Türkei - der starke Mann am Bosporus?

Karte: Samuel Bailey. Lizenz: CC-BY 3.0

Die Türkei emanzipiert sich vom Westen und entwickelt eine eigenständige außenpolitische Doktrin

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Während Guido Westerwelle sich bei seinem Besuch in Ankara einmal mehr in Hinhaltetaktik übte, wetterte CSU-Generalsekretär Dobrindt aus der bayerischen Provinz einmal mehr gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Doch die bayerischen Christsozialen sind mit ihrer kategorischen Ablehnung nicht alleine - auch die französische Regierung und die britischen Tories, die aller Voraussicht nach in diesem Jahr die Regierungsgeschäfte übernehmen werden, lehnen einen EU-Beitritt der Türkei ab. In der Türkei hat sich derweil Ernüchterung breit gemacht. Auch wenn die Regierung Erdo?an nach wie vor auf eine Vollmitgliedschaft drängt, konstruiert Außenminister Davuto?lu bereits mit Hochdruck eine neue außenpolitische Doktrin. Bilaterale Verträge mit Russland, dem Libanon und den Kaukasusstaaten Aserbaidschan und Turkmenistan, die in den ersten Wochen des neuen Jahres geschlossen wurden, umreißen die neuen Ziele der Türkei - zum einen will das Land der weltgrößte Energiehub und -Transitstaat werden, zum anderen strebt die Türkei eine aktive Rolle als muslimische Schutzmacht im Nahen Osten an. Israel, den USA und der EU dürfte diese Wende gar nicht gefallen. Noch ist es aber nicht zu spät - sollte sich die EU eines Besseren besinnen, kann sie sogar massiv von der neuen Stärke der Türkei profitieren.

Energiesicherheit ist ohne die Türkei nicht möglich

Europa wird noch viele Jahrzehnte von fossilen Brennstoffen abhängig sein. Deutschland bezieht nicht nur den Großteil seiner Gasimporte aus Russland, sondern auch bei den Ölimporten hat sich Russland über die Jahre hinweg zum Lieferanten Nummer Eins entwickelt. Die russischen Energielieferungen haben jedoch einen strategischen Nachteil - je größer der Anteil der Importe aus Russland ist, desto abhängiger ist Deutschland von Moskau. Da die deutsche Politik eine transatlantische Ausrichtung bevorzugt, ist dies natürlich nicht unproblematisch. Vor allem im Gassektor hat die EU die "Kaspische Ellipse" als Alternative zu Russland gewählt. Über die geplante Nabucco-Pipeline sollte Erdgas aus den Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres über die Türkei und den Balkan ins Herz Europas gepumpt werden. Dieser Plan scheiterte zunächst an der erfolgreichen Blockadepolitik Russlands, das sich die verfügbaren Liefermengen der ehemaligen Sowjetrepubliken an seiner Südflanke über Jahre hinweg sicherte. Nur Aserbaidschan liefert über die Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline Erdöl an Europa, das nicht über russisches Staatsgebiet transportiert werden muss.

Durch das verstärkte Engagement Chinas in der kaspischen Region sind die ursprünglichen Nabucco-Pläne endgültig gestorben. Noch könnte Nabucco jedoch eine Chance haben - man müsste die Pipeline lediglich mit iranischem Gas füllen. Wie man es dreht und wendet - am Transitland Türkei führt jedenfalls kein Weg vorbei, wenn Europa Alternativen zu russischen Lieferungen sucht.

Transitland und Energiehub

Geht es der EU "nur" um Energiesicherheit und Alternativrouten, so hat die Türkei selbst wesentlich ambitioniertere Pläne. Die Türkei will künftig zum größten Energiehub der Welt werden. Dies geht natürlich nur, wenn man mit Iran und vor allem mit Russland kooperiert. Um die türkisch-russischen Energiepläne zu umreißen, reiste Staatschef Erdo?an am Dienstag nach Moskau - was er mitbrachte, dürfte den Nabucco-Planern gar nicht gefallen. Erdo?an und Medwedjew unterschrieben ein gemeinsames Abkommen, das Russland den Bau der Nabucco-Alternative South Stream schon im Herbst dieses Jahres gestattet. Das russisch-italienische Projekt South Stream soll Erdgas durch das Schwarze Meer nach Bulgarien und von dort aus in zwei Trassen über den Balkan nach Österreich und durch die Adria nach Italien transportieren.

Zusätzlich zur bereits vorhanden Blue Stream-Pipeline, die vor allem die Türkei selbst mit russischem Gas versorgt, soll eine parallele Blue Stream 2-Pipeline gebaut werden, die durch das Schwarze Meer verläuft und im nordtürkischen Samsun endet. Von dort aus wollen Russland und die Türkei das Gas parallel über die ebenfalls geplante Samsun-Ceyhan-Ölpipeline zum Mittelmeer transportieren, wo bereits Verlängerungen nach Zypern und in die Levante geplant sind. Sollten all diese Pläne tatsächlich verwirklicht werden, wird die Türkei künftig das bedeutendste Transitland für russisches Erdgas sein, womit Russland nicht mehr von der unberechenbaren und chronisch finanzarmen Ukraine abhängig wäre. Zusätzlich plant die Türkei den Ankauf turkmenischen Gases über iranisches Gebiet - eine Pipeline von Täbris nach Ankara ist bereits seit 2001 in Betrieb, und der Anschluss an eine neue Pipeline zwischen Turkmenistan und Iran wurde in Anwesenheit des türkischen Energieministers vor wenigen Wochen besiegelt.

Was für den Bereich Erdgas noch Zukunftsmusik ist, hat die Türkei im Erdölbereich bereits verwirklicht. Neben der Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline, die jährlich 50 Millionen Tonnen Rohöl an die türkische Mittelmeerküste transportiert, ist die Türkei der Energieverteiler für das Erdöl aus dem nordirakischen Kirkuk. Die Irak-Türkei-Pipeline existiert bereits seit 1970 und kann jährlich bis zu 70 Millionen Tonnen Erdöl bis nach Ceyhan transportieren. Wenn die Samsun-Ceyhan-Pipeline in Betrieb genommen wird, können 190 Millionen Tonnen Öl über den Hafen von Ceyhan gehandelt - damit wäre Ceyhan der größte Energieknotenpunkt der Welt.

Sicherheitsarchitektur für den Kaukasus

Eine Umfrage nach dem besten Freund der Türkei ergab im letzten Jahr ein desillusionierendes Bild - den ersten Platz belegte Aserbaidschan mit gerade einmal 4%, gefolgt von den USA und Deutschland. Bemerkenswerter war jedoch, dass 75% der Türken angaben, es gäbe keinen besten Freund. Jahrzehntelang hegte die Türkei das Credo, das Land sei in drei Himmelsrichtungen vom Meer und in vier Himmelsrichtungen von Feinden umgeben. Einer strategischen Partnerschaft mit Russland steht dabei vor allem ein Erbfeind der Türkei im Wege - Armenien. Bis heute sind die Wunden des Völkermordes an den Armeniern nicht verheilt. In der Türkei muss man sogar mit einer Gefängnisstrafe wegen "Verunglimpfung des Türkentums" rechnen, wenn man den Völkermord auch nur erwähnt. Es gibt zwar bereits erste Annährungen zwischen der Türkei und Armenien, so sollen künftig zum ersten Mal in der Geschichte diplomatische Verbindungen aufgenommen und Grenzübergänge eingerichtet werden, doch die Fortschritte verlaufen auf beiden Seiten eher schleppend.

Armenien wiederum ist ein guter Verbündeter Russlands und die Lage wird zusätzlich durch den Umstand erschwert, dass die umkämpfte armenische Enklave Bergkarabach auf dem Staatsgebiet Aserbaidschans liegt, welches wiederum ein guter Verbündeter der Türkei ist. Wenn Ankara und Moskau eine strategische Partnerschaft anstreben, müssen sie zunächst einmal eine gemeinsame "Sicherheitszone Kaukasus" etablieren, in der sie beide gemeinsam als Schutzmächte die Regeln festlegen. Ob Armenier und Aseris dem zustimmen werden, steht freilich noch in den Sternen. Besonders argwöhnisch dürfte eine solche Sicherheitszone allerdings in Georgien betrachtetet werden. Dort galt die Türkei immer als letzter Vorposten der NATO - eine Zusammenarbeit des Verbündeten mit Russland ist so ziemlich das Letzte, was sich die Georgier wünschen dürften.

Spannungen mit Israel

Jahrzehntelang einte die laizistische türkische Armee und Israel der gemeinsame Feind Syrien. Die Türkei und Syrien verstehen sich allerdings mittlerweile prächtig - auch zu allen anderen arabischen Staaten pflegt Ankara gute bis sehr gute Beziehungen. Seit der Machtübernahme von Recep Erdo?an im Mai 2003 haben sich diese Beziehungen weiter verbessert. Erdo?an gilt nicht nur als "guter" Muslim, er weiß auch immer wieder die Ressentiments der Araber gegen Israel zu bedienen. Unvergessen ist da Erdo?ans kalkulierter Eklat auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, als er wutentbrannt das Podium verließ, nachdem Israels Präsident Peres den Krieg im Gaza-Streifen gerechtfertigt hatte. Fragt man die Araber nach ihrem Türkeibild, so ist dieses äußerst positiv, nicht zuletzt wegen Erdo?ans Israel-Kritik und türkischer Seifenopern, die im Nahen Osten sehr beliebt sind.

Eine solche Seifenoper sorgte auch vor wenigen Tagen für einen echten diplomatischen Eklat. Die Serie Kurtlar Vadisi (Tal der Wölfe) ist eine Art Rambo auf Türkisch - die Bösewichte sind dabei meist Israelis, die in düsteren, antisemitischen Stereotypen gezeichnet werden. Um seinen Protest gegen derlei Kulturkampf auszudrücken, bestellte der stellvertretende israelische Außenminister Danny Ajalon den türkischen Botschafter ein. Doch Ajalons "Gardinenpredigt" war nicht nur überzogen, sondern sogar ein echter Affront - er bestellte ein TV-Team ein, ließ den türkischen Botschafter zunächst warten, verweigerte ihm den Handschlag, platzierte ihn auf einem niedrigen "Kindersessel" und weigerte sich sogar, neben der israelischen auch die türkische Flagge auf seinen Schreibtisch zu stellen. All dies ist in Diplomatenkreisen, in denen jede Geste auf die Goldwaage gelegt wird, eine Demütigung.

Erdo?an reagierte und drohte, den Botschafter abzuziehen, wenn die israelische Regierung sich nicht entschuldigen würde. Staatschef Netanjahu höchstpersönlich musste zu Papier und Feder greifen und sich beim türkischen Volk für seinen undiplomatischen Beamten entschuldigen. Diese Posse ist dabei nur ein weiterer Vorfall in einer langen Reihe von gegenseitigen Anfeindungen. Zuletzt in Moskau kritisierte Erdo?an offen die iranische Atompolitik, und vor wenigen Wochen drohte er, eine weitere Verletzung des libanesischen Luftraums durch israelische Kampfjets wäre ein Akt der Aggression gegen die Türkei, der nicht unbeantwortet bleiben würde. Bereits im letzten Jahr warnte er Israel mit harschen Worten vor einer Verletzung des türkischen Luftraums bei einer möglichen Bombardierung iranischer Atomanlagen und drohte Israel mit einem militärischen Gegenschlag.

Vom Vermittler zur Konfliktpartei

Die Rolle des Hegemons, der die Interessen der muslimischen Staaten im Nahen Osten schützt, gefällt der türkischen Regierung. Bei einem Treffen mit dem libanesischen Staatschef Hariri bekräftigte Erdo?an die strategische und militärische Zusammenarbeit mit dem Zedernstaat. Die Rolle als Vermittler, der westliche Interessen im Nahost-Konflikt durchsetzt, scheint die Türkei dabei aufgegeben zu haben. Warum sollte die Türkei auch den Makler für Washington und Brüssel spielen, wenn sie selbst keine Vorteile davon hat? Europa hat viel zu verlieren, wenn es die Türkei brüskiert, indem es ihre EU-Mitgliedschaft ablehnt oder weiter hinauszögert. Die Türkei ist auf dem besten Wege, ein sehr wichtiger geostrategischer Schlüsselstein in der globalen Sicherheitsarchitektur zu werden. Es wäre mehr als fahrlässig, diesen Schlüsselstein ohne Not herauszureißen.