Hartz IV und der hausgemachte Niedriglohnsektor

Die Diskussion rund um das Lohnabstandsgebot wird unredlich geführt - um die Einkommensschere zwischen Hartz IV und Arbeit zu vergrößern, müssen nicht Transferleistungen gesenkt, sondern die Löhne erhöht werden

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Ein Wort ist seit dem Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts in aller Munde, obwohl es in der Urteilsverkündung überhaupt nicht vorkommt – das Lohnabstandsgebot (Vom Verschwinden des Lohnabstands). Wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet. So weit, so gut – nur wie kann man die Schere zwischen den Regelleistungen und dem unteren Lohnniveau im Arbeitsmarkt vergrößern?

Sicher, man könnte die Hartz-IV-Leistungen nach dem Gießkannenprinzip um einen bestimmten Satz kürzen, wie es unlängst der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz vorgeschlagen hat. Nur würde dies zu einem zu einem Konflikt mit dem soziokulturellen Minimum führen, das bei der Bemessung der Regelleistungssätze nicht unterschritten werden darf. Außerdem würde dies lediglich eine weitere Absenkung des Lohnniveaus im Niedriglohnsektor auslösen. Aber vielleicht ist es genau das, was Franz und Teile der Politik eigentlich wollen.

Das Lohnabstandsgebot im Fokus

Das Lohnabstandsgebot ist ein zentrales Argument in der Diskussion über die Bestimmung der Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger. Aus volkswirtschaftlicher Sicht wird diese Diskussion jedoch höchst unsauber geführt. Es ist richtig, dass nach klassischer Lehre ein Abstand zwischen Transferleistungen und dem Einkommensniveau im Niedriglohnsektor bestehen sollte. Für einen Aufschlag auf die Transferleistungen in Höhe von 50 Euro pro Monat wird sich nun einmal kein Arbeitsloser jeden Morgen aus dem Bett quälen, um einem unattraktiven 8-Stunden-Job nachzugehen. Doch bereits hier steckt die "reine Lehre" in einer empirischen Sackgasse – wenn die klassischen Modelle evident wären, gäbe es nämlich gar keinen Niedriglohnsektor, in dem Löhne gezahlt werden, die nur marginal über den Transferleistungen des Sozialsystems liegen.

Bei einem funktionierenden Arbeitsmarkt würde ein Arbeitsloser solche Angebote schlichtweg ablehnen und ein Beschäftigter im Niedriglohnsektor seinen Job kündigen. Das Angebot an Arbeitsplätzen in diesem Lohnbereich würde die Nachfrage weit übersteigen und es gäbe eine hohe Zahl von offenen Stellen. Angebot und Nachfrage müssten sich – der klassischen Lehre folgend – dann auf ein Gleichgewicht einpendeln, bei dem der Lohn signifikant über dem Niveau der Hartz-IV-Bezüge liegt. Das vielzitierte Lohnabstandsgebot wäre demzufolge ein Automatismus, bei dem sich die Löhne im Niedriglohnsektor automatisch an die Höhe der Transferleistungen anpassen. In der realen Welt ist all dies allerdings nicht der Fall.

Theorie und Praxis

Im Gegenteil: Die Löhne im Niedriglohnsektor sinken genauso stetig wie der Lohnabstand, während die Anzahl der Geringqualifizierten, die im Niedriglohnsektor tätig sind, stetig steigt. Versagt hier die klassische Lehre oder haben wir es mit einem Sonderfall zu tun, auf den die klassische Lehre gar nicht anwendbar ist? Letzteres ist der Fall, da die Sanktionierungspraxis der Hartz-IV-Gesetzgebung dafür sorgt, dass der Leistungsempfänger weder rational agieren kann noch ein freier Marktteilnehmer ist.

Wer ein Arbeitsangebot aufgrund der zu niedrigen Bezahlung ablehnt, muss mit einer Streichung seiner Transferbezüge rechnen. Er wird also ökonomisch gezwungen, ein Angebot anzunehmen, das er bei einer rationalen Abwägung vielleicht nie annehmen würde. Durch diesen Zwang wird die Marktlogik jedoch auf den Kopf gestellt. Die Hartz-IV-Bezieher haben als Anbieter von Arbeitskraft offensichtlich gar nicht die Marktmacht, zu niedrige Löhne abzulehnen und damit zu einer Steigerung des Lohnniveaus im Niedriglohnsektor beizutragen. Auf der anderen Seite hat die Nachfrageseite die Marktmacht, Löhne zu realisieren, die weit unterhalb des rational zu verwirklichenden Niveaus liegen. Warum sollte ein Dienstleistungsunternehmen beispielsweise Putzfrauen oder Fensterreinigern mehr Geld bezahlen, als der Arbeitsmarkt hergibt? Wer solche Angebote ablehnt, wird schließlich sanktioniert und die Ämter sorgen schon für willfährigen Nachschub aus dem großen Heer der Arbeitslosen.

Eine Abwärtsspirale

Nur der Gesetzgeber oder die Gewerkschaften könnten diese Entwicklung stoppen, indem sie verbindliche Tarifabschlüsse oberhalb des Abstandsgebots durchsetzen. Der Gesetzgeber hat jedoch kein Interesse daran und die Gewerkschaften verstehen sich immer mehr als Anwälte der immer noch recht ordentlich bezahlten Facharbeiterschaft und lassen den Niedriglohnsektor weitestgehend links liegen.

Die Sanktionierungspraxis der Hartz-Gesetze führt daher automatisch zu einem Unterbietungswettlauf im Niedriglohnsektor. Schon heute beziehen die meisten Beschäftigten im Niedriglohnsektor sogenannte Aufstocker aus dem Hartz-IV-Topf, was letztlich nichts anderes heißt, als dass die Einkommen bereits heute unter Hartz-IV-Niveau liegen. Von einem Abstandsgebot kann daher in der Summe gar keine Rede mehr sein.

Problemfall Familie

Der Abstand zwischen den Hartz-IV-Leistungen und dem erzielbaren Einkommen im Niedriglohnsektor hängt jedoch stark von der Größe des Haushalts ab. Der Nettolohn eines Fensterreinigers in der untersten Tarifstufe liegt um rund 50% über den durchschnittlichen Transferleistungen für einen alleinstehenden Hartz-IV-Bezieher. Selbst nach neoliberaler Diktion liegt hier ein Lohnabstand vor, der als Arbeitsanreiz ausreichend ist. Ganz anders sieht dies indes bei einer Familie mit drei Kindern aus. Der Nettolohn des Fensterreinigers liegt selbst inklusive des Kindergelds noch rund 15% unter dem Hartz-IV-Regelsatz für eine Bedarfsgemeinschaft mit drei Kindern. Erst durch die staatliche Aufstockung hat der Fensterreiniger am Ende des Monats rund 10% mehr Geld in der Tasche. Die Transferleistungen entsprechen jedoch dem soziokulturellen Existenzminimum, das auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts als unverzichtbar dargestellt wurde.

Wenn die Politik hier einen Lohnabstand herstellen will, der im Markt nicht erzielt werden kann, muss sie also an anderer Stelle ansetzen. Wenn sie beispielsweise das Kindergeld nicht in die Berechnung des Haushaltseinkommens mit einbeziehen würde, auf dessen Basis die Aufstockungen gezahlt werden, könnte der Lohnabstand auf ein Niveau erhöht werden, das ausreichende Anreizstrukturen beinhaltet. Für große Familien wäre eine Einführung des Mindestlohns allein nicht ausreichend. Auch eine Beschäftigung mit einem Stundenlohn von acht Euro würde nämlich nicht ausreichen, um als Alleinverdiener eine größere Familie zu ernähren.

Auf dem Weg in ein Dilemma

Wenn der Staat weder die Sanktionierungspraxis noch die Höhe der Hartz-IV-Regelleistungssätze maßgeblich ändern will, so bewegt er sich in ein volkswirtschaftliches Dilemma. Die Löhne im Niedriglohnsektor sinken, die Zahl der Aufstocker steigt, was zu einer Verringerung der Steuereinnahmen und Sozialabgaben und einer Erhöhung des Transfervolumens führt.

Noch dramatischer als die rein fiskalische Betrachtung ist jedoch die Auswirkung einer solchen Abwärtsspirale auf die Binnenkonjunktur. Je weniger Geld das untere Einkommensviertel zur Verfügung hat, desto weniger konsumiert es. Je weniger konsumiert wird, desto höher ist in bestimmten Wirtschaftsbereichen der Druck auf die Lohnempfänger und desto niedriger fallen die Umsätze aus. Dies hat zur Folge, dass die Löhne noch weiter sinken, die Arbeitsplätze weiter abgebaut werden und die Umsätze - und damit auch die Steuereinnahmen – noch weiter zurückgehen, was wiederum zu einer neuen Runde in der Abwärtsspirale führt.

Deutschland hat den Kurs in diese Abwärtsspirale maßgeblich dem Einfluss der Lobbyisten aus dem Groß- und Außenhandel und der Exportbranche zu verdanken. Wer exportieren will, muss möglichst billig produzieren. Aber interessanterweise ist der Niedriglohnsektor beileibe kein Problem der produzierenden und exportierenden Wirtschaft. Hier werden in toto Löhne gezahlt, die weit über den angedachten Mindestlöhnen stehen. Niedriglöhne findet man indes in Bereichen, die keinesfalls im internationalen Wettbewerb stehen. Man findet sie im Handwerk, bei den Dienstleistungen und vor allem im Einzelhandel.

Von Konkurrenzdruck kann vor allem im Einzelhandel aber gar keine Rede sein, schließlich sind vor allem die Konzerne, die die niedrigsten Löhne zahlen, so profitabel, dass ihre Besitzer regelmäßig die Top-Platzierungen in der Milliardärsliste des Forbes Magazine belegen. Jeder Euro, den die Aldi-Kassiererin mehr in ihrer Tasche hat, hat jedoch nationalökonomisch eine ungleich höhere Wirkkraft als der Euro, den die Gebrüder Aldi auf ihre milliardenschweren Konten überwiesen bekommen.

Mindestlohn - Königsweg aus dem Dilemma

Aus der beschriebenen Abwärtsspirale gibt es nur einen denkbaren Ausweg – die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns. Um das notwendige Lohnabstandsgebot zu verwirklichen und gleichzeitig die Transferleistungen auf einem Niveau zu belassen, das eine gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe ermöglicht, müssten demnach die Löhne im unteren Einkommensbereich deutlich über dem Transferleistungsniveau liegen. Der derzeit gültige Hartz-IV-Regelleistungssatz entspricht bei einem Einpersonenhaushalt einem virtuellen Stundenlohn von 4,60 Euro. Bei einer Familie mit einem Kind, in der nur ein Elternteil arbeitet, läge der virtuelle Stundenlohn bei rund 6,00 Euro. Einen Mindestlohn zu definieren, der um X Prozent über Hartz IV liegt, ist also nicht möglich, da Hartz-IV-Leistungen immer von der Größe des Haushalts abhängen und es auf dem Arbeitsmarkt nicht möglich ist, den Vater einer dreiköpfigen Familie wesentlich besser zu entlohnen als einen Alleinstehenden. Der Staat kann hier lediglich beim Kindergeld und beim Ehegattensplitting – das in diesem Einkommensbereich jedoch kaum eine Rolle spielt – ein wenig steuernd eingreifen.

Aber selbst der von den Gewerkschaften ins Spiel gebrachte anfängliche Mindestlohn von 7,50 Euro, der sich sukzessive auf 9,00 Euro steigern soll, würde dem Lohnabstandgebot bereits auf dem untersten Niveau vollends gerecht. Damit wäre die Abwärtsspirale des Niedriglohnsektors erst einmal gestoppt und es gäbe einen halbwegs funktionierenden Arbeitsmarkt im unteren Einkommensbereich, da die Arbeitgeber ihre Marktmacht nicht mehr missbrauchen können. Selbst über die Erhöhung der Regelleistungssätze für Transfereinkommensbezieher ließe sich dann wieder reden, ohne dass Politik und Wirtschaftsverbände den Untergang des Abendlandes in Form eines sinkenden Lohnabstands an die Wand malen müssten.

Mit voller Fahrt in Richtung Abgrund

Ein Ausweg aus dem Dilemma ist politisch allerdings nicht gewollt. Für Union und FDP ist der Mindestlohn sozialromantisches Teufelswerk und auch die SPD erinnert sich nur dann an den Mindestlohn, wenn sie gerade nicht in der Lage ist, ihn auch tatsächlich durchzusetzen. Stattdessen instrumentalisiert man in Berlin lieber das Lohnabstandsgebot, um bei der nun fälligen Reform der Hartz-Gesetze die Höhe der Transferleistungen zu begrenzen. Dies wird jedoch zwangsläufig zu einer Abwärtskorrektur der Löhne im Niedriglohnsektor führen, so dass das Lohnabstandsgebot dann wieder außer Kraft gesetzt wird.

Der Zug Deutschland befindet sich auf einem toten Gleis und fährt auf den Abgrund zu. Anstatt den Zug zu bremsen, legt die Politik jedoch wie im Wahn Kohle nach, als gäbe es kein Morgen.