Vom Verschwinden des Lohnabstands

Warten auf das Urteil aus Karlsruhe: Was, wenn die Sozialleistungen höher liegen als die Löhne von Geringverdienern?

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Morgen fällt das Bundesverfassungsgericht sein Urteil über die Hartz-IV-Regelsätze von Kindern (siehe dazu Ein Sechsjähriger isst eben weniger als ein Fünfjähriger). Allgemein wird erwartet, dass in der Folge des Urteils der Gesetzgeber die Regelsätze für Kinder erhöhen muss. Äußerungen des Gerichtspräsidenten Hans-Jürgen Papier legen nahe, dass auch die allgemeinen Regelsätze zur Disposition stehen (vgl. dazu Koch: Mehr Temperatur durch Härte bei Hartz IV). Eine daraus folgende Erhöhung hätte große sozialpolitische Auswirkungen. Aktuelle Berechnungen zeigen, dass sich der Lohnabstand zwischen Nettolöhnen und Sozialleistungen in vielen Fällen derart verringern könnte, dass sich die Frage, ob sich Arbeit lohnt, mit einer neuen Drastik stellt.

Dass Erwerbstätige mehr Geld erhalten sollen als Empfänger von Sozialleistungen, ist eine Forderung, die in alltäglichen Gesprächen mit großem Sprengstoff vermint ist. Das Gerechtigkeitsempfinden vieler, die für ihr Auskommen hart arbeiten, verlangt einen Unterschied in Geldleistungen, auch in der Sozialgesetzgebung ist das "Lohnabstandsgebot" verankert. In § 28 des SGB XII zu den Regelleistungen heißt es unter Punkt 4:

Die Regelsatzbemessung gewährleistet, dass bei Haushaltsgemeinschaften von Ehepaaren mit drei Kindern die Regelsätze zusammen mit Durchschnittsbeträgen der Leistungen nach den §§ 29 und 31 und unter Berücksichtigung eines durchschnittlich abzusetzenden Betrages nach § 82 Abs. 3 unter (Hervorhebung d.A.) den erzielten monatlichen durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelten unterer Lohn- und Gehaltsgruppen einschließlich anteiliger einmaliger Zahlungen zuzüglich Kindergeld und Wohngeld in einer entsprechenden Haushaltsgemeinschaft mit einer alleinverdienenden vollzeitbeschäftigten Person bleiben.

Dem stehen die Nöte von Arbeitslosen gegenüber, die mit den jetzigen Transferzahlungen, die am Existenzminimum angesiedelt sind, nicht auskommen, besonders wenn sie Kinder haben. Deren Regelsätze seien aus politischen Gründen zu niedrig angesetzt, so die Darlegung von Kritikern.

Aber schon mit den jetzigen Regelsätzen wird das "Lohnabstandsgebot" in vielen Fällen nicht eingehalten, wie Berechnungen des Karl-Bräuer-Instituts, das dem Bund der Steuerzahler angeschlossen ist, deutlich machen. Sie sind heute in der FAZ veröffentlicht.

Für eine Familie mit zwei Kindern läge der ALGII-Anspruch bei 1653 Euro, rechnet die Zeitung vor. Geringverdiener, die verheiratet sind und zwei Kinder haben, und im Gaststätten oder Hotelgewerbe arbeiten, im Wach- und Sicherheitsgewerbe, im sozialen Bereich (Erziehung und Unterricht, Pflege), im Einzel- oder Großhandel, Garten- und Landschaftsbau, in Call-Centern, als Mitarbeiter bei Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern, in der KFZ-Branche oder in der Zeitarbeit, erhalten im Durchschnitt schon jetzt weniger, wie die Liste des Karl-Bräuer-Instituts zeigen.

Auch sogenannte Durchschnittsverdiener im Hotel-und Gaststättengewerbe liegen demnach noch unter dem ALGII-Anspruch für eine Familie. Andere Branchen sind nicht weit vom staatlich bezahlten Existenzminimum entfernt. Mit höheren Regelsätzen würde das noch mehr Branchen betreffen, warnt die Zeitung.

Nun wird allerhand ins Feld geführt, um den größeren Lohnabstand wiedereinzuführen. Arbeit soll sich schließlich lohnen. Die Absenkung der Sozialleistungen, ein unter „marktliberalen“ Politikern populäres Konzept, dürfte mit dem Bundesverfassungsgerichts-Urteil derzeit schwer zu vereinbaren sein. Der Präsident Karl Heinz Däke, Präsident des Bundes der Steuerzahler, plädiert naturgemäß für die Absenkung von Steuern (Abschaffung der kalten Progression) - mit dem Hinweis darauf, dass „Reformen bei den sozialen Sicherungssystemen“ auch deutlich für „mehr Netto" sorgen würde. Das Kieler Institut für Weltwirtschaftsforschung (IfW) wird mit einem Rettungsweg aus der „Hartz-Falle“ zitiert, die auf eine Erhöhung des Kindergelds hinausläuft, eine teure Angelegenheit für den Staat und billig für Arbeitgeber, da sie keine Lohnkosten verursachen würde.

Dass die Arbeitgeber in der Debatte geschont werden, ist ein Leitmotiv, das sich durchzieht. Die Forderung nach höheren Löhnen kommt der Debatte um den Lohnabstand - wie er sich in dem FAZ-Beitrag "Wo sich Arbeit nicht mehr lohnt" zeigt - nur mehr in kurzen Andeutungen vor. Das ist schon ein Diskurs-Sieg, wenn Gewerkschaften nur mehr mit dem Mindestlohn-Argument ausführlicher zitiert werden - und so gut wie nicht mehr mit dem Argument der zu schlechten Bezahlung für geleistete Arbeit:

Aus Sicht der Gewerkschaften kann der Lohnabstand nur durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns für alle Branchen wiederhergestellt werden.

Nur mehr die Bremse - damit es nicht noch weiter nach unten geht - wird erwähnt, der kausale Zusammenhang zwischen Hartz IV, den 1 Eurojobs und dem Niedriglohnsektor mit dem Lohndumping auf die Seite gewischt. Man vergleicht das HartzIV-Existenzminimum also mit seinem Kind, dem herangewachsenen Niedriglohnsektor, von dem Unternehmer trefflich profitieren - und stellt dann fest, dass sie sich ähneln. Dass das eine genauso scheußlich ist wie das andere.

Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.

Gerhard Schröder, Rede vor dem World Economic Forum in Davos, 2005