Mehr Armut, mehr Grundeinkommen

Faulenzerdebatten werden weltweit geführt. Bedingungsloses Grundeinkommen wird in Europa diskutiert, aber in Afrika und Brasilien schon ausprobiert

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Es ist revolutionär, sagen die einen, utopisch, die anderen: Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommen ist in Deutschland und Europa noch immer nicht mehr als ein Kaffeehausthema. Die Idee, dass jeder - ob Kleinkind, Rentner, Millionär oder Obdachloser monatlich ein Einkommen erhält und das ohne Vorbedingungen - klingt für viele verlockend – ist aber derzeit nicht politikfähig. Das Ganze sei zu teuer, die Menschen würden nicht mehr arbeiten, nur noch in der Hängematte liegen und die Angst vor einer Abschaffung des herkömmlichen Sozialstaats sind nur einige der Vorurteile.

Während sich die Grundeinkommensbewegung hierzulande noch über das „Wie“ und „Womit“ den Kopf zerbricht, schreitet man in Entwicklungsländern schon zur Tat: Dort heißt das Grundeinkommen meist bedingungsloser „Cash-Transfer“ oder „basic income grant (BIG)“. Das hat Gründe: In Europa geht es um gesellschaftliche Teilhabe, Entscheidungsfreiheit und freie Entfaltung, in armen Ländern soll ein Grundeinkommen zuerst einmal die nackte Existenz absichern, eine zweite oder dritte Mahlzeit ermöglichen.

Hier wie im Süden wird das Grundeinkommen von seinen Verfechtern als Menschenrecht diskutiert: Jeder Mensch müsse allein durch seine Existenz ein Recht auf eine existenzielle Absicherung haben. Für Menschenrechtsorganisationen wie FIAN verlangt das Völkerrecht - namentlich der UN-Sozialpakt, der von 158 Staaten, unter anderem von Deutschland ratifiziert wurde, - mit dem „Recht auf einen angemessenen Lebensstandard“ de facto ein bedingungsloses Mindesteinkommen. So scheint es auf den zweiten Blick gar nicht verwunderlich, dass das Grundeinkommen zuerst dort ausprobiert wird, wo es an Existenziellem fehlt.

Brasilien: Von „Bolsa Familia“ zum bedingungslosen Grundeinkommen

Den größten politischen Erfolg feiert es gegenwärtig in Brasilien. Dort wollte der bekennende Grundeinkommensfan Senator Eduardo Sublicy schon Anfang diesen Jahres ein Einkommen für alle einführen. Bereits 2004 hatte die Regierung Lula ein Gesetz auf den Weg gebracht, das die schrittweise Einführung eines Grundeinkommens vorsieht. Doch in Brasilien ist man noch nicht soweit, das Großprojekt ist verschoben.

Bislang bleibt es bei dem bekannten Bolsa Família - Programm, das der Senator als „Vorstufe“ zu einem bedingungslosen Grundeinkommen ansieht. Mit Bolsa Família bekommen 12,4 Millionen arme Familien in Brasilien eine finanzielle Unterstützung. Bedingung ist allerdings, dass sie ihre Kinder zur Schule schicken und sich gesundheitlich untersuchen lassen. Das Problem liegt auf der Hand: Das Programm ist nicht mehr als eine Grundsicherung und es ist nicht bedingungslos

„Das derzeitige Grundsicherungsprogramm hat zwei entscheidende Haken: Nur ein Teil der Ärmsten erhält es, Menschen werden ausgeschlossen und zweitens ist der Betrag viel zu niedrig“, meint Clovis Zimmermann. Er ist Dozent für Sozialpolitik an der Universidade Estadual de Montes und begleitet seit Jahren die Grundeinkommensdiskussion in Brasilien: „Senator Sublicy und seine Ideen sind sehr populär, aber er entscheidet eben nicht allein über ein landesweites Grundeinkommen“. Viele brasilianische Intellektuelle und Politiker hätten massive Vorurteile gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen und die arme Bevölkerung:

Diese Kritiker denken, dass die Armen sofort aufhörten zu arbeiten und sie dann keine Motivation mehr hätten.

Teilweise würde das auch stimmen: Denn Frauen, die jetzt eine Unterstützung bekommen würden, könnten nun ihre eigenen Kinder aufziehen und müssten nicht mehr den ganzen Tag als Kindermädchen bei den wohlhabenden Familien arbeiten. Trotz des Widerstands aus wohlhabenden Kreisen halten Senator Sublicy und seine Anhänger an der Idee fest: „Bei den Kindern wollen wir anfangen und dann Schritt für Schritt die ganze Bevölkerung erfassen“, so Zimmermann. Finanziert werden soll das mit Ressourcengewinnen und über Steuern. In der Nähe der Großstadt Sao Paulo wird in diesem Jahr ein erstes Pilotprojekt angeschoben: 7000 Menschen sollen dort ohne Gegenleistung ein monatliches Einkommen erhalten.

Cash-Transfer in Namibia: Zwei Jahre lang neun Euro monatlich

Auch in Afrika hat man die Probe aufs Exempel gemacht: In Namibia startete eine Koalition aus Hilfsorganisationen vor zwei Jahren ein Pilot-Projekt im Örtchen Omitara in der Wüste Namib. In dem südwest-afrikanischen Land ist die Einkommenskluft zwischen Reichen - wie den weißen Farmern - und der normalen Bevölkerung die größte weltweit. Die namibische „BIG-Koalition“ begann 2008 mitten in dieser immensen Ungleichheit ihr Experiment mit dem bedingungslosen Grundeinkommens.

Alle rund 1000 Bewohner von Omitara konnten sich zwei Jahre jeden Monat ein monatliches Einkommen von 100 namibischen Dollar (rund neun Euro) auf dem Dorfplatz abholen - ohne eine Leistung dafür zu erbringen. Finanziert wurde das durch Spendengelder. Man wollte der namibischen Regierung beweisen, dass ein Grundeinkommen nicht nur gut für die Menschen, sondern am Ende auch gut für den Staat ist. Monatelang tobten die Debatten um das kleine Dorf: Viele sagten voraus, die Menschen würden ihr Geld nur vertrinken und verspielen. Doch es kam anders, meint Dirk Haarmann, der das BIG-Projekt begleitete:

Die Dorfbewohner haben Erstaunliches geleistet: Sie fingen an, kleine Geschäfte zu gründen, zu handeln oder Ziegel für ihre Häuser zu brennen. Jeder, der das Dorf sieht, ist danach überzeugt, wie gut das Einkommen der Dorfwirtschaft getan hat.

Im Dezember 2009 ist das Projekt ausgelaufen, aber seine Idee habe in Namibia Schule gemacht, meint Haarmann. Zahlreiche namibische Politiker seien nach Omitara gekommen und würden nun die Idee unterstützen. Ob es tatsächlich bald das bedingungslose Grundeinkommen für ganz Namibia geben wird, ist noch nicht klar. In ein bis zwei Jahren, schätzt Haarmann, könnte es soweit sein. „Die Regierung hat angesichts der großen Armut gar keine andere Wahl“, meint er.

Mittlerweile ist die Arbeitslosigkeit in Namibia auf 51 Prozent gestiegen und konventionelle Entwicklungshilfe hat versagt. Doch es gibt auch Widerstand. So hält etwa der namibische Premierminister nichts von dem bedingungslosen Geldtransfer. Man müsse den Menschen Arbeit und kein Geld geben, heißt es bei den Gegnern.

Faulenzerdebatten werden weltweit geführt

Diese Argumente kennt man auch von der deutschen „Faulenzerdebatten“: Arbeitslose müsse man nicht nur fördern, sondern vor allem auch fordern, hieß es seit Bundeskanzler Schröder. Auch der erneute Vorstoß von Ministerpräsident Roland Koch, sie für Hartz IV zu Arbeit zu verpflichten (siehe Koch: Mehr Temperatur durch Härte bei Hartz IV), geht in diese Richtung. Die Gegner eines Grundeinkommens stoßen sich deshalb in Europa wie in südlichen Ländern besonders an seiner „Bedingungslosigkeit“. Sie können sich deshalb maximal mit einem an bestimmte Kriterien geknüpften Geldtransfer anfreunden – in Deutschland heißt das dann gegenwärtig Hartz IV.

„Cash-Transfers mit Bedingungen sind Armutsfallen“, meint dagegen der BIG-Verfechter Haarmann. Das sieht auch der Mitbegründer des brasilianischen Netzwerk Grundeinkommens, Clovis Zimmermann, so. „Bedingungen und Ausschlusskriterien führen zu Menschenrechtsverletzungen“, meint er. Werden Leistungen gekürzt oder vorenthalten, habe das für die Menschen oft dramatische Folgen. Das motiviere am Ende nicht, sondern vergrößere die Armut.

Doch die Skepsis gegenüber einem bedingungslosen Grundeinkommen ist auch bei internationalen Institutionen weit verbreitet. So reden IWF und Weltbank gegen den Cash-Transfer. „Der IWF hat der namibischen Regierung von einem Einkommen ohne Bedingungen abgeraten“, berichtet der Entwicklungshelfer Dirk Haarmann. Tatsächlich hat der IWF die Kosten für den namibischen Staat weit höher angesetzt als die BIG-Koalition. Zudem widerspricht eine Politik des bedingungslosen Cash-Transfers den üblichen Maßnahmen der Institution, die vor allem darauf abzielt, große Wirtschaftszweige, insbesondere die Exportwirtschaft zu fördern. Das BIG hingegen setzt durch seinen individuellen Ansatz auf das Wachstum lokaler Märkte.

Wie umstritten der Ansatz ist, zeigt auch ein Pilotprojekt im afrikanischen Sambia. Von 2004 bis 2007 wurde mit Unterstützung der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) in Kalomo ebenfalls ein bedingungsloses Einkommen ausgezahlt. Doch dann habe sich die GTZ sehr plötzlich aus dem Projekt zurückgezogen. „Es lief zu gut, deshalb musste die Institution einen Rückzieher machen“, vermutet Dagmar Paternoga, Sozialarbeiterin und ehemalige Unterstützerin des sambischen Projektes. Man habe vergeblich im Bundesministerium für Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ) nach den Gründen für den Rückzug aus dem BIG-Projekt gefragt. Seitdem halte sich die GTZ von derartigen Pilotprojekten fern.

Doch die BIG-Idee ist nicht totzukriegen. Mittlerweile wird das Modell auch in anderen Länder wie Indien oder Südafrika als Alternative diskutiert – zunehmend auch in den Parlamenten. BIG-Koordinator Haarmann meint, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen vor allem in Ländern Sinn mache, die „viel zu verteilen“ hätten. In Europa hingegen müsse man abwägen, da es eben nicht mehr nur um eine existentielle Sicherung gehe, sondern um mehr: So bestehe die Gefahr, dass es durch „rechte Modelle“ sogar zu einer Abschaffung bestimmter Sozialleistungen kommen könne. Deshalb müsse man in Europa genau „durchrechnen“, welcher Entwurf Sinn mache, meint der Entwicklungshelfer.