Der Glaube sitzt im Hinterkopf

Genügt es, das menschliche Hirn zu durchstochern, um den Sitz des Glaubens zu finden?

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Dass mancher Mitmensch spirituellen Erlebnissen aufgeschlossener ist als andere, ist eine täglich erlebte Praxis. Dabei geht es nicht um eine bestimmte Art des Glaubens - ob sich jemand jeden Sonntag im katholischen Gottesdienst beim Gebet Kraft holt, Stammpatient beim Homöopathen ist oder sich den Alltagsstress aus der Seele meditiert.In all diesen Fällen wird der Psychologe eine hohe Ausprägung einer bestimmten Persönlichkeitsdimension attestieren.

Wenn er etwa das psychobiologische Charakter- und Temperaments-Modell von Robert Cloninger benutzt, bescheinigt er eine ausgeprägte Selbst-Transzendenz als ein Maß dafür, inwieweit man das eigene Ich als Teil eines übergeordneten Universums zu betrachten in der Lage ist. Zwillingsstudien haben bereits gezeigt, dass diese Selbst-Transzendenz in gewissem Maße erblich ist. Zudem scheint Selbst-Transzendenz mit dem Serotonin-System verknüpft, das unter anderem für die Stimmungslage im Gehirn zuständig ist: Ein hoher Serotoninspiegel dort führt zu Unruhe und Halluzinationen.

Doch welche biologischen Grundlagen hat dieser Faktor im Gehirn des Menschen? Die Suche danach, der Eindruck drängt sich auf, ähnelt dem Versuch, im Fernseher die kleinen Männchen aufzuspüren, die dort die Nachrichten ansagen, sich lieben oder umbringen. Nur ist es leichter, einen Fernseher in seine Einzelteile zu zerlegen, als die Denkstrukturen eines Menschen einzeln unter das Mikroskop zu halten. Allerdings, haben sich womöglich vier italienische Neurologen gedacht, gibt es ja Fälle, wo man aus anderem, gutem Grund im Gehirn herumstochern musste. Patienten, die an Gehirntumoren litten, müssen auf Teile ihrer grauen Masse verzichten, und zwar in sehr individueller Gliederung. Die Forscher (das schildern sie nun in der Fachzeitschrift Neuron) haben insgesamt 88 Patienten mit einem Gliom oder Meningeom vor und nah ihrer Operation auf den Grad der Selbst-Transparenz getestet und die Ergebnisse mit den vom Tumor und bei der Therapie zerstörten Hirnarealen korreliert.

Dabei ergab sich, dass Patienten mit einer OP an den hinteren Bereichen des Großhirns eine signifikante Erhöhung der Selbst-Transzendenz berichteten, während bei Operationen an frontalen Bereichen die Selbst-Transzendenz sank (aber nicht signifikant). Dabei spielte es keine Rolle, aus welcher der Gehirnhälften Material entfernt worden war. Der Effekt war andauernd und auch 48 Monate nach der Behandlung noch nachzuweisen. Um Auswirkungen der Operation an sich auszuschließen (man denke etwa an Wirkungen der Anästhesie), verglichen die Forscher mit einer unter einem Meningeom leidenden Kontrollgruppe. Dieser meist gutartige Tumor ist weniger raumfordernd und meist bei der Therapie nicht mit der Entfernung von Nervengewebe verknüpft. Hier ergaben sich keine Änderungen der Selbst-Transzendenz. Bei keinem der Patienten kam es im übrigen zu sonstigen Veränderungen der Persönlichkeitsdimensionen.

Die Vergleiche der Forscher deuten darauf hin, dass Glaube und Religion eine physische Entsprechung im Gehirn haben. Und woher kommt das Phänomen? Das diskutieren Ilkka Pyysiainen und Marc Hauser parallel im Fachmagazin Trends in Cognitive Sciences. Die Forscher werten dazu vor allem bereits erschienene Arbeiten aus, deren Gemeinsamkeit offenbar in der Verknüpfung von Moral und Religion besteht. Zwar ist Moral evolutionär wohl älter und nicht zwangsläufig mit Religiosität verknüpft. Religion hat sich demnach als ein Bereich der kognitiven Fähigkeiten herausgebildet. Doch im Lauf der Zeit hat der Glaube offenbar Funktionen übernommen, die die Kooperation zwischen verschiedenen Gruppen ermöglichen und stabilisieren.