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Welchen Einfluss hat das Internet auf die Widerstandskultur des 21. Jahrhunderts?

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Birmanische Mönche mit Digitalkamera, chinesische Dissidenten mit Facebook-Account, twitternde iranische Studenten - all dies sind vielzitierte Beispiele, die belegen sollen, welch revolutionäres Potential die digitale Revolution auch im analogen Leben entfalten kann. Zum "Guten" haben diese onlinegestützten Proteste jedoch nichts verändert - Birma ist immer noch ein repressiver, autoritärer Staat, in China spielen sich die demokratischen Reformen in Zeitlupe ab und das iranische Regime ist seit den Protesten der Opposition sogar noch repressiver geworden. Doch der digitale Widerstand ist per se nicht prowestlich. In den prowestlichen Diktaturen des Nahen Ostens nutzen Islamisten das Netz zur Kommunikation und Aggregation. Auch die Regierungen haben dazugelernt und bedienen sich der gleichen Instrumente, um Gegenpropaganda zu streuen und Regimegegner zu identifizieren. Die Vorstellung, das Netz würde weltweit zur Demokratisierung und zur Partizipation der Massen führen, sollte endlich auf dem Friedhof idealistischer Träumereien begraben werden.

Twitter - das Instrument des Widerstands

Während der Unruhen im Umfeld der umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Juli letzten Jahres in Iran hatte es den Anschein, als bediene sich die große Oppositionsbewegung plötzlich des Mikrobloggingdienstes Twitter, um sich gegen das vermeintlich gefälschte Wahlergebnis aufzulehnen. Dieser Eindruck täuschte jedoch, wie eine Studie des Web-Analyse-Dienstes Sysomos herausfand. Vor den Wahlen nutzten lediglich 8.654 Iraner Twitter, im Juni stieg diese Zahl auf 19.235 an, wobei diese Zahl mit äußerster Vorsicht zu genießen ist, da viele Sympathisanten in Europa und den USA ihre virtuelle Herkunft im Twitter-Netzwerk nach Teheran verlegten, um die iranischen Behörden zu verwirren. In einem Land mit rund 23 Millionen Internetnutzern ist dies eine verschwindend geringe Minderheit, die indes in den westlichen Medien als Stimme des Volkes dargestellt wurde. Doch wer zwitscherte da in fließendem Englisch für das Volk? Während am Tag der Wahlen noch die Hälfte aller Tweets mit dem Hashtag #iranelections aus Iran kamen, sank der Anteil eine Woche später der iranischen Tweets bereits auf unter ein Viertel. Sowohl für die Widerstandsgruppen selbst, als auch für internationale Beobachter ist es unmöglich, die Authentizität von Informationen im Twitter-Netzwerk zu verifizieren.

Für ein Regime ist es nicht möglich, die Nutzung solcher Mikrobloggingdienste zu unterbinden, da es viele Möglichkeiten gibt, Twitter auch indirekt zu nutzen. In Ländern mit einem ausgeprägtem Zensurapparat wie Iran oder China gehört es für Internetnutzer bereits zum Allgemeinwissen, wie man staatliche Zensurmaßnahmen am besten umgehen kann. Dennoch wäre es für die Behörden möglich, solch ungewollte Kommunikation zumindest in der Masse zu unterbinden. Ohne Netzzugang ist es schwer, Informationen in die virtuelle Welt des Internets zu bekommen. Ein solcher Fehler wie bei den Demonstrationen im Umfeld der Präsidentschaftswahlen wird der iranischen Führung wohl kein zweites Mal unterlaufen. Im September letzten Jahres übernahmen die Revolutionsgarden für stolze acht Milliarden Dollar die Mehrheit am größten nationalen Mobilfunkunternehmen - private Mitbieter wurden aufgrund der sicherheitsrelevanten Bedeutung des Unternehmens ausgeschlossen.

Bei der "Safran-Revolution" in Birma wurde das Handynetz kurzerhand abgeschaltet und der Internetzugang drastisch eingeschränkt. Die Bilder von der Niederschlagung der Proteste fanden dennoch ihren Weg ins Netz - oft wurden die digitalen Informationen zunächst physisch außer Landes geschafft, um dann von Thailand aus veröffentlicht zu werden.

Wenn ein Staat den direkten Zugang zum Netz sperrt, kann er also nicht komplett verhindern, dass digitale Informationen ins Netz gelangen - der Rückkanal bleibt in einem solchen Fall aber versperrt. Im Konfliktfall kann das Netz daher auch nicht zur Koordination der Protestbewegungen beitragen, dafür aber die Weltöffentlichkeit über die Proteste informieren - auch wenn diese Informationen sich nur schwerlich authentifizieren lassen.

Das Versagen des digitalen Widerstands

Die Kehrseite des digitalen Widerstands lässt sich anhand der Demonstrationen im Umfeld der Präsidentschaftswahlen 2006 in Weißrussland zeigen. Auch die Gegner von "Europas letztem Diktator" Alexander Lukaschenko nutzten soziale Netzwerke, um ihre Aktionen zu koordinieren und der Weltöffentlichkeit mitzuteilen. Den in Russland und Weißrussland sehr populären Bloggingdienst "LiveJournal" lesen jedoch nicht nur Regimegegner, sondern auch die Sicherheitskräfte, die Dank der öffentlichen Planung bereits vor Ort waren, um die Demonstranten in Gewahrsam zu nehmen.

Je öffentlichkeitsorientierter der digitale Widerstand ist, desto größer ist die Gefahr, dass er von der Gegenseite unterlaufen wird. Geschützt durch die vermeintliche Anonymität des Netzes ist es für Sicherheitsdienste oder regimetreue Freiwillige nicht sonderlich schwer, Zugang zu virtuellen Widerstandsgruppen zu bekommen. Digitale Dissidenten können sich sicher sein, dass ihre Aktivitäten nicht nur von Freunden verfolgt werden. So soll die chinesische "50 Cent-Army" bis zu 280.000 Mitglieder haben - jeder Aktivist erhält pro regierungsfreundlichen Beitrag in einem Blog oder sozialem Netzwerk 50 Cent. Von China lernen heißt siegen lernen, auch die iranischen Basij, eine paramilitärische Freiwilligenorganisation der Revolutionären Garden, kündigte bereits an, 10.000 Freiwillige für den digitalen Guerilla-Kampf rekrutieren zu wollen.

Sicherheitslecks bei Dienstanbietern stellen eine weitere Gefahr für Webaktivisten dar. Wer Plattformen wie Facebook für seine Aktionen nutzt, sollte sich auch darüber im Klaren sein, dass er nicht nur sich selbst, sondern auch seine Kampfgenossen in Gefahr bringt. Waren Widerstandsgruppen früher derart informell organisiert, dass es für die Gegner sehr schwer war, sie zu unterlaufen, bieten vor allem die auf Öffentlichkeitswirksamkeit ausgerichteten Cyberaktivisten eine derart offene Flanke für staatliche Infiltrationsversuche, dass es naiv wäre zu glauben, diese Gruppen seien nicht schon längst massiv unterlaufen.

Widerstand 2.0 ist nicht überall prowestlich

Doch der Widerstand der Netzgemeinden ist nicht überall prowestlich oder prodemokratisch. Vor allem in prowestlichen Diktaturen im Nahen Osten nutzen überwiegend islamistische Regimegegner aktiv das Netz. Versuche westlicher Regierungen mit einer Förderung sozialer Netzwerke Interessenpolitik zu betreiben, könnten in diesen Ländern äußerst kontraproduktiv sein. In Ägypten gibt es beispielsweise nicht nur Blogger, die wegen ihres Engagements für die Meinungsfreiheit eingekerkert werden, sondern vor allem auch Cyberaktivisten, die der Muslimbruderschaft nahestehen. Sie nutzen die gleichen Instrumente in ihrem Kampf gegen das Regime Mubarak, wie es prowestliche Aktivisten in anderen Ländern auch tun. Dies wundert nicht, schließlich sprechen auch sie für eine große Bevölkerungsgruppe, die gänzlich undemokratisch vom politischen Alltag ausgeschlossen ist.

Im Libanon sind die meisten Cyberaktivisten keineswegs Anhänger des prowestlichen Saad Hariri, sondern Sympathisanten der Hisbollah. In Russland benutzt die ultranationalistische DPNI GoogleMaps, um die Wohngegenden von Minoritäten in russischen Städten zu visualisieren und den eigenen Anhängern so zu zeigen, wo "Handlungsbedarf" besteht. Während der letztjährigen Unruhen in Thailand nutzten königstreue Ultras eine Denunziationsseite der Behörden, um regierungskritische Seiten zu sammeln, die sich dann in einem Filter wiederfanden. Dummerweise vergaß die Regierung offensichtlich, den Vertrag für die Domain protecttheking.net zu verlängern, so dass nun ein Liverpooler Geschäftsmann unter der königstreuen Adresse Finanzprodukte verkaufen kann.

Brot und Spiele

Doch das Internet ist natürlich kein rein politisches Medium, das den Menschen zu einem Homo Politicus erzieht. Meist ist eher das Gegenteil der Fall - Pornographie, Raubkopien und oberflächliches Amüsement, das Netz ist ein Aggregat allzu menschlicher Bedürfnisse. Die Studie eines saudischen Forschers offenbarte, dass 70% aller Handyinhalte von saudischen Jugendlichen weder islamistische Propaganda noch demokratische Denkschriften, sondern - wen mag es überraschen - pornographischen Inhalts sind. China und Weißrussland dulden den Betrieb von Servern mit Raubkopien auf ihrem Staatsgebiet mit einem Lächeln. Wenn die Jugend im Netz nach nackten Brüsten sucht oder die neusten Computerspiele zockt, kommt sie zumindest nicht auf dumme Ideen. Das Internet ist nur ein Instrument - weder gut noch böse, weder politisch noch apolitisch.

Demokratiesimulation One-Klick-Protest

In Deutschland dient das Internet - neben der Verbreitung von Pornographie und Raubkopien - auch dem politischen Aktivismus. Zwar ist dieser Aktivismus meist auch regierungs- oder gar systemkritisch, aber die Politik braucht deshalb sicher keine schlaflosen Nächte zu haben. Im Gegenteil - in Deutschland erfüllt das Netz auch die Rolle einer Demokratie- beziehungsweise Partizipationssimulation. Vor allem bei netzaffinen Bürgern sind beispielsweise Online-Petitionen der letzte Schrei. Mit einem Mausklick kann man sich politischen Forderungen anschließen, so als würde man bei StudiVZ sein Gegenüber "gruscheln". Welche dieser beiden Cyberaktivitäten sinnvoller ist, mag umstritten sein. Online-Petitionen ermöglichen es dem Petenten lediglich, bei Erfolg vor dem Petitionsausschuss des Bundestages vorzusprechen - einen bindenden Charakter haben derlei Petitionen freilich nicht. Solange die Netzbewohner aber online Petitionen zeichnen oder sich online mit Facebook-Gruppen solidarisieren, kommen sie wenigstens nicht auf die "dumme" Idee, ihre Forderungen auf der Straße kundzutun. Trotz großer Partizipation wird das politische Netz in Deutschland weder von den Medien noch von der Politik überhaupt wahrgenommen.