Evolution als Passwort?

Struktur, Zeit und Evolution

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Die Übertragung von Überlegungen der Evolutionstheorie auf andere, zum Teil nicht-biologische Theorien ist überaus populär. Sie reicht von sehr konkreten Fragestellungen der Biochemie bis hin zu abstrakten (wie etwa der Evolution der Virtualität). In mehreren Vortragsreihen widmen sich akademische und nicht-akademische Gruppierungen seit dem letzten Jahr den Fragen, wo diese Homologien sinnvoll erscheinen und wie nützlich die Ergebnissen der Übertragung sein können.

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Bilder: Stefan Höltgen

Um der Frage, ob sich die Prinzipien der Evolutionstheorie (z. B. ungezielter Fortschritt, verursacht durch Mutation und Selektion) auf andere Theorien übertragen lassen, adäquat begegnen zu können, wäre es zunächst notwendig, die Methodologien dieser anderen Theorien zu kennen: Findet Fortschritt in diesen durch zufällige Ereignisse oder „trial and error“ statt? Oder baut eine Erkenntnis auf einer anderen auf? Mit anderen Worten: Besteht eine grundsätzliche oder nur eine partielle Strukturähnlichkeit zwischen der eigenen Theorie und der Evolutionstheorie, wenn es Wissensprogression geht? Dieser Frage widmeten sich am 2. Februar fünf Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Disziplinen im Rahmen eines Forums der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter dem Motto Zur Evolution von Strukturen . Im Hintergrund stand dabei das Phänomen der Strategie-Entwicklung in jeder der behandelten Disziplinen.

Evolution von Strukturen

Die Überschrift wäre dabei vielleicht besser als „Evolution und Strukturen“ gewählt worden, denn es können ja nicht die Strukturen selbst sein, die evolvieren, sondern sie können allenfalls eine Ähnlichkeit zur Struktur von Darwins Theorie aufweisen. Dass diese Strukturähnlichkeit durchaus nicht in allen hier diskutierten Disziplinen vorzuliegen scheint, sie bei einigen quasi natürlich auftritt, bei anderen lediglich oktroyiert wirkt, ist im Laufe des Forums bald klar geworden. So verwundert es wenig, dass die Arbeiten des Molekularbiologe Volker Erdmanns im Prinzip im Kleinen abbilden, was die Evolution im Großen auszeichnet: Durch zufälligen Austausch einzelner Basenpaare auf den Abschnitten eines RNA-Stranges werden neue Eiweißmoleküle synthetisiert, deren Eigenschaften danach ermittelt werden. Das steht dem Prinzip der natürlichen Mutation schon deshalb sehr nahe, weil vor Beginn des jeweiligen Versuchs noch nicht bekannt ist, was dabei herauskommt.

Volker Erdmanns

Der Systemanalytiker Hans-Paul Schwefel hat – in einem 15-minütigen Parforceritt durch seine Forschungsarbeiten (mehr als 30 PowerPoint-Folien mit viel kleiner Schrift, komplizierten mathematischen Formeln und esoterischem Fachvokabular – viel mehr kann man bei einem öffentlichen Vortrag gar nicht falsch machen) verdeutlichen wollen, dass seine Arbeit ganz ähnlich verlaufe: Bei der Entwicklung einer Düse etwa hatte er sich von „evolutionären Algorithmen“ leiten lassen. Die vollkommene Form der Düse habe sich so erst am Ende ergeben hat und war nicht vorhersehbar bzw. -berechenbar: „Wir haben die Variablen im Computer evolviert“, sagt er. Er habe dabei nicht mit jeder Testreihe neu begonnen, sondern auf den Ergebnissen der vorherigen aufgebaut. Das sei überhaupt erst mit Hilfe des Computers möglich gewesen – zuvor waren solche komplexen Vorgänge nicht berechenbar. Die Vorgehensweise sei strukturanalog zur Evolution.

Hans-Paul Schwefel

„Intensives Nachdenken“

Der Mathematiker Martin Grötschel sieht das anders: Am Beispiel abstrakter Phänomene der Mathematik (etwa der Erfindung der komplexen Zahlen oder der verschieden gewichteten Unendlichkeiten zwischen der Menge der natürlichen und rationalen im Vergleich zu der der irrationalen Zahlen) stellt er infrage, ob sich Erkenntnisfortschritt hier evolutionär vollzogen haben kann, bloß weil zu Beginn der Forschung das Ergebnis noch nicht absehbar gewesen sei. Gerade bei mathematischen Genieleistungen, wie etwa denen von Georg Cantor, Kurt Gödel oder Paul Cohen, sieht er eher „intensives Nachdenken“ am Werk, anstatt externer Faktoren, wie sie die Evolutionstheorie in die Systeme bringt. Zwischen Grötschels und Schwefels Positionen zeigt sich also ein Widerstreit, der nicht allein disziplinär begründet ist. Verläuft aber mathematischer Erkenntnisgewinn nur deshalb schon nicht evolutionär, weil er das Ergebnis intellektueller Arbeit anstelle von ungezielter Heuristik ist?

Martin Grötschel

Der letzte Vortrag, des Forums wurde von dem „Bauchgefühl“-Psychologen Gerd Gigerenzer bestritten, der nicht-kausale Entscheidungsstrategien, die auf verschiedenen Heuristiken beruhen, untersucht: Etwa Handlungswidersprüche, wie das Phänomen, dass gerade aufgrund der Angst vor dem Tod durch einen Terroranschlag auf Flugzeuge nach dem 11. September 2001 in den USA die Zahl der Verkehrstoten auf den Straßen auffällig gestiegen ist. Eine Erklärung hierfür sieht Gigerenzer darin, dass für Menschen Situationen, in denen viele gleichzeitig sterben, bedrohlicher wirken als solche, in denen sich das Sterben vieler auf einen langen Zeitraum ausdehnt. Dieselben Mechanismen findet er bei der befürchteten Schweinegrippe-Pandemie, die im Vergleich zur „normalen“ saisonalen Grippe wesentlich weniger Todesfälle verursacht hat.

Gerd Gigerenzer

Der Mensch verlasse sich Gigerenzer zufolge sehr häufig auf heuristische Strategien, die ihm nicht bewusst sind (in der Philosophie hat der ungarische Mathematiker und Philosoph Michael Polanyi dies in seiner Theorie des Impliziten Wissens beschrieben) – beispielsweise, wenn er einen auf ihn zufliegenden Ball fange: Er löst dann ja nicht erst Differenzialgleichungen im Kopf, die ihm die Flugbahn vorhersagen, sondern verlässt sich auf ein unbewusstes „knowing how“, von dem man nun weiß, dass es darin besteht, dass er beim Fangen darauf achtet den Blickwinkel zum zu fangenden Objekt nicht zu ändern. Dann nämlich kann er alle übrigen Variablen „vernachlässigen“.

Die Zeit als Schlüsselvariable der Evolution?

Auch Gigerenzer sieht nicht überall evolutionäre Strukturen wirken, sondern bringt einen Verdacht auf den Punkt, der über der gesamten Veranstaltung schwebt: „Evolution ist ein Passwort“, sagt er. Und dieses Passwort, könnte man meinen, wird vor allem dazu genutzt, um sich mit einer Disziplin an einen Diskurs anzuschließen. Denn an allen vier Zugängen zeigt sich bereits, dass zwar jeder eine andere (bzw. keine) Form von Evolution am Wirken sieht, aber dennoch am selben Diskurs teilhat; dass also die Übertragung von Strukturen nie vollständig sein kann und, je weiter man sich von dezidiert biologischen Theorien entfernt, erst immer stärker konstruiert werden muss (was sehr deutlich in den Ausführungen Schwefels abzulesen gewesen ist).

Gerd Gigerenzer

Gerade der Widerspruch Grötschels aber macht auch deutlich, dass diese Konstruktionsleistung auf gewisse Weise antiintellektualistische Züge trägt, weil sie die individuellen Leistungen sozusagen aus der Theorieentwicklung heraus kürzt oder bestenfalls zur bloßen Heuristik reduziert. Wollte man nicht einem natürlichen Determinismus anheim fallen, nach dem sich intellektueller Fortschritt „sowieso“ einstellt, wenn nur die Umweltbedingungen stimmen und genügend Zeit zur Verfügung steht, müsste man sich also fragen, welchen Gewinn die Übertragung von Strukturen der Evolutionstheorie für den Erkenntnisgewinn überhaupt mit sich bringt. Abzüglich aller Faktoren, die bloße Metaphern bleiben (wenn etwa Schwefel in seinen Darstellungen von „Eltern“ und „Kindern“ spricht, damit die aufeinander bezogene Nachfolge in Prozessen meint, sich aber jemand im Publikum deswegen später zu einer Wortmeldung zum Generationenkonflikt veranlasst sieht) oder nur auf Kosten der Komplexität von der Evolutions- auf die eigene Theorie übertragbar sind, scheint es so, als bliebe nur ein gemeinsames Strukturmerkmal unterm Strich übrig: die Zeit.

„In unseren Genen ist Vergangenheit gegenwärtig“

Mit der Zeit als „Schlüsselvariable“ der Evolution hat sich dann konsequenterweise auch eine weitere Veranstaltung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften beschäftigt. Auf dieser haben am 4. Februar die britische Soziologin Barbara Adam und der Kosmologe Günther Hasinger ihre je unterschiedlichen Zeitbegriffe auf diese Frage hin vorgestellt. Bei aller Verschiedenheit der von beiden besprochenen Phänomene (soziale Sphäre vs. Universum; kurze, gesellschaftliche vs. kosmologische Zeiträume) war beiden jedoch eine Erkenntnis gemeinsam: Es gibt nicht „die“ Zeit.

Günther Hasinger

Die Soziologin Adam konstatiert „plurale Zeiten“ in Gesellschaften. Die subjektive, endogene Zeit des Menschen sei nicht dieselbe wie die mechanische Uhrenzeit. Wo die Uhrenzeit Adam zufolge einen unabänderlichen, standardisierten, kalkulierbaren und austauschbaren „Takt“ vorgibt, verlaufen natürliche Prozesse nach einem „Rhythmus“, bei dem sich das Gleiche eben nicht wiederholt, sondern stets variiert: „Im Rhythmus tritt das Schöpferische in den Vordergrund, das Bewirkende und Synthetische der Evolution“. Die Unterscheidung von Takt und Rhythmus scheint zwar zunächst ein scheinbar abstrakt-metaphysischer Ansatz, zeigt sich in natürlichen Systemen aber dennoch deutlich: etwa, wenn man als Landwirt die Differenz bei der Tierhaltung in ihrer praktischen Relevanz (von der Tagesplanung bis hin zur Lebensspanne) berücksichtigen muss.

Barbara Adam

Der Ansatz von Adam ist von vornherein interdisziplinär angelegt, weil der das Nebeneinander verschiedener Zeitbegriffe fordert, die nicht kompatibel gemacht werden müssen – ja, nicht kompatibel gemacht werden können. Neben der gelebten Zeit sieht Adam auch Repräsentationen von Zeit in statu: In unseren Genen ist Zeit als Entwicklungsstand gespiegelt. Was wir sind, sind wir durch das Fortschreiten in der Evolution. Die Evolutionszeit ist nach Adam daher unumkehrbar: „Evolution ist in der Asymmetrie von Interaktion verankert, und durch Irreversibilität von Dingen und Prozessen gekennzeichnet.“

„Is it just philosophy?“

Dem kann sich der Astrophysiker problemlos anschließen, denn auch seine Disziplin berücksichtigt dies in den Sätzen der Thermodynamik und arbeitet seit Einsteins Relativitätstheorie überdies ebenfalls mit unterschiedlichen Zeiten, die jeweils von der Reisegeschwindigkeit des Beobachters abhängen. Anhand kosmologischer „Entdeckungsreisen“, bei denen ein Blick in die Ferne immer auch ein Blick in die Vergangenheit ist, verdeutlicht er sein Zeit-Verständnis. Mit wesentlich mehr Vorsicht als sein Kollege Harald Lesch stellt er die Erkenntnisse der Kosmologie auch in Hinblick auf ihren Zeitbegriff vor. Zuletzt scheint ihm die Möglichkeit, dass wir Raumzeit erkennen, vielleicht sogar schon ein evolutionärer Effekt zu sein. Allerdings bleibt er sich der oben geschilderten Konstruktionsleistung, die dabei vonnöten ist, durchaus bewusst: „Homologien werden von uns nach unserem Vorbild konstruiert.“

Dass die Effekte sowohl der von Adam als auch von Hasinger vorgestellten Zeitbegriffe, die von der „Uhrenzeit“ bzw. der Alltagszeit, an der die Effekte der Relativitätstheorie vernachlässigbar sind, abweichen, dennoch nicht bloß philosophische und metaphysische Gedankenspiele sind, zeigt sich an vielfältigen Phänomenen. Von der Differenz zwischen dem Zeitempfinden verschiedener Altersstufen (warum kriecht die Zeit für ein Kind, während sie für den Erwachsenen zu verfliegen scheint?) bis hin zur durchaus entscheidenden Berücksichtigung von relativistischen Effekten in der Technik (etwa bei der Satelliten-Kommunikation oder GPS-gesteuerten Navigationssystemen) besitzen sie praktische Relevanz. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion schien die Frage nach ihrem Charakter als „Schlüsselvarivable der Evolution“ jedoch völlig in den Hintergrund geraten zu sein – vielleicht ein Indiz dafür, dass sie es einfach nicht ist, oder eben nur als abstraktes Prinzip, auf dessen Basis komplexere Vergleiche zwischen den Disziplinen nicht möglich sind.

Understanding Complex Systems

Einige – nicht alle – Thesen und Überlegungen zur Frage von evolutionären Strukturen in verschiedenen Disziplinen sind in einem im Sommer 2009 erschienen Sammelband veröffentlicht worden. Die Ansätze von Erdmann, Gigerenzer, Grötschel und Schwefel sind darin noch einmal detailliert nachzulesen. Der im Springer-Verlag erschienene Band „Emergence, Analysis and Evolution of Structure“ bietet darüber hinaus die Möglichkeit, den Gedankengang auch durch andere Disziplinen mit jeweils aktuellen Forschungsergebnissen nachzuvollziehen: 29 Autoren aus Geistes-, Human-, Technik- und Naturwissenschaften haben darin zur Frage nach der Homologie zwischen Evolutionstheorie und ihrer eigenen Disziplin geschrieben.

Der mit mehr als 100 Euro recht teure Band richtet sich aber eher an die Teilnehmer der Fachdiskurse, wird in ihm doch schon sehr stark auf Fachwissen eingegangen. Die Veranstaltungsreihe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hat versucht, diese Fachdiskurse für die breitere Öffentlichkeit zugänglich zu machen, was ihr aufgrund der starken Unterschiede in den Vortragsqualitäten und nachfolgenden Debatten zwar nicht immer gelungen ist, aber zumindest einen Einblick in die Vielfalt und auch die Problematik bei der Homologisierung von Evolutionstheorie und anderen Wissenschaften eröffnet hat.

Klaus Lucas/Peter Roosen (Hgg.)
Emergence, Analysis and Evolution of Structures
Concepts and Strategies Across Disciplines
Heidelberg u.a.: Springer 2009
310 Seiten (gebunden), 109,00 Euro