"Islamisten lesen keine Feuilletons"

Interview mit Thierry Chervel über die hiesige Islamdebatte

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Die Islamdebatte verschärft sich. Während der prominenteste Islamgegner, der SPIEGEL-Schreiber und Autor Henryk Broder nicht gerade dafür bekannt ist, seine Kontrahenten pfleglich zu behandeln und sich wegen seiner drastischen Wortwahl bereits vor Gericht rechtfertigen musste (wo er allerdings gewann), weht mittlerweile auch den anderen Islamkritikern im Feuilleton ein rauerer Wind entgegen, der mit einer emphatischen Betonung der Rechte von Muslimen auf ihre kulturellen Lebensweisen einhergeht.

In nicht wenigen Zeitschriften wurde anlässlich des Anschlags auf den dänischen Mohammed-Karikaturisten Kurt Westergaard, verbunden mit einer massiven Kritik an den Prinzipien der Aufklärung, Position für die radikalreligiöse muslimische Seite bezogen. Säkulare Ansichten werden nicht automatisch mehr ein Berechtigungsbonus vor den muslimischen Positionen eingeräumt und Islamkritiker gar als "Hassprediger der Aufklärung" bezeichnet. Auch das Online-Magazin Perlentaucher, deren Mitbegründer und Redakteur Thierry Chervel sich hinter die Positionen der Islamkritiker gestellt hat, ist kürzlich Objekt feuilletonistischer Angriffe geworden. Telepolis hat mit ihm darüber und den deutschen Islam-Disput gesprochen.

Herr Chervel, der "Perlentaucher" ist von Hilal Sezgin in der Zeit scharf angegriffen worden. Werden Sie darauf reagieren?

Thierry Chervel: Wir haben ja darauf mit einer kleinen Richtigstellung reagiert. Mehr ist hier nicht zu tun. Das Interessante ist gar nicht so sehr der Text - meiner Meinung nach ein nicht sehr qualifizierter Verzweiflungsruf -, sondern dass die ZEIT ihn publiziert hat.

Wie lassen sich die Angriffe auf dessen Kritiker in die seit einigen Wochen laufende Feuilletondebatte über den Islam einordnen? Und wie erklären Sie sich die doch sehr leidenschaftliche Verdammung von Personen wie Necla Kelek oder Seyran Ates?

Thierry Chervel: Das ist natürlich eine komplexe Frage. Bereits letztes Jahr haben verschiedene Feuilletons synchron, wenn auch nicht kampagnenmäßig auf einige Islamkritiker eingedroschen. In erster Linie auf Henryk Broder, aber im Grunde noch mehr auf Necla Kelek, Seyran Ates und Ayaan Hirsi Ali. Ich glaube, dass die starke Reaktion unser Mehrheitsmedien gegen diese Islamkritiker auch damit zu tun hat, dass deren Kritik am Islam bei den Medien selber einen wunden Punkt trifft. Die Islamkritikerinnen beweisen persönlichen Mut und handeln nicht ohne Risiko fürs eigene Leben. Bei den westlichen Medien spürt man hingegen ein nicht ausgesprochenes Zurückweichen gegenüber der Ideologie des Islamismus und gewissen Zumutungen, die uns diese Ideologie bereitet. Diese kann man klar benennen, z.B. die Mohammed-Karikaturen, die praktisch von keiner Zeitung in Deutschland abgedruckt worden sind.

Sie stellen die Islamkritiker als schutzlose und harmlose Minderheit dar. Handelt es sich bei Leuten wie Henrik Broder nicht vor allem auch um bedenkenlose Provokateure, die fremdenfeindliche Klischees bedienen und somit in Deutschland durchaus Meherheitspositionen besetzen (und für ihre Positionen in den Medien auch ausreichend Aufmerksamkeit erfahren) - und das wohl nicht erst seit 11.9.? Henryk Broder und Ayaan Hirsi-Ali werden stets als Unschuldslämmer dargestellt. Sind sie das denn wirklich?

Thierry Chervel: "Bedenkenlose Provokateure"? So hat man wahrscheinlich im 19. Jahrhundert über Heinrich Heine geredet. Solche Vokabeln klingen mir zu frömmlerisch. Wir leben in einer Demokratie, die auch Provokationen aushalten muss. Ob Broder und Hirsi Ali Mehrheitspositionen vertreten, könnte man wohl nur durch eine Umfrage ermitteln. In den Mainstreammedien gilt das jedenfalls nicht. Übrigens muss die Mehrheit nicht dümmer sein als ihre Intellektuellen: Hätte man in Frankreich in den fünfziger Jahren nur die Intellektuellen abstimmen lassen, dann wäre Frankreich kommunistisch geworden. Die Islamkritiker sehe ich auch nicht als "schutzlose und harmlose Minderheit" oder als Unschuldslämmer, sondern als einzelne Personen, die für ihre Meinung einstehen und dabei ein höheres Risiko eingehen als die Steinfelds und Assheuers in ihren gut geheizten Redaktionsstuben.

"Skandalöse Gleichsetzung"

Henryk M. Broder wird ein "Hassprediger" genannt. Denken Sie, dass hier die Verhältnismäßigkeit gewahrt wird?

Thierry Chervel: Meiner Meinung nach nicht. Ich bin immer dafür, dass man Debatten mit hochgezogenen Ärmeln führen kann. Wir leben in einer Demokratie und sollten auch ein scharfes Wort ertragen. Das gilt für Sarrazin und Broder und auch für die Gegenseite. Aber hinter dieser Bezeichnung steckt eine Gleichsetzung, die ich skandalös finde, weil jemand, der wie Kelek oder Broder mit Worten kämpft, mit jemandem gleichgesetzt wird, der zum Mord aufruft. Gleichzeitig steckt darin auch eine Umdrehung der Tatsachen, weil Menschen wie Seyran Ates, die mit dem Leben bedroht werden, als die eigentlichen Brandstifter dargestellt werden. Denjenigen, die wirklich gefährdet sind - Ayaan Hirsi Ali musste nach Amerika emigrieren, weil man in Europa offensichtlich unfähig ist, sie zu schützen -, wird die Schuld aufgebürdet. Dass ein solcher Mechanismus einschnappt, spricht wirklich nicht für das Reflexionsvermögen der Kritiker der Islamkritik.

Gleichzeitig wird z.B. dem Attentäter auf Westergaard sehr viel Verständnis entgegen gebracht...

Thierry Chervel: Ja. Andrian Kreye schreibt z.B.: "Wer provoziert, muss eben auch mit Reaktionen rechnen", als sei es das Gleiche, eine Karikatur zu zeichnen oder zu versuchen, jemanden mit einer Axt umzubringen. Das ist der Mechanismus einer Identifikation mit dem Täter.

Solche Debatten erinnern immer wieder an die Schulhofsituation, in der man sich ausgerechnet mit dem Drangsalierer identifiziert. Wer da nicht ein bisschen Pfadfinderethik gelernt hat und dem Kleinen zur Seite springt, kommt dann zu solchen Schlüssen wie Andrian Kreye.

Warum finden diese Debatten eigentlich im Feuilleton statt - und nicht etwa im Politikteil?

Thierry Chervel: Das hat mit der Geschichte der deutschen Zeitungen zu tun. Schließlich gibt es in Deutschland die Tradition der Feuilletondebatte und zwar nicht erst seit dem Historikerstreit. Es erklärt sich meiner Meinung nach aus der "geschenkten Demokratie" in Deutschland: Nach dem Krieg wurden unbescholtenen Leuten Zeitungslizenzen gegeben, die den Deutschen erzählen sollten, was Demokratie ist, aber diese sollten um Gotteswillen nicht selber zu Wort kommen. Gleichzeitig haben wir in Deutschland eine Zeitungskultur, in der die Meinungsseite - mit Ausnahme vielleicht von der WELT oder der taz - ausschließlich von Redakteuren geschrieben wird. D.h. auf den Meinungsseiten kann die gesellschaftliche Debatte gar nicht stattfinden und deswegen ereignet sie sich im Feuilleton. Das ist ein Spezifikum der deutschen Medienlandschaft, dass bestimmte wichtige gesellschaftliche Debatten in Feuilletons stattfinden.

Ein anderer Punkt ist natürlich, dass die Islamdebatte auch ins Feuilleton gehört, denn man spricht - ob man sich darauf positiv bezieht oder negativ - nicht von ungefähr von einem "Kampf der Kulturen". Die Debatte ist auch ein Kulturthema, weil seit der Rushdie-Debatte der Islamismus eine ganz brachiale Zensurbewegung gegenüber der westlichen Kultur darstellt. Es wird programmatisch versucht, den Raum der freien Meinungsäußerung und der Kunstfreiheit einzuschränken. Der Karikatur-Streit hat gezeigt, wie weit die Selbstzensur im Westen schon geht. Heute sind wir soweit, dass das Metropolitan Museum in New York von sich aus Mohammed-Abbildungen aus der Ausstellung seiner islamischen Sammlung entfernt. Das Feuilleton wäre der Ort für eine Debatte hierüber.

"Realitätsschock"

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum weltweit Linke, die traditionell säkularen Positionen verpflichtet sein sollten, zu einer Verteidigung des Islam neigen, während Menschen aus dem konservativen Spektrum diesen kritisieren?

Thierry Chervel: Ich glaube die Essenz der Kritik am Islam ist nicht konservativ, sondern klassisch liberal. Denn sie beruht auf einen emphatischen Begriff universaler Menschenrechte und der Aufklärung. Es mag ein Herkunftsproblem der Linken sein, dass sie kollektivistisch geprägt war und dem Individuum eigentlich nie einen besonders großen Stellenwert zugemessen hat. Die Befreiung des Individuums wurde von der Linken in eine zweite geschichtliche Phase in der Zukunft verschoben, nachdem sich der Sozialismus eingestellt haben sollte. Das bedeutet, dass dieser bestimmte Kollektivismus, der in der Linken vorhanden ist, somit in das Gegenteil ihrer nur offiziell säkularen Grundposition umschlägt.

Das hat auch mit postkolonialistischen, strukturalistischen und poststrukturalistischen Diskursen zu tun, die seit den 70er und 80er Jahren an den Universitäten stark geworden sind und zu einem ausgeprägten Relativismus geführt haben. Übervater dieser Entwicklung ist Levi-Strauss, der einen völlig losgelösten Blick auf andere Kulturen anstrebte. Hier ist die westliche Kultur nur eine von vielen und die Vorstellung universeller Begriffe eigentlich obsolet.

Bemerkenswerterweise tritt der Relativismus wiederum universalistisch auf...

Thierry Chervel: Das kann man sagen. Letztlich kommen wir hier zu einer anything goes-Ethik, die insofern universalistisch ist, als sie besagt, dass alles gleich ist. Nothing matters. Nichts ist wichtiger als irgendetwas anderes. Das ist bezeichnend für einen universitären 80er-Jahre-Diskurs, als man noch im Schutzraum hinter dem eisernen Vorhang lebte und die Zeit angehalten schien. Inzwischen hat es jedoch z.B. in Form des Mauerfalls, der Fatwa gegen Rushdie und 9/11 einige Realitätsschocks gegeben, die uns an die Daseinsberechtigung unserer Begriffe erinnern sollten.

Andererseits lässt sich argumentieren, dass die Kritiker der Islamkritik mit ihren Positionen kein Zurückweichen vor dem Islamismus signalisieren wollen, sondern dass es ihnen um die nicht-liberalen Folgen der z.B. der broderschen Islamkritk geht, der den Kampf der Kulturen propagiert, um sich auch persönlich daran hochzuziehen. Gleichzeitig wird und wurde die Kritik an der israelischen und Bush-Politik systematisch verschwiegen. Wo sehen sie bei Broder und den anderen Islamkritikern eine ernstgemeinte Verteidigung der Minderheitenrechte, der Demokratie und der kulturellen Vielfalt?

Thierry Chervel: Die Medien sind bereits vor dem Islamismus zurückgewichen. Und wer die Mohammed-Karikaturen nicht abdruckt, sollte sie nicht auch noch, wie Thomas Steinfeld oder sein Kollege Andrian Kreye, plump und albern nennen, sondern sich zumindest eines Urteils über sie enthalten!

Können Sie sich vorstellen, dass die Islamdebatte noch weiter eskaliert?

Thierry Chervel: Inzwischen habe ich das Gefühl, dass die Debatte ein regelrechtes Hickhack geworden ist, wobei man klar sehen muss, dass es - entgegen allem, was die Kritiker der Kritiker sagen - gar nicht so viele Medien gibt, in denen sich die Islamkritiker wirklich äußern können. Letztlich sehe ich im Grunde bei den großen Zeitungen nur die WELT und ab und zu den Tagesspiegel oder die FAZ, wo Islamkritiker ihre Positionen darlegen können. Die Süddeutsche Zeitung z.B., angeblich ein liberales Organ, ist gegenüber diesen Standpunkten total verrammelt. Sie fährt zwar die härtesten Attacken gegen Islamkritiker, gleichzeitig existiert nicht der Hauch einer Chance der Erwiderung. Im Grunde ein zutiefst undemokratisches Verfahren für ein demokratisches Medium. So gesehen kann eine solche Debatte leicht steril werden, da die bekannten Standpunkte nur wiederholt werden.

Hier müsste man vielleicht den Fokus etwas weiter aufziehen und sich z.B. fragen, was aus unserem Begriff der Menschenrechten geworden ist: Hat dieser heutzutage überhaupt noch eine Chance, als Universalbegriff zu wirken?

Political Correctness nützt Rechtspopulisten

Ist es möglich, dass radikale Islamisten durch die Feuilletondebatte zu weiteren Taten angestachelt werden? Schließlich ist es vorstellbar, dass die Reaktion in den westlichen Medien z.B. auf den Mordanschlag gegen Westergaard bei gewaltbereiten Muslimen nicht gerade eine abschreckende Wirkung erzielt hat.

Thierry Chervel: Ich glaube nicht, dass die Islamisten Feuilletons lesen. Aber die Verdrängung gegenüber den Schwierigkeiten, die uns der Islamismus bereitet, wird die Islamisten bestärken und säkulare Kräfte innerhalb der islamischen Bevölkerung schwächen. Man kann das ja beispielhaft bei Personen wie Necla Kelek sehen, die sich aus der islamischen der westlichen Kultur zugewandt hat, wie auf sie eingedroschen wird. Es hat den Anschein, als ob diese Zuwendung gerade nicht gewollt wird. Das Zurückweichen vor islamistischen Positionen wird also den Islamismus stärken, aber ich glaube auch, dass die political correctness, die dadurch geschaffen wird, rechtspopulistischen Kräften Nahrung gibt, die sich die Islamkritik unter ihren Nagel reißen wollen, um damit ihre eigene Agenda zu verfolgen. Das ist natürlich auch gefährlich. Aber es ist eben so, dass gewisse Sachverhalte in der Öffentlichkeit, etwa die Anzahl der Frauen mit Migrationshintergrund in Frauenhäusern, nicht angesprochen werden. Gerade dieser "tolerante" Diskurs ist also gefährlich, weil er Tabuzonen schafft, in denen der Rechtspopulismus blühen kann.

Können Sie eine Einschätzung abgeben, welche Rolle in diesem Disput wirtschaftliche Verflechtungen mit muslimisch regierten Ländern wie z.B. Saudi Arabien und dem Iran spielen könnten?

Thierry Chervel: Ich glaube nicht, dass die Feuilletonredakteure auf solche wirtschaftliche Verbundenheiten direkt reagieren. Ich vermute eher, das hat mit der landeseigenen Mentalität zu tun. Deutschland arbeitet ja traditionell sehr gerne mit solchen Regimes zusammen und ich kann mich noch an diverse saure Minen von deutschen Wirtschaftsleuten erinnern, als der erste Irakkrieg begann, weil sie ausreisen mussten und noch gerne mit Hussein zusammengearbeitet hätten. Das sind meiner Meinung nach Symptome einer gleichen Mentalität, aber, wie gesagt, ich denke nicht, dass man eine direkte Verbindung aus wirtschaftlichen Interessen und der Feuilletondebatte ziehen kann.

Bereits im Kosovokrieg war die Werbeagentur Ruder Finn für propagandistische Volten

zuständig, die aus "Muslimen Juden machten" (Daniel Levy und Natan Sznaider). Ist es möglich, dass im aktuellen Islamismus-Streit ebenfalls Agenturen am Werke sind, die versuchen auf den öffentlichen Diskurs Einfluss zu nehmen?

Thierry Chervel: Hier sind gewissermaßen Agenturen unterwegs, aber man muss bei solchen Dingen aufpassen, dass man nicht in verschwörungstheoretische Muster gerät. Eine der Agenturen, die in dieser Form unterwegs ist und versucht, die öffentliche Wahrnehmung zu prägen, ist meiner Meinung nach z.B. die Organisation der Islamischen Konferenz, die durchaus mit Erfolg probiert, den Begriff der Islamophobie in die Öffentlichkeit zu bringen.

Erst einmal wurde der Begriff bei internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen oder den UN-Menschenrechtsrat installiert und ist inzwischen in das Alltagsbewusstsein vorgedrungen, obwohl der Begriff meiner Ansicht nicht dazu taugt, die Wirklichkeit zu beschreiben.

Man kann sagen, dass der Terminus Islamkritik eine erkenntnistheoretische Kategorie ist, während Islamophobie eine rassistisch konnotierte darstellen soll ...

Thierry Chervel: Der Begriff Islamophobie wird von den Gegnern der Islamkritik deshalb gebraucht, weil man damit einen Diskurs, der im Namen der Aufklärung spricht, zu einem irrationalen, einen nationalistischen und populistischen Diskurs erklären möchte. Es gibt einen Wunsch, eine Art Angstlust, dass die Islamkritik eigentlich so etwas ist wie Rechtspopulismus. Ich könnte mir vorstellen, dass man sich ärgert, dass Broder ein Jude und Kelek eine Muslimin ist, so dass sie eigentlich zu den Feindbildern der extremen oder populistischen Rechten gehören, denen man sie so gern zuordnen würde.

Es könnte auch sein, dass in den Köpfen immer noch sehr stark die Erinnerung an nationalistische Sprüche wie Türken raus! vorhanden ist und man deswegen den Rassismus gleichsetzt mit einer rationalen Kritik zum Islam ...

Thierry Chervel: Es gab und gibt in Deutschland Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Wenn wir uns aber an die fremdenfeindliche Angriffe nach der Wiedervereinigung nicht nur in Ostdeutschland erinnern, richteten sich diese keineswegs gegen den Islam, sondern gegen alles, was anders war: Das waren Vietnamesen in Ost- und Türken in Westdeutschland. Sie richteten sich nicht gegen eine Religion, sondern waren ganz einfach rassistisch. Ich kann mich auch erinnern, wie verspätet die deutsche Öffentlichkeit auf diese Ausschreitungen reagiert hat und dass z.B. Helmut Kohl niemals eine Geste gegenüber den Opfern gezeigt hat. Das ist leider auch eine schlechte deutsche Tradition: Die mangelnde Solidarisierung aufgrund einer dumpfen Angst, man würde dadurch Wähler verlieren.

Wo unterscheidet sich die Islamkritik strategisch und begrifflich vom Antisemitismus oder vom Ausländerhass der Rechten? Welche Garantien können Sie geben, dass mitunter berechtigte Islamkritik den Rechten nützt?

Thierry Chervel: Religionskritik muss sein können: Was hat das Zölibat mit den immer neuen Meldungen über Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche zu tun? Welchen Einfluss haben evangelikale Kirchen auf die Verfolgung Homosexueller in Uganda? Welches Gewaltpotenzial liegt im Islam und nicht nur im Islamismus? Ohne solche Fragen lässt sich Demokratie nicht verteidigen. Antisemitismus ist keine Religionskritik, sondern eine Verschwörungstheorie.

Durch den publizistischen Vorstoß von Wolfgang Benz in der Süddeutschen Zeitung ist eine Gleichsetzung von Islamkritik mit Antisemitismus vorgenommen worden. Was halten Sie von diesem Vergleich? Wer ist eigentlich Wolfgang Benz und sein "Zentrum für Antisemitismusforschung"?

Thierry Chervel: Über Wolfgang Benz persönlich kann ich nicht viel berichten. So weit ich weiß, ist er ein renommierter Antisemitismusforscher. Ich glaube, bei der Parallelisierung von Islamkritik und Antisemitismus geht ein westlicher Diskurs bestimmten Strategien postkolonialer Organisationen wie z.B. der Islamischen Konferenz auf den Leim. Diese Organisation versucht seit Jahren bei den Vereinten Nationen einen neuen Begriff von Menschenrechten einzuführen und z.B. die Diskriminierung von Religion in die Erklärungen der UN festschreiben zu lassen. Es wird also schon längst am Begriff des Menschenrechts gemodelt, was aber unsere Feuilletons überhaupt noch nicht wahrgenommen haben.

Ich denke, dass der Begriff der Islamophobie bewusst eingeführt wurde, um einen Parallelbegriff zum Antisemitismus zu schaffen und ein moralisches Pfand in der Hand zu halten, um gewissermaßen den schuldbereiten Westen erpressen zu können. Das Dumme an Demokratie ist, dass sie institutionalisierter Selbstzweifel ist: Wenn die Frage der Schuld gestellt wird, wird diese - und das ist auch das Gute an ihr - ernstlich erwogen. Aber dies bietet auch eine schwache Flanke und ich glaube, dass die Gegner der Demokratie, nach meiner Ansicht einige islamische Staaten im Verbund mit anderen interessierten Mächten wie China, Russland und Venezuela, diese schwache Flanke nutzen wollen.