Drei Viertel aller Abhörmaßnahmen entsprechen nicht den gesetzlichen Anforderungen

Interview mit Dirk Schatz - Polizeibeamter und Kandidat der Piratenpartei für den nordrhein-westfälischen Landtag

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Die Masseneintritte im letzten Jahr sorgten dafür, dass die Piratenpartei personell vielfältiger wurde. Auf der Kandidatenliste für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen finden sich auf den vorderen Rängen unter anderem zwei Rechtsanwälte, ein World-of-Warcraft-spielender Pfarrer, eine Psychologin, ein Feuerwehrmann und der Polizeibeamte Dirk Schatz.

Herr Schatz - Sie sind Polizeibeamter und auf Platz 3 der Landesliste der Piratenpartei in Nordrhein-Westfalen. Gab es Erfahrungen in Ihrem Beruf, die sie auf ihr politisches Engagement brachten?

Dirk Schatz: Wenn Sie mit dieser Frage darauf abzielen, ob ich mit meinen Kollegen und deren Umgang mit den Bürgern so schlechte Erfahrung gemacht habe, dass ich mich quasi genötigt sah, einer Partei beizutreten, deren klares Ziel es u.a. ist, die Bürgerrechte zu verteidigen, kann ich dies mit einem klaren "Nein" beantworten. Auch wenn es tatsächlich einige Problemfälle zwischen Polizei und Bürgern gibt, die auch ich sehe, und denen ich selbstverständlich entgegentreten möchte, so war dies sicherlich nicht der Grund für mein politisches Engagement in der Piratenpartei. Ich bin der festen Überzeugung, dass mindestens 95% aller Polizeibeamten in Deutschland ihren Job sehr gut machen.

Tatsächlich war ich schon vor meiner Tätigkeit für die PIRATEN bei der SPD engagiert. Jedoch habe ich mich dort nie so richtig wohl gefühlt, da ich selbst als Parteimitglied immer das Gefühl hatte, als Mitglied der Basis nicht so wirklich was verändern zu können. Die Kungeleien um Pöstchen sogar schon auf kommunaler Ebene und das Gefühl, mich erst "hochdienen" zu müssen, bevor ich wirklich was bewegen kann, haben mich sehr gefrustet. Ich hatte manchmal den Eindruck nicht mehr als ein "Fußsoldat" zu sein.

Bei den PIRATEN hingegen bin ich erst seit August 2009 wirklich Mitglied, auch wenn ich gestehen muss, schon während meiner SPD-Zeit mit ihnen "fremdgegangen" zu sein. Und trotz dieser recht kurzen Zeit habe aktiv an den Formulierungen des Parteiprogrammes mitgearbeitet und mich und meine Standpunkte auch sonst mehr einbringen können, als ich es in den etablierten Parteien in zehn Jahren hätte machen können.

Zugegeben, die Piratenpartei ist, im Verhältnis zu den etablierten, noch recht klein was ihre Mitgliederzahl angeht, so dass sich hier natürlich auch viel mehr Möglichkeiten für den Einzelnen bieten. Dennoch ist sie von ihrer Grundstruktur auf aktives Mitarbeiten und Mitbestimmen aller angelegt, fast immer - selbst dann, wenn man kein Mitglied ist. Und das soll und wird auch bei steigenden Mitgliederzahlen so bleiben. Politik zum Mitmachen Eben.

Steuerdaten-CD

Unter Ihren politischen Zielen nennen Sie an prominenter Stelle ein "striktes Verwertungsverbot von sämtlichen, illegal erworbenen Erkenntnissen in Strafverfahren" - würde das auch für die aktuell debattierte Steuerdaten-CD gelten?

Dirk Schatz: Nun, um meinen Standpunkt zu dieser CD gleich vorweg zu nehmen, muss ich ganz klar sagen, dass ich gegen eine Verwendung dieser Daten bin. Jedoch aus einem anderen Grund.

Meinen Standpunkt des strikten Verwertungsverbotes muss man differenzierter betrachten. Es geht mir ja nicht darum dem Staat eine Möglichkeiten zur Aufklärung von Straftaten aus der Hand zu nehmen, sondern die Grundrechte wieder verstärkt als das zu verstehen, wofür sie ursprünglich gedacht waren. Nämlich als klassische Abwehrrechte des Bürgers gegen Eingriffe des Staates als Folge unserer schlimmen Vergangenheit, was solche Eingriffe angeht. Und damit meine ich nicht nur die Zeit des Nationalsozialismus.

Mit großer Sorge beobachte ich nun schon seit einiger Zeit eine immer weiter gehende Aufweichung dieser von uns hart erkämpften Rechte zu Gunsten des staatlichen Strafverfolgungsanspruches. Aber aus diesem Anspruch auf Strafverfolgung folgt auch gleichzeitig das Gewaltmonopol des Staates. Wer jedoch ein Monopol auf Gewalt gegen seine Bürger hat, hat auch die Pflicht, mit diesem Monopol verantwortungsbewusst umzugehen. Dieses Verantwortungsbewusstsein sehe ich leider immer weiter schwinden.

Man muss sich z.B. vor Augen führen, dass es bis vor wenigen Jahren bei der Polizei nicht selten der Fall war, sich der richterlichen Kontrolle bei Hausdurchsuchungen dadurch zu entziehen, dass man einfach wartete, bis bei den Gerichten aufgrund des Feierabends niemand mehr zu erreichen war, um dann die Hausdurchsuchung wegen "Gefahr im Verzuge" durchzuführen.

Und selbst nachdem der BGH diese Praxis dann nicht mehr duldete, haben die Behörden auch heute oft Nichts zu befürchten, da in Deutschland statt eines strikten Verwertungsverbotes lediglich eine Abwägung zwischen dem rechtswidrigen Eingriff und dem Strafverfolgungsanspruches des Staates stattfindet. Letzteres bekommt, selbst bei Kleinigkeiten, leider immer häufiger den Vorzug. Dies kann und wird meiner Meinung nach dazu führen, dass die Behörden völlig bewusst auch rechtswidrig ermitteln, wenn sie keine anderen Möglichkeiten sehen.

Bei einem strikten Verwertungsverbotes hingegen müsste sich der Staat bei jedem Mal, wenn er rechtswidrig in Grundrechte eingreifen will, von Neuem fragen, ob sich das Risiko lohnt, den Täter im schlimmsten Fall aus Mangel an Beweisen laufen lassen zu müssen. Er müsste sich seiner Verantwortung also jedes Mal neu bewusst werden.

Bei der Steuer-CD sehe ich das Problem allerdings nicht, da es nicht der Staat war, der in die Rechte der Betroffenen eingegriffen hat, sondern der Verkäufer, also ein normaler Bürger. Auch wurde er wohl nicht durch die Behörden dazu beauftragt. Die Grundrechte, als Abwehrrecht gegen den Staat, kommen hier also nicht zum Tragen.

Aber (erst einmal unabhängig davon, ob sich die Behörde durch eine solche Handlung selber strafbar macht oder nicht) bin ich trotzdem gegen eine Verwendung der Daten, da der Staat auch eine Vorbildfunktion hat. Mit einer solchen Handlung fördert er das Bewusstsein der Bürger, aus den Geheimnissen der Anderen Profit schlagen zu können, und solche Handlungen werden salonfähig. Aber in einem Staat, in dem Bürger sich gegenseitig überwachen, in der Hoffnung, daraus vielleicht Profit schlagen zu können, möchte ich genauso wenig leben. Ich glaube, die StaSi hat nach einem sehr ähnlichen Prinzip funktioniert.

Und wäre die Information über Michel Friedmans Kokainbesitz verwendbar, die bei einer Telefonüberwachung wegen Menschenhandels bekannt wurde?

Dirk Schatz: Meiner Meinung nach schon, wenn die Überwachungsmaßnahme als solche rechtmäßig war. Wenn ich im Zuge einer rechtmäßigen Hausdurchsuchung bei einem der dortigen Gäste rein zufällig z.B. Drogen fände, würde dies, zu Recht, genauso verfolgt.

Wie sieht es mit Namen und Adresse eines Urheberrechtsverletzers aus, die aufgrund der datentschutzwidrigen Speicherung eines Providers gewonnen wurden?

Dirk Schatz: Wenn der Staat den Anspruch gegenüber dem Provider rechtmäßig durchgesetzt hat, und der Provider hat z.B. lediglich vergessen, die Daten vorschriftsmäßig zu löschen, so ist darin, im Hinblick auf ein Verwertungsverbot, kein Fehlverhalten des Staates zu erkennen. Wobei wir uns glaube ich nicht darüber unterhalten müssen, dass ich als PIRAT eine vermutlich etwas andere Vorstellung darüber habe, ab wann der Staat einen solchen Anspruch haben sollte.

Wie könnte man ein "striktes Verwertungsverbot von sämtlichen, illegal erworbenen Erkenntnissen in Strafverfahren" rechtlich und praktisch umsetzen?

Dirk Schatz: Ich glaube, darin sehe ich kein so großes Problem. Rechtlich wäre dies durch eine relativ einfache Änderung der Strafprozessordnung umsetzbar. Und praktisch bräuchte nicht viel geändert zu werden. Wir haben ja schon heute ein mehr oder weniger striktes Verwertungsverbot bei schwerwiegenden Fehlern, wie z.B. bei erzwungenen Aussagen durch Folter oder Ähnlichem. Dieses würde dann nur auf weitere Bereiche ausgeweitet.

Beleidigungen aus praktischen Gründen ins Ordnungswidrigkeitenrecht

Haben Sie den Eindruck, dass die vorhandenen Ressourcen bei Polizei und Justiz sinnvoll verteilt werden?

Dirk Schatz: Dazu kann ich sagen, dass wir in Deutschland hervorragend ausgebildete Führungskräfte im Bereich der Polizei haben. Diesen traue ich durchaus zu, dass sie in der Lage sind, die vorhandenen Ressourcen sinnvoll zu verteilen. Das Problem sehe ich eher darin, dass zu wenige Ressourcen zum Verteilen vorhanden sind.

Was halten Sie von der Idee eines Ressourcenallokationsgesetzes, das z. B. regelt, dass erst die Raubüberfälle abgearbeitet werden, bevor man sich um Beleidigungen oder nichtgewerbliche Urheberrechtsverletzungen kümmert?

Dirk Schatz: Von dieser Idee halte ich nicht viel, da es tatsächlich bereits schon immer so gemacht wird - auch ohne gesetzliche Regelung. Ein einfacher Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik genügt, um das festzustellen. Es war schon immer so, dass einfache Delikte, wie z.B. die einfach Körperverletzung oder der einfache Diebstahl, eine weitaus geringere Aufklärungsquote hatten, als schwere Delikte wie Raub oder gar Tötungsdelikte mit Aufklärungsquoten nahe der 100%. Das liegt genau daran, dass bei einfachen Delikten weniger Ressourcen eingesetzt werden. Würden bei einfachen Delikten die gleichen Ressourcen an Personal und Geld eingesetzt, so hätte man auch dort ähnlich hohe Quoten. Die Frage ist allerdings, wie verhältnismäßig es wäre, für den Diebstahl eines Autoradios im Wert von z.B. 300€ einen Aufwand von mehreren tausend oder gar zehntausend Euro zu betreiben. Von daher sehe ich dort keine Lücke, welcher einer gesetzlichen Regelung bedarf.

Sollte man manches, was jetzt als Straftat gilt, der Verhältnismäßigkeit halber besser mit dem Ordnungswidrigkeitenrecht regeln?

Dirk Schatz: Ob man es der Verhältnismäßigkeit wegen machen sollte ist eine Frage, die ich so einfach nicht beantworten kann. Das ist eine Frage, die von der Gesellschaft beantwortet werden muss, da in der Regel ja nur Das eine Straftat ist, was in der Gesellschaft als besonders geächtet gilt. Ich kann für mich persönlich jedenfalls sagen, dass es schon einige Straftatbestände gibt, die ich lieber im Bereich der Ordnungswidrigkeiten sehen würde, schon alleine aus praktischen Gründen. Nehmen wir z.B. die Beleidigung. Mal ganz ehrlich, wegen Beleidigung werden in der Praxis ohnehin grundsätzlich nur Geldstrafen verhängt, bei sehr vielen Verfahren kommt es gar nicht zur Verhandlung. Eine Verlegung dieses Straftatbestandes in den Bereich der Ordnungswidrigkeiten würde Gerichte und Staatsanwaltschaften enorm entlasten und im Endeffekt sogar zu mehr "Bestrafungen" führen, da ein Bußgeldverfahren in der Regel schnell durchgeführt wird. Schon alleine wegen der kürzeren Verjährungsfrist.

Zahlreiche langwierige Plagiatsklagen zeigen immer wieder, wie kompliziert das Urheberrecht ist und wie leicht versehentliche Verletzungen begangen werden können. Wäre es nicht sinnvoller, solche Fragen alleine aus Rücksicht auf das Bestimmtheitsgebot im Grundgesetz alleine dem Zivilrecht zu überlassen?

Dirk Schatz: Das Bestimmtheitsgebot sagt ja nur aus, dass der Staat bei Eingriffen in die Bürgerrechte seine Gesetze sehr genau, eben bestimmt, formulieren muss. Ich denke, dass dies im Urheberrechtsgesetz schon eingehalten wurde. Und wenn jemand versehentlich eine Verletzung verursacht, ist dies kein strafrechtliches Problem, da das Urheberrechtsgesetz nur Vorsatztaten unter Strafe stellt. Allerdings bin ich natürlich der Ansicht, dass die jetzigen Strafvorschriften im Urheberrechtsgesetz viel zu weit gehen.

Hausdurchsuchung für MP3-Dateien im Wert von 2,60 Euro

Im letzten Jahr genehmigte das Amtsgericht Augsburg eine Hausdurchsuchung wegen zweier MP3-Dateien im Wert von jeweils 1,29 Euro. Wird die Anordnung solcher Maßnahmen ausreichend kontrolliert?

Dirk Schatz: Kontrollieren kann solche Entscheidungen nur die höhere Instanz, da der Richter frei in seiner Entscheidung ist. Diesen Grundsatz halte ich auch für richtig. Allerdings stimme ich voll zu, dass eine solche Anordnung völlig unverhältnismäßig ist. Auf der einen Seite haben wir das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, das zu Recht ein sehr hohes Gut darstellt. Auf der anderen Seite haben wir einen Wert von 2,60 Euro. Das ist genau das Problem, das ich bereits angesprochen habe. Der Strafverfolgungsanspruch des Staates ist meiner Meinung nach nicht absolut, sondern immer eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Wenn diese selbst durch die Gerichte nicht mehr gewahrt wird, muss man gesetzlich nachbessern.

Wie sieht es mit Telefonüberwachungen aus?

Dirk Schatz: Auch hier ist die Zahl der Maßnahmen in den letzten Jahren stark gestiegen. Daher ist auch hier die Frage, ob die Verhältnismäßigkeit im Einzelfall gewahrt wird. Das wage ich aber leider zu bezweifeln. Eine Universitätsstudie aus dem Jahr 2003 zeigt, dass drei Viertel aller Abhörmaßnahmen nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprechen. Auf dem Land entscheiden teilweise Familienrichter, die seit Jahren nur Zivilrecht gemacht haben, über Telefonüberwachungsmaßnahmen. Da muss stark nachgebessert werden.

Wie könnte man Anreize für eine gründlichere richterliche Prüfung der Anträge auf Hausdurchsuchung und Telefonüberwachung schaffen?

Dirk Schatz: Ich bezweifele, dass das eine Frage von unzureichenden Anreizen ist. Natürlich gibt es mit Sicherheit auch unter der Richterschaft schwarze Schafe, so wie überall, aber im Großen und Ganzen glaube ich, dass die meisten Richter sehr bemüht und motiviert sind, das Recht zu wahren. Das Problem ist schlichtweg, dass sie häufig keine Möglichkeiten haben, gründlicher zu sein. Oft haben sie keine Zeit, oder wie mein Beispiel von gerade zeigt, fehlt ihnen nicht selten die nötige Spezialausbildung, um richtig entscheiden zu können. Das kann man aber schlecht dem einzelnen Richter anlasten. Er hat keine andere Möglichkeit, als mit den schlechten Gegebenheiten klar zu kommen. Da ist die Politik gefragt nachzubessern. Vor allem müssen mehr Richterstellen geschaffen werden, um für den Einzelfall mehr Zeit zu haben. Auch eine bessere Weiterbildung der Richter gehört zu solchen Nachbesserungen.

Aus deutschen Gefängnissen gab in den letzten Jahren zahlreiche Berichte über Zustände wie in amerikanischen Spielfilmen - mit Vergewaltigungen, Folter und Mord. Plant die Piratenpartei, daran etwas zu ändern?

Dirk Schatz: Ich sage mal so, unser Parteiprogramm ist, hauptsächlich aus Zeitgründen, im Bereich der Justiz leider noch nicht komplett ausgearbeitet. Ich weiß aber, dass, wenn wir im Mai in den Landtag einziehen, neben mir mindestens noch ein weiterer Listenkandidat sitzen wird, dem die Justiz sehr am Herzen liegt. Und wir planen auf jeden Fall etwas daran zu ändern. Die Anpassung des Parteiprogramms auch in diesem Bereich ist nur noch eine Frage der Zeit, aber wir wollten auch keine unqualifizierten Schnellschüsse produzieren. Das machen die anderen schon zur Genüge.