"Strafen" vom Sportlehrer

Der Missbrauchsskandal am Berliner Canisius-Gymnasium hat sich auf katholische Schulen in Hamburg, Hannover, Chile, Spanien und St. Blasien im Schwarzwald ausgeweitet

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Am katholischen Berliner Canisiusgymnasium soll es in den 1970er und 1980er Jahren mindestens 22 Fälle von Kindsmissbrauch gegeben haben. Die mutmaßlichen Täter waren ein Sport- und ein Religionslehrer.

Obwohl die Vorgesetzten des Sportlehrers Wolfgang S. schon damals "Hinweise" auf dessen Taten hatten, wie der Schulträger heute einräumt, wurde er nicht entlassen, sondern immer wieder versetzt und konnte seinen Neigungen auch an seinen jeweils neuen Einsatzorten nachgehen. An der katholischen Sankt-Ansgar-Schule in Hamburg, an der S. nach seiner Zeit in Berlin tätig war, gibt es drei Verdachtsfälle; an seiner darauf folgenden Wirkungsstätte St. Blasien im Schwarzwald "mehrere". Außerdem soll der Mann in einem Fragebogen weitere Handlungen in Spanien und in Chile zugegeben haben. Dort hat man mittlerweile Akten aus Deutschland angefordert.

Foto: Peng/jha. Lizenz: CC-BY-SA 3.0

Nun wurden durch mehrere Opfer Details über die Vorgänge bekannt, die ein interessantes Licht auf den engen Zusammenhang zwischen Strafen und sexuellem Missbrauch werfen. Der heute 45 Jahre alte Manfred T. schilderte der B.Z. wie der Sportlehrer ihm fünf Mal zehn Schläge auf den nackten Hintern gab, während eine unbekannte Person fotografierte. Vorher war dem Opfer seine Zustimmung zu der Bestrafung abgepresst worden, indem ihm gesagt wurde, dass es damit einen Verweis abwenden könne, der sonst bei dreimaligem "Tadel" fällig gewesen wäre. Einen "Tadel" gab es nach drei Einträgen wegen Störens im Unterricht.

Dieses Angebot stellte der Sportlehrer offenbar als eine Art besondere Gnade dar, von der niemand wissen dürfe. Als Wolfgang S. sich schließlich eingestand, dass er mit den Anforderungen an einen katholischen Priester nicht zurechtkam und heiratete, gab der Sportlehrer in einem Brief zu, dass es eine "traurige Tatsache" sei, dass er "jahrelang Kinder und Jugendliche unter pseudopädagogischen Vorwürfen missbraucht und misshandelt" habe.

Das Verkleiden sexueller Übergriffe als verdiente Strafe und gleichzeitige Gnade funktionierte offenbar so gut, dass es Manfred T. als Kind nach eigenen Angaben nie in den Sinn gekommen wäre, dass es sich um Missbrauch handeln könnte. Noch heute schildert er den Lehrer als "nett" und empfindet "Mitleid" für ihn, obwohl die sexuell motivierte Demütigung ihm damals "richtig wehgetan" hat. Auch ein von der Taz aufgestöberter ehemaliger Canisiusabsolvent schildert den heute Fünfundsechzigjährigen S. als Jemanden, der die Schüler "fasziniert" habe.

Der am Canisiuskolleg tätige Religionslehrer Peter R., der heute in Berlin-Lichterfelde Rente bezieht, soll sich ebenfalls nicht nur dort, sondern an mehreren Orten an Minderjährigen zu schaffen gemacht haben. Konkrete Hinweise gibt es aus Mexiko, Hildesheim und Göttingen, wo er von 1982 bis 1989 kirchliche Jugendarbeit verrichtete. Bisher weist er im Gegensatz zum Sportlehrer S. jedoch alle Vorwürfe von sich.

Der heute Achtundsechzigjährige verkleidete sexuell motivierte Übergriffe möglicherweise wie sein Kollege. Einem ehemaligen Schüler zufolge strafte er ebenfalls durch Schläge auf den nackten Hintern - und zwar "lustvoll" und "mit Gewalt". Das Motto des Religionslehrers lautete angeblich "Macht der Schüler quatsche, quatsche, macht der Lehrer patsche, patsche." Ein anderer Canisiusabsolvent, der die Schule 1980 verließ, sagte der Bild-Zeitung, dass er sich als Vierzehnjähriger gegen seinen Willen auf R.s Schoß setzen und seine Vorhautverengung herzeigen sollte.

Johnny Haeusler von Spreeblick, der das Gymnasium in der fraglichen Zeit besuchte, erinnert sich an eine "Gemeinschaft Christlichen Lebens" benannte freiwillige Nachmittagsbetreuung, die anderen Quellen zufolge zeitweise von R. geführt wurde. Dem Blogger, der das Angebot selbst nur kurzzeitig wahrnahm, erzählten Mitschüler später, dass sie dort "eine Kerze als Geschenk von einem Pater erhalten [hätten], welche [sie] jedesmal dann anzünden sollten, wenn sie onanierten. Die benutzte Kerze sollten sie später wieder mit den Club bringen, der Pater würde im persönlichen Gespräch klären, ob sie sich zu oft angefasst hätten."

Auch R. wurde lange Zeit nicht entlassen, sondern immer wieder versetzt. Dass seine Unterrichtsmethoden möglicherweise Schäden hinterließen, darauf deutet ein Messerattentat hin, das angeblich R.s ehemaliger Schüler Adam T. 1986 durchführte, der im Jahr darauf in der Psychiatrie Selbstmord beging.

Mittlerweile gestand auch der in den 1970er Jahren ebenfalls am Canisiusgymnasium tätige Bernhard E. die sexuelle Belästigung von Schutzbefohlenen. Die Vorwürfe gegen ihn kamen allerdings nicht aus Berlin, sondern aus Hannover, wo der heute siebzigjährige "Träger mehrerer Ehrendoktortitel und Gründer einer wichtigen deutschen Hilfsorganisation" ebenfalls tätig war. E. wurde von Dienst suspendiert und dazu gedrängt, Anzeige gegen sich selbst zu stellen.

Aus den derzeit laufenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen sind jedoch keine Strafen zu erwarten, da die Opfer von "einfachem" sexuellen Missbrauch nach Vollendung ihres 18. Lebensjahres lediglich zehn Jahre Zeit haben, eine Tat zur Anzeige zu bringen. Danach gilt sie als verjährt. Ausnahmen macht man lediglich bei Vergewaltigung.

Weitgehend unklar ist, inwieweit die Opfer eventuelle Ausgleichszahlungen geltend machen könnten. Eventuell besteht hier Handlungsbedarf hinsichtlich der Stärkung zivilrechtlicher Ansprüche - nicht nur gegen die katholische Kirche, sondern auch gegen staatliche Heime, Eltern oder Arbeitgeber, die minderjährige Auszubildende beispielsweise zum regelmäßigen und ungeschützten Umgang mit gesundheitsschädlichen Substanzen wie Asbest, Formaldehyd oder Trichlorethen zwangen.