Ansichten von Helmut Schreyer leider nicht, jedoch darf man annehmen, dass er dem Zeitgeist folgte. Bereits Jahre vor der Machtergreifung konnten die Nationalsozialisten große Erfolge bei den Wahlen der studentischen Vertretungen in ganz Deutschland verbuchen. Ein Grund dafür könnte die ökonomische Krise und entsprechende Perspektivlosigkeit der Studentenschaft sein. Der "Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund" wurde 1926 gegründet, konnte aber bereits 1931 den Vorsitz der Deutschen Studentenschaft, den Dachverband studentischer Vertretungen, übernehmen. Bei keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe hatten die Nationalsozialisten so früh so viel Erfolg wie bei den Studenten7. Im Zuge der Gleichschaltung ordneten die Nationalsozialisten die Umwandlung von studentischen Verbindungen in „Kameradschaften“ an und legten Indoktrinierung sowie Wehr- und Sportübungen in das Zentrum ihrer Aktivitäten. Konrad Zuse erzählt in seinen Memoiren, dass der Verein Motiv seinen Namen in „Kameradschaft Wilhelm Stier“ änderte, und dass er und zehn andere Freunde als Freiwillige eine Wehrübung in einer Kaserne absolvierten8.

Wir wissen, dass Zuse zweimal an die Front einberufen wurde (1939, beim Ausbruch des Krieges, und 1942, für nur eine Woche). Das erste Mal, im November 1939, ersuchte Schreyer brieflich um eine Befreiung Zuses vom Militärdienst9. Dabei wies er auf die im Bau befindliche Rechenmaschine und deren Bedeutung für wissenschaftliche und militärische Anwendungen hin. Das zweite Mal war es Prof. Werner Osenberg auf seinem Kreuzzug zur Förderung der Rückkehr von Wissenschaftlern von der Front, der Zuse half. Osenberg war Leiter des Planungsamtes im Reichsforschungsrat und sehr früh bestrebt, Forschungskapazität von der Front heim zu bringen. Dass Schreyer anscheinend nie einberufen wurde, kann nur durch die Protektion von Prof. Stäblein oder durch seine Aufgaben am Institut für Schwingungsforschung erklärt werden. Für die akademische Karriere war eine Mitgliedschaft in der NSDAP auf jeden Fall dienlich. In der „Gleichschaltungsperiode“ und in deren Folge verloren viele Professoren und Assistenten ihre Stellen. Der Weg stand offen für jene, die eine akademische Karriere koste was es wolle anstrebten: „Zwischen 1933 und 1939 wurden etwa 45% aller Hochschulstellen neu besetzt, wesentlich mehr als normalerweise in vergleichbarem Zeitraum. Davon macht die Vertreibung der Juden etwa um die Hälfte aus“10.

War es also bei Schreyer Karrierismus oder Überzeugung, was seine Parteimitgliedschaft erklärt? Sein Mitgliedsausweis verzeichnet den 1.5.1933 als Tag des Parteieintritts, d.h. gerade den Stichtag für die Aufnahmesperre bei der NSDAP. Er wurde Mitglied Nummer 2.544.065. Helmut Schreyer hatte also seinen Aufnahmeantrag in letzter Sekunde eingereicht -- er war eines der letzten aufgenommenen Mitglieder (siehe Abbildung).

Aus den Berichten der TH Berlin, des Instituts für Schwingungsforschung, das übrigens eines der sogenannten „Vierjahresplan-Institute“ war, also eine Einrichtung, die gezielt und vor allem für die Wiederbewaffnung Deutschlands im Zuge des „Vierjahresplans“ unterstützt wurde, und aus Interviews konnte Hartmut Petzold einige der Aktivitäten von Helmut Schreyer während des Krieges ermitteln:

Schreyer befasste sich in den folgenden Jahren als Assistent mit kriegswichtigen Arbeiten, darunter einem Beschleunigungsmesser für die V2-Rakete, Detektoren für nicht explodierte Bomben und Umsetzern von Radar-Analog-Werten in akustische Signale für Jagdflugzeuge. Er konnte die Relaiskette als neuartigen Frequenzteiler vorstellen, der von 1 bis 5 000 Hertz einwandfrei arbeitete. Eine größere Rechnerschaltung scheiterte am Materialmangel.

Wie Zuse hatte auch Schreyer eine „Tagesarbeit“ und eine Leidenschaft - die Rechenmaschinen. Seine tägliche Arbeit bestand in der Entwicklung von Elektronik für neue Waffen. Der Beschleunigungsmesser für die V2 Rakete z.B. war als Ersatz für die Geschwindigkeitsmessung mittels Radar-Dopplereffekts gedacht: Eine Bodenstation verfolgte die Rakete per Radar und schaltete den Antrieb über Funk aus, sobald eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht war. Ein hinreichend präziser Beschleunigungsmesser hätte die Beschleunigung integrieren und das Radar ersetzen können. Die Rakete wäre dann völlig autonom und womöglich zielgenauer geworden. Anscheinend ist der Beschleunigungsmesser allerdings nicht eingesetzt worden. Schreyers Nebenbeschäftigung bestand in der Abfassung einer Dissertation mit dem Titel „Das Röhrenrelais und seine Schaltungstechnik", die er 1941 verteidigte.

Berlin war bis 1933 die europäische Metropole der Wissenschaft, mit etlichen Nobelpreisträgern in der Stadt. Allein von 1919 bis 1932 wurden 16 Nobelpreise an deutsche Wissenschaftler und Künstler vergeben - 14 davon standen in Verbindung mit Berlin11. Mit dem Beginn des Nationalsozialismus jedoch verwandelte sich Berlin schlagartig in die Hauptstadt der deutschen Waffenentwicklung. In einer geheimen Denkschrift vom August 1936 zum Vierjahresplan definierte Hitler das Ziel, Deutschland innerhalb von vier Jahren in Kriegsbereitschaft zu versetzen. Es wurden etwa dreißig Vierjahresplan-Institute, davon 20 an Universitäten, unter der Verwaltung der Vierjahresplan-Behörde von Herrmann Göring eingerichtet12. Wie oben bereits angemerkt war das Institut für Schwingungsforschung eines davon. Damit war sein wissenschaftlichen Auftrag klar umrissen: Waffenforschung. Im Jahr 1933 wurden die Henschel Flugzeugwerke in Berlin Adlershof gegründet. Damit stieg die Firma Henschel in den Bau von Flugzeugen und, wenig später, von ferngelenkten Bomben ein. Dies alles geschah, als Zuse und Schreyer Studenten waren. Nolens volens gerieten sie in den Strudel: Ab 1935 fing Zuse als Statiker bei den Henschel Werke an, während Schreyer vier Jahre danach Assistent beim Vierjahresplan-Institut für Schwingungsforschung wurde.

Viele neue Waffen wurden während des Krieges und seiner Vorbereitung in Berlin entwickelt. Die ersten Nachtsicht-Systeme z.B. wurden von der AEG ab 1935 gebaut. Sie wurden in Panzer und später auch als Zusatz für Gewehre eingebaut. Helmut Hölzer, übrigens Entwickler des ersten elektronischen Analogrechners der Welt, war ab 1939 bei AEG in Berlin angestellt bis er nach Peenemünde zu Wernher von Braun geschickt wurde13. Eine 1947 erstellte Liste von deutschen und österreichischen Wissenschaftlern erwähnt 1600 Personen, die zu der Zeit in Deutschland und Österreich lebten und relevant für die Geheimdienste waren. Davon lebten 135 noch in Berlin14.

Gewissermaßen ist den beiden Studenten Konrad Zuse und Helmut Schreyer der Boden unter den Füssen weg gebrochen. Aus heutiger Perspektive ist es schwer verständlich, dass Zuse so wenig über diese Zeit in seinen Memoiren verrät, die doch seine Lebens- und Arbeitsumstände so dramatisch veränderte. Die Änderung des Namens des AV Motiv war mehr als nur eine Anekdote, sie war das Resultat der von den Nazis betriebenen Gleichschaltung. Die Vertreibung der jüdischen Studenten und Professoren wird kaum kommentiert. Zuse erwähnt lediglich, dass drei jüdische Studenten „freiwillig“ aus dem Verein austraten. Nach einem offiziellen Bericht aus dem Jahr 1934 wurden 134 Berliner Hochschuldozenten aus dem Amt vertrieben, das waren immerhin 22% aller davonjagten Wissenschaftler in ganz Deutschland. Die Auswirkungen auf die deutsche Wissenschaft, vor allem in Berlin, waren unübersehbar und müssen damals für große Aufregung an den Universitäten gesorgt haben. Es ist anzunehmen, dass auch Zuse und Schreyer sich mit ihren Kommilitonen politisch austauschten. In den Memoiren ist davon wenig zu finden.

Der Rest der Geschichte ist gut bekannt. Helmut Schreyer entwarf einige Schaltungen für eine elektronische Rechenmaschine, darunter einen aus Glimmlampen bestehenden Speicher, für die er eine Patentanmeldung einreichte (1943 erteilt). Eine andere Patentanmeldung betraf die Elementarkomponenten für die Rechenmaschinen und war bereits im November 1940 eingereicht worden15. Schreyer entwarf unter anderem eine Spezialeinheit zur Konvertierung von Dezimal- in Binärzahlen. F.L Bauer hat die Elementarschaltungen ausführlich kommentiert16. Die Konstruktionen gingen gegen Ende des Krieges bei einem Bombenangriff verloren. Wilhelm Stäblein verlor sein Leben während eines Luftangriffs auf Erlangen/Nürnberg, wohin das Institut für Schwingungsforschung evakuiert worden war. Sein zweiter Assistent Oberingenieur Herbert Raabe, büßte seine Stelle im Zuge der Entnazifizierung der Universitäten ein17. So wie Schreyer, war auch Raabe Mitglied der NSDAP. Damit verlor Schreyer gleichzeitig seinen wichtigsten Protektor und weitere wichtige Kontaktpersonen im akademischen Milieu. Er konnte nach dem Krieg nie wieder in diesen Kreisen Fuß fassen. Schließlich wanderte Schreyer 1949 nach Brasilien aus, wo er Professor für Elektrotechnik an der Technische Hochschule des Heeres und Leiter des Fernmeldelabors der brasilianischen Post wurde. 1977 wurde ihm die Ehrenbürgerschaft von Rio de Janeiro verliehen. In der Stadt Delitzsch, früher Selben, gibt es heute eine Dr. Helmut-Schreyer-Straße.

Um die Schaltungen von Schreyer verstehen zu können, muss man beachten, dass, obwohl die Logik einer Binärmaschine sehr leicht mit Elektronenröhren gebaut werden kann, es sehr teuer gewesen wäre, alle Bits des Speichers mit der gleichen Technologie zu bauen. So verwendete John Atanasoff in den USA ab 1939 zur Speicherung von Bits Kondensatoren, zu deren Verarbeitung jedoch Röhren. Die EDSAC (Electronic Delay Storage Automatic Calculator) von der Universität Cambridge verwendete ein Katodenrohr (wie aus einem Fernseher). Bits wurden als Punkte eingebrannt und regelmäßig aufgefrischt, so dass sie weiter leuchten konnten. Das Nachleuchten des Katodenrohrs gab Zeit genug für den Auffrischungsvorgang. Schreyer verwendete dagegen eine Glimmlampe als Speicher. Die Lampe wurde gezündet, wenn eine höhere als die reguläre Spannung angelegt und gleichzeitig der Kathodenschirm aktiviert wurde (zum Speichern einer Eins). War der Kathodenschirm inaktiv (speichere eine Null), zündete die Lampe nicht. Mit der regulären Spannung brannte die Lampe weiter, falls sie eingeschaltet worden war, und konnte über ein angeschlossenes Vakuumrohr gelesen werden. Alles in allem war dies eine sehr einfache Konstruktion, die mit den technischen Mitteln jener Zeit sicherlich als umfangreicher Speicher hätte ausgeführt werden können. In seiner Dissertation von 1941 beschrieb Schreyer spezielle Elementarkomponenten, die für verschiedene Aufgaben verwendeten werden konnten. Die Dissertation wurde als geheim eingestuft18. Zuse vermutete, dass Stäblein damit neue Rüstungsaufträge ans Land ziehen wollte19.

Es ist viel darüber spekuliert worden, ob Schreyers Maschine der erste elektronische Computer hätte werden können. Tatsächlich war Schreyer nur einer unter vielen, die sich ein regelrechtes Wettrennen lieferten. John Atanasoff wurde bereits oben erwähnt. Als Atanasoff 1938 seine (nicht universelle) Rechenmaschine ausklügelte, die dann 1939 als Prototyp mit 300 Vakuumröhren fertig gestellt wurde, war Schreyer erst dabei, seine Schaltungen zu konzipieren. Der Bau des amerikanischen ENIAC begann 1942 und dauerte wegen der ungeheuren Dimensionen der Maschine bis 1946. John Mauchly hatte aber bereits 1941 Atanasoff besucht und war seitdem mit der Idee beschäftigt, eine elektronische Rechenmaschine zu bauen. Dafür immatrikulierte er sich, obwohl bereits promovierter Physiker, in der Elektrotechnik an der Universität von Pennsylvania. Die Erbauer der ENIAC waren allesamt erstklassige Elektrotechniker.

Helmut Schreyer hätte gegen die amerikanischen Entwürfe nur „antreten“ können, wenn seine Dienstvorgesetzten die Bedeutung einer solchen Rechenmaschine früh genug verstanden hätten, und wenn die Eleganz von Zuses Design zum Tragen gekommen wäre. In seinem Brief an das Heer von 1939 beschreibt Schreyer eine elektronische Maschine, die in der Lage wäre, bis zu 10.000 Operationen pro Sekunde auszuführen20. Doch siebzig Jahre danach ist es müßig, darüber nachzudenken, was gewesen sein könnte. Eingedenk ähnlicher oder sogar noch fortgeschrittenerer Entwicklungen auf diesem Gebiet woanders auf der Welt, sollte man die deutschen Erfindungen mit einer guten Portion Realismus bewerten.

Fazit

Erst sehr spät wurden Konrad Zuse die Lorbeeren zuteil, die ihm nach Kriegsende so viele Jahre lang verwehrt geblieben waren. Er wurde berühmt, und seine bahnbrechenden Beiträge wurden mehr und mehr anerkannt. Helmut Schreyer konnte nicht in gleichem Maß Anerkennung finden, da seine eigenen Anteile nie über die reine Möglichkeit des elektronischen Rechnens hinausgingen. Schreyers Überlegungen blieben wie ein griechischer Torso: unvollendet, und außerhalb eines kleinen Kreises völlig unbekannt. Was seine politischen Ansichten betrifft, wurde Schreyers Mitgliedschaft in der NSDAP bereits 1983 von Paul Ceruzzi nebenbei erwähnt21. Dies wurde aber bis heute in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen.

Vielleicht war es Schreyers Pech, dass er sich nicht unter den vielen Wissenschaftlern befand, die bei der Operation „Paperclip“ in die USA abtransportiert wurden. Die sogenannte „Osenberg Liste“ mit den Namen von 15.000 deutschen Wissenschaftlern fiel den Alliierten in die Hände und war die Basis für die ersten Rekrutierungsversuche der Amerikaner. Die Akten von ausgewählten Wissenschaftlern wurden mit einer Papierklammer versehen, daher der Name der Operation. Ganze Biographien wurden über Nacht reingewaschen, wie die von Wernher von Braun, Mitglied der SS und Leiter des deutschen Raketenprogramms, der später bis zum Direktor der NASA aufstieg. Oder Herbert Wagner, der Vorgesetzte von Zuse bei den Henschel Werken, der nach dem Krieg in den USA mit der Entwicklung neuer Marschflugkörper Karriere machte. Wäre Stäblein nicht im Krieg umgekommen, wäre vielleicht auch er in die USA gebracht worden. Man kann nur darüber spekulieren, was Schreyer mit den unermesslichen Ressourcen der Amerikaner alles wissenschaftlich und kommerziell hätten anstellen können.

Es mag eine nicht beweisbare Hypothese sein, aber ich denke, dass Schreyers Auswanderung nach Brasilien nicht nur an den wirtschaftlichen Schwierigkeiten jener Zeit lag. Es war vielleicht der Versuch eines völlig neuen Anfangs, ein Bruch mit seiner Biographie und eine stille Anerkennung seiner Jugendfehler und seiner politischen Naivität, ja vielleicht eine Form der Reue und ein überfälliger Widerruf. Wir werden es nie wissen können. Die damalige Generation von Wissenschaftlern hat sich allzu schnell den jeweiligen momentanen Machthabern ergeben und dann eisern geschwiegen. Bis 1941 konnten sich viele an den militärischen Erfolge berauschen. Irgendwann aber konnte die Tragweite der Katastrophe nicht mehr übersehen werden. Doch weder Zuse noch Schreyer haben über die 12 folgenschwere Jahren zwischen 1933 und 1945 jemals gründlich berichtet, weder über das, was sie wussten, noch darüber, was sie nicht wussten, oder was sie nicht wissen wollten.