Deutschlands vergessene Kinder

Was Familienministerin Kristina Schröder beschäftigt - und was nicht

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Allzu überraschend wurde Kristina Schröder (ehemals Köhler) zur neuen Familienministerin ernannt. Sie wolle sich zunächst einmal in ihr Ressort einarbeiten, hieß es. Doch bis heute ist wenig zu hören und zu lesen von der Frau, die vornehmlich dank ihrer Zugehörigkeit zum Bundesland Hessen ins Amt kam.

Weiblich, hessisch, CDU-angehörig gesucht ...

Wie die derzeitige Familienministerin zu ihrem Posten kam, zeigt besonders deutlich, welche Rolle parteipolitische Pokerspiele bei der Vergabe von Posten spielen. Als der vom Verteidigungsministerium ins Arbeitsministerium gewechselte Jung von seinem Posten zurücktrat, durfte Ursula von der Leyen das Ressort übernehmen. Zwar wäre ihr das Gesundheitsministerium lieber gewesen, aber dieses war für Herrn Rösler reserviert worden. Um es sich mit dem mächtigen hessischen Landesverband des Herrn Koch nicht zu verderben, suchte Kanzlerin Merkel also nach einer Dame, die neben der CDU-Zugehörigkeit auch noch die richtige Bundeslandabstammung vorweisen konnte. Und mit Kristina Schröder, die nach eigener Aussage Roland Koch für "einen der klügsten und modernsten Köpfe der CDU" hält1 hatte sie die passende Kandidatin gefunden. Zwar galt deren Interesse bisher eher der Innenpolitik (inklusive Integrationsfragen, dem Thema Linksextremismus und der Verhinderung von Volksabstimmungen), aber auch Herr Jung hatte sich vorher im Bereich Arbeitspolitik nicht gerade hervorgetan. Warum also nicht auch hier den Neuanfang wagen?

ALG II, Alleinerziehende ... same prodecure ...

Was die Familienministerin vorhat, lässt sich in einfachen Worten zusammenfassen: Alle bisherigen familienpolitischen Leistungen sollten auf den Prüfstand gestellt werden. Gerade auch in Bezug auf die Leistungen für ALG-II-Empfänger folgt Kristina Schröder hier der Rhetorik von CDU und FDP, wenn sie davon spricht, dass das ALG II auch die Schwachen vor den Faulen schützen soll und es an Anreizen für die Aufnahme einer Vollzeitstelle fehle. Ähnlich wie ihre Vorgängerin setzt sich auch Kristina Schröder stark für Alleinerziehende ein. Und ähnlich wie ihre Vorgängerin findet auch sie kaum Antworten auf die Fragen, die beim Thema Familienpolitik noch offen sind.

Zum einen sind die diversen Ansätze für eine längere Bezugszeit beim Unterhaltsvorschuss sowie dem Elterngeld hehre Ziele, doch auch hier stellt sich die Frage, wie dies finanziert werden soll. Dazu kommen jedoch weitaus größere Probleme, die bisher bei der Familienpolitik aber eher ausgeklammert werden wurden.

Kinderarmut

So hat das Institut für Wirtschaft (DIW) erst jüngst eine Studie veröffentlicht, die die finanzielle Situation von (u.a.) Alleinerziehenden wie auch Kindern und Jugendlichen beleuchtet. Die Ergebnisse sind allerdings wenig überraschend. Immerhin leben mittlerweile 16% aller Jugendlichen unter 15 Jahren von ALG-II-Leistungen, das sind 1.7 Millionen Kinder. Über den Regelsatz für Kinder hat erst kürzlich das Bundesverfassungsgericht dahin gehend entschieden, dass er auf eine nicht nachvollziehbare Weise errechnet wurde. Wichtiger wären allerdings die nicht-finanziellen Leistungen - hier aber nicht nur die Betreuung, sondern auch Nachhilfe, Begabtenförderung usw. Für einen ALG-II-Empfänger oder Geringverdiener kann sich eine außergewöhnliche Begabung des Kindes durchaus als Fluch erweisen, da die Mittel für die Förderung fehlen. Ein Schicksal, das er mit jenen teilt, deren Kinder nicht hochbegabt sind, sondern es vielmehr an Begabung fehlen lassen. Nicht außergewöhnlich, wenn man bedenkt, dass der Posten "Bildung" bei der Regelsatzberechnung nicht einmal berücksichtigt wurde und kostenfreie Nachhilfe oft nicht angeboten wird. Hier zeigt sich erneut die Realitätsferne der Regierung, die zwar nunmehr Härtefallregelungen (wie vom BVerfG verlangt) ermöglicht, jedoch gerade beim Thema Nachhilfe die Regelungen so formuliert, dass sie nur selten genutzt werden können.

Ist jemand gestorben?

Nachhilfe wird, von dem derzeitigen Katalog der Härtefälle ausgehend, dann gewährt, wenn zum einen die Dauer der Nachhilfe absehbar ist, zum anderen die Nachhilfebedürftigkeit einem Krankheits- oder Todesfall in der Familie folgt. Diese Regelung wird durch den Begriff "besonders schwerwiegender Grund" verklausuliert - ein einfaches "mein Kind bleibt in der Schule zurück und benötigt Hilfe" reicht hier also nicht mehr aus. Vorrangig sollen schulische Angebote genutzt werden. Hier geht die Regierung anscheinend davon aus, dass ein Großteil aller Schulen solche Angebote überhaupt zur Verfügung stellt und somit die Bildungschancen für alle unterstützt.

Kristina Schröder. Bild: Wikimedia Commons

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. So beginnt oftmals die Problematik der Gleichbehandlung schon beim Namen des Kindes. Lehrer, die aus ihrer Antipathie gegenüber Schülern kein Hehl machen, sind keine Seltenheit - offene Diskriminierung führt dann zwangsläufig zu schlechten Noten. Ein Beispiel dafür ist die Benotung der mündlichen Mitarbeit. Wer vom Lehrer nicht aufgerufen wird, der kann hier logischerweise keine guten Noten erwarten. Gleiches gilt für schriftliche Leistungen - gerade auch bei den Leistungen, die kein stures Auswendiglernen, sondern z. B. Interpretationen voraussetzen, hängt deren Bewertung oft von der persönlichen Einstellung der Lehrer ab. Hier sind sich Lehrer oft ihrer Bedeutung entweder nicht bewusst oder ignorieren sie. Dass sie durch ihre Noten auch die Zukunft von Kindern mitbestimmen, ist bei vielen zweitrangig - persönliche Sympathien und Antipathien sind hier wichtiger:

Mein Deutschlehrer hat meine Aufsätze zum Schluss nicht einmal mehr durchgelesen. Die ganzen Rechtschreib- und Grammatikfehler waren wohl völlig egal, es stand immer eine "1" drunter. Die 8-10 Seiten waren ihm wohl zu viel. Jedenfalls konnte ich schreiben, was ich wollte. Mein Kumpel hatte allerdings verloren - der bekam immer 5en, egal was er schrieb.

(Kristine, mittlerweile 45 Jahre alt, über ihren Unterricht)

An Schulen herrscht diesbezüglich oft ein der Polizei ähnelnder Korpsgeist. Einfach gesagt: Diskriminierung durch Lehrer gilt bestenfalls als Kavaliersdelikt. Doch dies ist nur ein Teil des Problems. Denn auch die Lehrer sind durch zu große Klassen, schnell auf den Diskriminierungszug aufspringende Eltern (oder jene, die bereits in der vorübergehenden Konfiszierung des stetig klingelnden Mobiltelefons eine Katastrophe sehen) und Problemen bezüglich der steigenden Zahl von "Kindern mit Migrationshintergrund" oft überfordert.

Zu wenig Fachkräfte

Dazu kommt ein Mangel an Fachkräften. Oft müssen ungeschulte oder in anderen Fachbereichen heimische Lehrer den Unterricht übernehmen. So kritisierte bereits 2008 der Leiter der Hauptschule Ludgerusstraße in Duisburg, Dr. Dietmar Bronder, eine Situation, die sich seitdem kaum geändert hat.

'In Chemie und Physik muss schon über die Hälfte der Stunden von Nicht-Fachkräften gehalten werden', berichtet er aus der Praxis. Er fordert, 'dass die Kinder, die am meisten Hilfe brauchen, weil sie oft aus schwierigen Verhältnissen kommen oder keine Eltern haben, die sich eine Nachhilfe leisten können, von den am besten ausgebildeten Lehrern unterrichtet werden'. Das Gegenteil sei allerdings oft der Fall.

12 Minuten pro Kind

Die Bildungsprobleme, die sich durch die Schulen und die fehlende Förderung ergeben, führen nicht selten zu weiteren Schwierigkeiten. Verhaltensauffälligkeiten sind angesichts steigender Erwartungen an Kinder und Jugendliche, steigender Armutszahlen und fehlender Hilfe mehr die Regel als die Ausnahme. Doch die Beratungszentren sind in Zeiten leerer Kassen oft Opfer der Einsparungen, Hotlines werden ebenso abgeschaltet, wie Büros geschlossen werden. Bei fehlenden niederschwelligen Angeboten bleiben dann nur noch die, die das richten sollen, was durch die schlechte Familien- und Bildungspolitik in Schieflage geraten ist: Jugendämter und nicht zuletzt Therapeuten.

Aber auch bei den Jugendämtern, die Hilfe gewähren sollen, fehlen die notwendigen Mittel. Sowohl personell als auch finanziell ist die Ausstattung alles andere als ausreichend. Meldungen wie die, dass im Bereich Jugendhilfe "nun doch nicht gekürzt wird" hören sich zunächst positiv an, täuschen jedoch darüber hinweg, dass dies nicht bedeutet, dass die Mittel ausreichen, sondern lediglich ein noch stärkerer Kahlschlag verhindert wurde. Die Folgen der Kürzungen: Durchschnittlich 12 Minuten im Monat pro Jugendamtsfall bleiben übrig, weitere 12 für die entsprechende Aktenarbeit. 80 Fälle und mehr sind gleichzeitig von einem Sozialarbeiter zu betreuen. Jugendamtsmitarbeiter geben offen zu, dass sie mittlerweile lediglich "die Spitzen abarbeiten", was einfach gesagt bedeutet, dass nur noch Härtefälle genug Beachtung finden. Wird, zum Beispiel durch eine akute Krisensituation, das Kind dann zum Härtefall, so sehen sich die Mitarbeiter der Ämter einer Presse ausgesetzt, die nur auf den nächsten Fehltritt wartet, um diesen medial zu zerpflücken. Das Ergebnis sind im Zuge von "Krisenintervention" allzu schnell beschlossene Entscheidungen, die nicht etwa in besserer Betreuung und Hilfe münden, sondern in der Inobhutnahme des Härtefalles. Als Ergebnis der fehlenden Hilfe wird das Kind in einem Heim untergebracht da für alles andere (hier schließt sich der Kreis) weder Personal noch Gelder zur Verfügung stehen.

Zu wenig Therapeuten

Auch an der therapeutischen Hilfe für "Problemkinder" mangelt es. Zwar hat die Bundesregierung im Januar 2010 postuliert, dass mit einer spürbaren Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen gerechnet wird - bis diese Erwartung eintritt, dürfte es jedoch noch einige Zeit dauern. Bisher ist die Lage eher bedrückend. Wartezeiten bis zu mehreren Jahren sind nicht selten - gerade auch in ländlichen Gebieten fehlen Infrastrukturen, die es auch Niedrigverdienern bzw. ALG-II-Empfängern ermöglichen, den Kindern (so es denn Therapieplätze gibt) eine Behandlung zu gewähren. Denn auch die Fahrtkosten werden nicht immer übernommen. Die Kinder innerhalb der ALG-II-Haushalte sind insofern gleich mehrfach "behindert" in ihrer bildungstechnischen Teilhabe. Zum einen fehlen Gelder für Klassenfahrten2, Nachhilfe, außerschulische Aktivitäten usw., sodass sich gerade auch die Kontakte zu Gleichaltrigen schwer gestalten, zum anderen sind durch die finanzielle Unterversorgung nicht nur die Eltern, sondern auch Jugendämter usw. nicht in der Lage, die daraus entstehenden Probleme zu lösen.

Doch von diesen Problemen, die letztendlich nur durch eine bessere Bildungs- und Familienpolitik gelöst werden können, hört man wenig. Die entsprechenden Ministerien führen lieber Scheingefechte, konzentrieren sich auf medienwirksame Themen wie Kinderpornografie, Alleinerziehende oder den Jugendschutz im Internet. Den Kindern in Deutschland, die zunehmend von gesellschaftlicher Teilhabe wie auch den Bildungschancen ausgegrenzt werden, wird dies nicht helfen. Aber andererseits wird die rührige Frau Schröder, die von den neuen Möglichkeiten der Kommunikation wie "Twitter" Gebrauch macht, ja momentan auch von anderen Sorgen geplagt - z. B. der, wie der neue Twitter-Account heißen soll:

kristinaschroeder ist leider zu lang, grübel noch über neuen Account.

(http://twitter.com/kristinakoehler)