EU-Gesetze durch den Zigaretten-Filter

Wie ein Tabakkonzern die EU-Politik beeinflusst

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Stellen wir uns doch mal das Parlament eines Landes vor, das nur solche Gesetze verabschiedet, die die Zustimmung großer Industriekonzerne gefunden haben. Wie würde man die Legislative eines solchen Landes wohl nennen? Schalten wir nun um nach Brüssel, an den Sitz der Europäischen Kommission - des einzigen Organs des europäischen Verbunds, das neue Gesetze einbringen kann (abstimmen darf darüber dann das Parlament). Und imaginieren wir nun, wie all diese schönen neuen Gesetze durch einen Filter geblasen werden müssen, an dessen Entwicklung unter anderem die Tabakindustrie einen wesentlichen Anteil hat.

Eine phantastische Idee? Das müssen sich die Chefstrategen bei British American Tobacco (BAT) auch gedacht haben. Und wie nun interne Dokumente der Firma zeigen, ist ihnen sogar die Umsetzung mindestens teilweise gelungen. Und zwar so: Wann immer die EU-Kommission neue Gesetze plant, muss sie diese zunächst einer so genannten Gesetzesfolgenabschätzung (englisch: impact assessment) unterwerfen - einem Prozess, der, wie sein Name schon sagt, untersucht, welche Folgen durch die geplante Änderung zu erwarten sind. Wie dieser Prozess abläuft, ist dabei nicht dem guten Willen der Kommissionsmitglieder überlassen - das Impact Assessment ist standardisiert.

Das hat natürlich gute Gründe - es gilt schließlich, neue Gesetze möglichst tiefgründig und nach objektiv nachvollziehbaren Kriterien zu beurteilen. Macht sich ein unabhängiger Beobachter nach den selben Kriterien ans Werk, sollte er zu den selben Ergebnissen kommen wie die EU-Kommission. Der Filter eröffnet aber auch interessante Eingriffschancen: Statt jedes neue Gesetz auf die Vereinbarkeit mit den eigenen Interessen abklopfen und dann dagegen die Lobbyisten in Marsch setzen zu müssen, reicht es ja vielleicht schon, den Filter selbst zu beeinflussen - und prompt erzeugt er das passende Ergebnis. Diesem Ziel sind die BAT-Lobbyisten in jahrelanger Arbeit (und im Verein mit anderen Konzernen) offenbar näher gekommen, als uns lieb sein sollte, wie Forscher der Universitäten von Bath und Edinburgh in einem Paper im Wissenschaftsmagazin PLoS Medicine zeigen, das sie passend "Working the System" betitelt haben.

Victory durch Kosten-Nutzen-Analyse

Die Wissenschaftler haben dazu 714 interne BAT-Dokumente untersucht, die in der zum großen Teil im Rahmen langjähriger Gerichtsprozesse entstandenen "Legacy Tobacco Documents Library" enthalten sind. Seit 1995 (die EU-Kommission ist seit 1997 zu Impact Assessments verpflichtet) befasste sich BAT demnach damit, eine der Firma passende Form der Gesetzesfolgenabschätzung durchzusetzen. Zunächst ging es dabei, initiiert von BAT, aber durch ein von anderen Konzernen mitgetragenes "Policy Network" darum, gewisse Voraussetzungen im EU-Vertrag unterzubringen. Die BAT-Dokumente bezeichnen es demnach als ersten "großen Sieg", dass der EU-Vertrag vorschreibt, Firmen von gesetzlichen Belastungen so weit als möglich zu verschonen: "British American Tobacco has achieved an important victory in a key trade bloc."

Anschließend versuchte der Konzern, eine ganz bestimmte Form des Impact Assessment in der EU-Legislation zu verankern, nämlich eine Risikofolgenabschätzung, die auf rein ökonomischer Grundlage funktioniert. Bei dieser Kosten-Nutzen-Analyse werden Aufwand und Ergebnis in reinen Geldeinheiten miteinander verglichen.

Tatsächlich weiß die Wissenschaft längst, dass eine ausgewogene Abschätzung der Folgen etwa auch für soziale oder gesundheitliche Aspekte damit nicht möglich ist, weil sich die finanziellen Folgen eines Gesetzes für die Unternehmen meist leichter und genauer in Zahlen fassen lassen als die langfristigen Auswirkungen auf die Bevölkerung. Auch den BAT-Strategen, das zeigt die Analyse der internen Dokumente, war diese Überlegung nicht fremd - aber eher willkommen. Zusammen mit anderen Firmen, darunter SmithKline Beecham, Zeneca, Shell und BP versuchte BAT seit 1996, diese rein ökonomische Form des Impact Assessments als Standard durchzusetzen. Ein internes Dokument formuliert das so:

British American Tobacco and BAT Industries recognised that a broad coalition of like-minded companies might be able to persuade member states into amending the Treaty, imposing a binding requirement for cost benefit analysis and risk assessment

Verharmlosung der Schäden

Die Jahre direkt danach wurden dann sehr spannend: Insbesondere die sechsmonatige EU-Präsidentschaft durch Großbritannien (das die Kosten-Nutzen-Analyse propagiert) sah BAT als große Chance. Die Firma organisierte und bezahlte (und zwar ohne dies öffentlich zu deklarieren) eine von der britischen EU-Präsidentschaft unterstützte Konferenz, zu der unter anderem der damalige Chef der "The Advancement of Sound Science Coalition (TASSC) als Keynote-Sprecher geladen wurde, die die Gefahren des Rauchens, von Pestiziden und der Klimaerwärmung verharmlost. Später unterstützten BAT und andere Firmen die britische "Fair Regulation Campaign", deren erklärtes Ziel die Umsetzung der Kosten-Nutzen-Analyse in EU-Recht war.

Die Strategie war nicht ganz von Erfolg gekrönt. Die EU-Gesetzgebung in Sachen Tabakwerbung etwa ist trotzdem verabschiedet worden. Mittlerweile betont die EU-Kommission, bei der Gesetzesfolgenabschätzung eine Drei-Säulen-Strategie zu verfolgen, die soziale, ökonomische und Umwelt-Aspekte berücksichtigt. Unabhängige Analysen zeigen allerdings, dass hier der wirtschaftliche Pfeiler am stärksten gewichtet wird. Insbesondere Gesundheitsaspekte (als Teil des sozialen Pfeilers) finden besonders wenig Berücksichtigung. Eine Analyse von 137 Risk Assessments aus 2005 und 2006 zeigt zum Beispiel, dass in mehr als der Hälfte das Wort "Gesundheit" nicht einmal vorkam.