Mehr Peitsche, weniger Zuckerbrot

Kaum hat das Jahr 2010 für die neue Arbeitsministerin begonnen, wird schon erneut nach härteren Sanktionen für Arbeitssuchende gerufen

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Die wenigsten haben sich von der ehemaligen Familienministerin Ursula von der Leyen eine Änderung hinsichtlich der Arbeitslosenproblematik erhofft. Die dank weniger der Kompetenz denn politischer Versprechungen zur Arbeitsministerin avancierte Frau, die sich in den letzten Monaten durch mangelndes Fachwissen und Kritikresistenz zum Thema "Internetsperren" hervortat, zeigt bei dem Problem der Arbeitslosigkeit erwartungsgemäß keinerlei Bereitschaft, grundlegende gesellschaftliche Fragen zu stellen. Vielmehr wird weiterhin das von den Exministern Clement und Jung beliebte Skelett des unwilligen Arbeitssuchenden aus dem Wandschrank gezerrt, um auf die Taktik "härte Sanktionen helfen" zurückzukommen.

Die Ministerin, die wie so oft die "BILD" für ein Interview wählte, um ihre Ansichten kundzutun, fabuliert dort davon, dass die Sanktionen, die den Ämtern zur Verfügung stehen, nicht in vollem Umfang genutzt werden. Hierbei lässt sie, wie gewohnt, die Realität außer Acht:

Wir werden bei der Reform der Jobcenter darauf hinwirken, dass die Sanktionen, die wir haben, auch in allen Kommunen genutzt werden. In einigen funktioniert das schon gut, in anderen nicht.

Dieser Ansicht steht die Wirklichkeit gegenüber, die bereits im Jahr 2008 bei 97.000 Arbeitssuchenden zu einer Kürzung der Sozialleistungen auf 0 Euro führte. 789.000 Menschen waren im selben Jahr von Sanktionen betroffen, die entsprechenden Zahlen von 2009 stehen noch aus. Hierbei handelt es sich aber, anders als oft kommuniziert, nicht etwa mehrheitlich um Sanktionen gegen die sogenannten "Drückeberger" - also jene, die sich weigern Arbeit im allgemeinen anzunehmen. Der Anteil dieser Betroffenen macht nur 10 Prozent derjenigen aus, die mit Sanktionen belegt werden. Mehrheitlich handelt es sich bei den Gründen um Meldeversäumnisse, Bewerbungsfehlverhalten, Verstöße gegen die Eingliederungsvereinbarung oder das Ablehnen zumutbarer Arbeit in einem speziellen Fall.

Die Post, gründlich und zuverlässig

Bei den Meldeversäumnissen lohnt es sich, die Praxis der ArGen und Jobcenter einmal näher zu beleuchten. Nicht selten erreichen Einladungen zu Terminen den Betroffenen erst sehr kurzfristig - manches Mal sogar erst nach dem Termin. In solchen Fällen wird sanktioniert - der Betroffene hat jedoch ein Widerspruchsrecht. In der Zeit der Bearbeitung des Widerspruches ist die Sanktion aber zunächst anwendbar. Bei der Vielzahl der Fälle, die die ArGen diesbezüglich zu bearbeiten haben, heißt dies, dass monatelang das Geld gekürzt wird und gegebenenfalls später eine Nachzahlung erfolgt. Bei einer Zahlung von beispielsweise dem Regelsatz und den Kosten der Unterkunft in Höhe von 1.000 Euro und einer Kürzung von 50 Prozent bleibt es dann dem Leistungsempfänger überlassen, wie er monatelang mit 500 Euro auskommt. Hierbei gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder er spart an den Kosten der Unterkunft (was dann logischerweise oft zu Problemen mit dem Vermieter, den Stromversorgern usw. führt) oder aber er zahlt zunächst die wichtigen Posten wie Kosten der Unterkunft, Strom, Telefon und hat dann nichts mehr für die Ernährung übrig. Seinen Pflichten, z. B. den, die die Bewerbungen betreffen, wird er in dieser Zeit natürlich nicht entbunden. In Bezug auf den Posteingang haben die Ämter mittlerweile eine einfache Logik entwickelt, der sie stur nachgehen: "Post von uns kommt immer an, dort liegt es am Empfänger nachzuweisen, dass er sie nicht erhalten hat. Dass Post an uns uns erreicht hat, muss der Absender nachweisen." Einfach gesagt: Das Amt hat immer recht, wenn es um angekommene oder verloren gegangene Post geht.

Bewerben um jeden Preis

Auch Bewerbungsfehlverhalten gehört zu den Sanktionsgründen. Ein solches Fehlverhalten kann sowohl die Anzahl der getätigten Bewerbungen als das Verhalten während eines Bewerbungsgespräches betreffen. Die unsinnige Vorgabe von einer Mindestanzahl an Bewerbungen führt dazu, dass Arbeitgeber zunehmend mit Bewerbungen von Arbeitssuchenden konfrontiert werden, die in keiner Weise für die vakante Stelle geeignet sind.

Ich habe mich in letzter Zeit als Callcenteragent, Versicherungsmakler, Verkäuferin, Sekretärin beworben. Das Callcenter hat mich gefragt, warum ich mich bewerbe, obwohl ich wegen meines Hörgerätes und der Hörschwierigkeiten ja gar nicht im Callcenter arbeiten könnte. Ich sagte, dass ich mich nun einmal pro Monat 20mal bewerben muss.

(Thomas M., 42 Jahre, arbeitssuchend)

Jede Stellenanzeige führt mittlerweile zu ca. 60-70 Prozent Ausschuss. Das sind Bewerbungen von Personen, die komplett ungeeignet sind. Da bewerben sich Leute ohne Englischkenntnisse als Einkäufer im internationalen Bereich, Frauen, die nicht tippen können und in Deutsch unsicher bis schlecht sind, wollen Sekretärin werden usw. Dieser Zwang zum Bewerben führt zu einer Menge Mehrarbeit

(Frank H., Inhaber einer Computerfirma)

Die Sanktionspraxis greift auch direkt in das Bewerbungsverhalten ein, denn die Gelder für Bewerbungen sind zunächst vom Arbeitssuchenden selbst zu zahlen. Erst rückwirkend, auf Antrag, werden sie erstattet, wobei es einen Höchstbetrag gibt. Dies hindert die ArGen jedoch nicht daran, mehr Bewerbungen zu verlangen als sie finanziell übernehmen. Für den obigen Beispielfall bedeutet dies, dass eine durch eine Sanktion verursachte Geldknappheit, die Bewerbungen unmöglich macht, zu erneuten Sanktionen führen kann. In Diskussionen wird oft erwähnt, dass sich ein Betroffener ja (gerichtlich) gegen Sanktionen wie auch Diskriminierung usw. wehren kann. Dies ist faktisch richtig, lässt jedoch die Lebenswirklichkeit außer Acht, die aus einer Vielzahl von ALG-II-Empfängern (nicht zuletzt wegen der vorangetriebenen gesellschaftlichen Ächtung) bereits gebrochene Menschen gemacht hat. Diese Menschen wehren sich nicht mehr gegen Sanktionen, sondern nehmen sie hin und verstehen teilweise nicht einmal mehr, warum es zu Sanktionen kommt und ob die ArGen (deren Praxis sich in vielen Fällen als rechtswidrig herausstellt) überhaupt eine Sanktion aussprechen dürften oder nicht. Oft wird auch geradezu fanatisch auf die Eingliederungsvereinbarung abgestellt.

Just sign on the dotted line...

Fortune built my homes and daydreams
Pages I'd never seen
I'm sorry youŽre so disappointed
The contract states quite fundamentally
The undersigned is you
Lay your life on the line

(Fad Gadget - Life on the line)

"Just sign on the dotted line" (Unterschreib einfach nur auf der gestrichelten Linie) singt Fad Gadget in "Life on the line" und beschreibt, wie eine schnell getätigte Unterschrift das Leben kontrolliert. Passender könnte man eine Eingliederungsvereinbarung nicht erläutern.

In der Eingliederungsvereinbarung (hier der Einfachheit halber EV genannt) werden Rechte und Pflichten des Einzelnen formuliert. Des einzelnen Arbeitssuchenden natürlich. Im Allgemeinen ist der Entwurf der EV bereits abgefasst und wird nur noch zur Unterschrift vorgelegt. Der Betroffene wird nicht zuletzt zeitlich ("Dann wären wir soweit... wenn Sie jetzt noch unterschreiben... da draußen warten bereits meine nächsten Termine...") und durch Ankündigung finanzieller Problematiken ("Wenn Sie nicht unterschreiben, können wir auch keine Leistungen zahlen.") unter Druck gesetzt und unterschreibt so einen seitenlangen Zwangsvertrag mit unübersichtlichen Regelungen, verwirrenden Gesetzesauszügen und wohlfeil formulierten Zwängen, die ihm oft nicht einmal klar sind. Wird ihm klar, was er dort unterschrieben hat, dann liegt es an ihm, (gerichtlich) gegen die EV vorzugehen - Verstöße dagegen werden jedoch gerne mit Sanktionen geahndet.

Arbeit, Arbeit über alles, über alles auf der Welt

Wenn Frau von der Leyen also davon spricht, dass die Sanktionen nicht hinreichend angewandt werden, so zeigt sie erneut, dass sie sich hinsichtlich ihres Ressorts lediglich der einseitigen Informationen ihrer Vorgänger bedient und keinerlei Absicht zeigt, die Stimmen der Betroffenen sowie die kritischen Analysen und Stellungnahmen wahrzunehmen.

Noch gravierender ist allerdings, dass die neue Arbeitsministerin ebenso wie alle Politiker in den Chor der "Arbeit, Arbeit über alles..." singenden Personen einstimmt. Als sei die Erwerbstätigkeit an sich, nicht jedoch die durch diese ermöglichte gesellschaftliche Anerkennung, der (relative) Wohlstand und z. B. die gesundheitliche Absicherung, der Mittelpunkt des Denkens der Menschen und ihr Lebensinhalt, wird weiterhin krampfhaft nach Mitteln gesucht, "neue Jobs zu schaffen". Stolz verkündete bereits Gerhard Schröder im Jahre 2005, dass Deutschland nunmehr einen der besten Niedriglohnsektoren ausgebaut habe. Die Arbeit wird (oftmals zynisch damit begründet, dass Menschen sich ohne Arbeit nicht wohl, unnütz oder gesellschaftlich nicht anerkannt fühlen würden) im Sinne der Erwerbstätigkeit definiert, was jegliche nicht entgeltete Leistung deklassiert.

Die Problematik, dass auch durch das Vorgehen der Politik, die gesellschaftliche Nichtanerkennung und das Empfinden des "nicht gebraucht werden" ja erst forciert werden, bleibt außen vor. Die Politik, die hier als Handlanger der Wirtschaft fungiert, schafft somit die Voraussetzungen für ein Problem, welches sie dann durch Niedriglöhne, 1-Euro-Jobs und Eingliederungsmaßnahmen, die oft nur billige Hilfsarbeiter produzieren, zu lösen vorgibt. Dies ist an Zynismus nicht mehr zu überbieten.

Dass Ursula von der Leyen, die bereits im Bereich "Internetsperren gegen Kinderpornografie" von Ursachenforschung nichts hielt, sondern lieber auf billige rhetorische Kniffe, markige Auftritte und herbeifabulierte Zahlen setzte, von dieser Praxis abrücken und einmal die technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen berücksichtigen würde (die unweigerlich zur Frage führen, inwiefern Erwerbstätigkeit noch notwendig und als Gradmesser für Leistung sinnvoll ist), war kaum zu erwarten. Auch in den nächsten Jahren wird deshalb aller Voraussicht nach auf Symbolpolitik, das Arbeitsmantra und die weitere Ausgrenzung von Arbeitssuchenden gesetzt werden. Die Wirtschaft benötigt eben ein Heer von Arbeitskräften, das auch zum (Fast)nulltarif eingesetzt werden kann. Dass diese Rechnung eine Milchmädchenrechnung ist, da einerseits immer mehr Menschen durch immer weniger erhaltene Abgaben subventioniert werden müssen (Aufstocker), andererseits aber der Konsum so zwangsläufig nachlassen muss, dass es immer wieder zu Kurzarbeit oder dergleichen kommt, müsste der Politik klar sein. Warum sie dennoch so agiert wie sie es tut, kann sich jeder selbst beantworten.