Gesellschaftsliberal statt wirtschaftsliberal

Ein halbes Jahr nach ihrer Gründung tritt die Schweizer Piratenpartei erstmals bei einer Kommunal- und einer Kantonswahl an

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Die Schweiz ist im Vergleich zur Bundesrepublik stärker nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgebaut, weshalb dort Kommunal- und Regionalwahlen eine wichtigere Rolle spielen. Im März tritt erstmals die Piratenpartei bei solchen Wahlen an - und zwar bei der Kantonsparlamentswahl in Bern und bei der Gemeinderatswahl in Winterthur.

Das im Kanton Zürich gelegene Winterthur ist die sechstgrößte Stadt der Schweiz. Der siebenköpfige Rat der Stadt wird alle vier Jahre neue gewählt. Präsident des Exekutivorgans ist seit 1992 Ernst Wohlwend von der sozialdemokratischen SP, der gleichzeitig den Bereich Kulturelles und Dienste leitet. Schul- und Sportstadträtin ist seine Parteigenossin Pearl Pedergnana und auch dem Bauamt steht mit Walter Bossert ein SP-Politiker vor. Die restlichen vier Posten teilen sich die Grünen (Technische Betriebe), die wirtschaftsliberale FDP (Finanzen), die katholisch geprägte CVP (Sicherheit und Umwelt) und die protestantische EVP (Soziales).

Die Legislative der Stadt ist der sechzigköpfige "Große Gemeinderat", in dem derzeit neben den sechs oben aufgeführten Parteien auch noch die grünliberale GLP, die alternativgrüne AL, die bibeltreue Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU) und die konservativen Schweizer Demokraten (SD) vertreten sind. Wenn am 7. März der Winterthurer Gemeinderat neu gewählt wird, dann lässt sich auch eine Liste der vor einem halben Jahr neu gegründeten Schweizer Piratenpartei (PPS) ankreuzen.

Da bei der letzten Gemeinderatswahl 1,7 Prozent für einen Sitz reichten, rechnet sich die Gruppe um den an der ETH diplomierten Elektroingenieur Marc Wäckerlin keine schlechten Chancen aus. Weil der Wähler panaschieren darf, könnte auch einer der Informatiker Simon Rupf, Michael Häberle und Yves Jacot in den Gemeinderat einziehen.

In ihrem kommunalpolitischen Programm für Winterthur fordern die Piraten mit dem Slogan "Bildung statt Kameras" eine Begrenzung der optischen Überwachung zugunsten einer besseren Qualität der Schulen. Die Stadtverwaltung soll dem Willen der Partei nach transparenter werden, offene Formate und freie Software einsetzen. Bei anderen Themen wollen die Gemeinderatskandidaten "undogmatisch" nach "neuen, intelligenten Lösungen" suchen, die "dem einzelnen Bürger möglichst viel Freiheit lassen".

Weil jeder Kandidat im Wahlkampf auch eigene Positionen herausstellen kann, bedeutet diese Offenheit in einem Wahlsystem mit Listenveränderungsmöglichkeiten nicht, dass die Bürger die Katzen im Sack wählen müssten: Wäckerlin beispielsweise propagiert in der Bildungspolitik ein persönliches Programm, das über das der Schweizer Piraten hinausgeht und mit dem unter anderem Hochbegabte stärker gefördert werden sollen. In Abgrenzung zu "wirtschaftsliberal" präzisiert der Listenführer seine Haltung außerdem als "gesellschaftsliberal". In dieser Form des Liberalismus geht es dem Elektroingenieur nach um die maximal mögliche Freiheit der einzelnen natürlichen Personen und nicht um die Freiheit von Wirtschaftsunternehmen, denen man seiner Ansicht nach nur insofern Rechte natürlicher Personen zubilligen sollte, als sie tatsächlich auch solche betreffen.

Marc Wäckerlin

Drei Wochen nach der Wahl in Winterthur, am 28. März, finden im Kanton Bern Großratswahlen statt, bei denen die PPS ebenfalls antritt. Der Großrat ist das Kantonsparlament. Er hat vor allem hinsichtlich der Steuern umfassendere Befugnisse als ein deutscher Landtag oder Senat. Im Berner Großrat gibt es 160 Sitze, die sich derzeit 12 Parteien teilen. Stärkste Fraktion sind auch hier die Sozialdemokraten mit 42 Sitzen, gefolgt von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) mit 30 und der FDP mit 27 Sitzen. Die kleinste im Parlament vertretene Partei, die Entente PDC / PLJ, schaffte ihren Sitz bei der letzten Wahl mit gerade einmal 0,33 Prozent der Wählerstimmen. Allerdings lassen sich durch das Wahlsystem kantonsweite Stimmanteile nur sehr bedingt in Sitze umrechnen: So kam etwa die Parti Socialiste Autonome (PSA) beim letzten Mal mit nur 1,29 Prozent auf drei Sitze, während sich die 2,19 Prozent starken Schweizer Demokraten (SD) mit einem Sitz zufriedengeben mussten. Ihre Chancen auf einen Einzug in das Kommunalparlament erhöhten die Piraten in jedem Fall dadurch, dass sie in allen Wahlkreisen eine Listenverbindung mit der grünliberalen GLP eingingen.

Eine vierköpfige Piratenliste gibt es im Wahlkreis Biel-Seeland, wo der Präsident der PPS, der 24jährige ETH-Student Denis Simonet aus Ipsach kandidiert. Auf der Liste findet sich auch sein Vater, der Rentner Fritz Simonet, der mit 69 Jahren einer der ältesten Schweizer Piraten sein dürfte. Mit dem 25jährigen Andreas Zimmermann kandidiert in Biel auch ein Bankangestellter. "Eine Wirtschaft", so Zimmermann in offenbarer Anspielung auf die im Zuge der Bankenkrise bekannt gewordene Abschaffung geregelter Arbeitszeiten durch Quoten, "kann nur funktionieren, wenn mit den Angestellten fair umgegangen wird." In dieses Horn stößt auch der vierte Kandidat in diesem Wahlkreis, der 22jährige Fabian Horlacher aus Nidau, ein Informatiker in Ausbildung, der in seiner Webdarstellung den Einfluss von Firmen und Lobbyverbänden bei den etablierten Parteien kritisiert.

In Mittelland-Süd kandidieren ebenfalls vier Piraten: der 22jährige Informatiker Pascal Vizeli aus Oberdiessbach, der 39jährige Chemiker Reto Spinnler aus Niederscherli, der 22jährige Callcenteragent Matthias Müller aus Münsingen und der 44jährige Ökonom Christian Straumann aus Liebefeld, der sich vor allem gegen eine Einschränkung des "Teilen[s] von Musik, Kultur und Wissen" einsetzt.

Im Berner Jura tritt der Vizepräsident der Schweizer Piratenpartei an, der 34jährige Ingenieur Pascal Gloor aus Péry. Er macht mit der Weisheit Wahlkampf, dass ein Staat transparent sein muss, damit Bürger ihm vertrauen können. Ein weiterer Kandidat in dem frankophonen Wahlkreis ist der 29jährige Ingenieur Lucas Prêtre aus Tavannes, der die Forderung nach mehr Datenschutz und ein "Recht auf Anonymität" in den Vordergrund stellt. In der Stadt Bern selbst kandidiert der 29jähige Techniker Pascal Fouquet.

Die bislang spektakulärste Wahlkampfaktion der Berner Piraten fand am 13. Februar am Klösterlistutz statt: An diesem Tag zeigte eine Reihe von Kandidaten Autofahrern, wie sich mit einer einfachen SMS an die Nummer 939 über die Autonummer persönliche Daten des Halters ermitteln lassen, indem sie die verdutzten Fahrer mit Namen ansprachen. Nur jeder Zwanzigste kannte den Dienst, der pro Abfrage 50 Rappen (ca. 35 Cent) kostet und dem man sich als Autofahrer nur durch ein Opt-Out entziehen kann, für das die Piraten Formulare verteilten.

Denis Simonet. Foto: Raphael Moser. Lizenz: CC-BY 2.0

Allerdings läuft der Wahlkampf eher im Internet, wo es die Schweizer Piraten (ähnlich wie die deutschen Vertreter der Bewegung im letzten Sommer) schaffen, teilweise deutlich mehr Aufmerksamkeit zu erregen, als die etablierten Parteien: Etwa im Politnetz, in dem Bürger Kandidaten unterstützen können, woraus sich eine Rangliste der Parteien ergibt, die in der auflagenstarken Pendlerzeitung 20 Minuten veröffentlicht wird. Die Piratenpartei führt in dieser Rangliste seit Beginn der Auswertung mit großem Vorsprung.

Auch bei Smartvote, wo Bürger ihre Meinung zu bestimmten Themen äußern können und anschließend eine nach Übereinstimmung mit den eigenen Ansichten sortierte Liste der Kandidaten enthalten, beteiligen sich alle Winterthurer und viele der Berner Kandidaten. Darüber hinaus gibt es sowohl für die Berner als auch für die Winterthurer Wahl eigene Facebook-Gruppen.

Noch unklar ist, ob die Piraten bei den Kantonsparlamentswahlen in Zug teilnehmen, wo nach einem Urteil des Hamburger Oberlandesgerichts 50 Arbeitsplätze der Firma Rapidshare bedroht sind, die seit der Entscheidung gegenüber Konkurrenten wie Megaupload (aus dem der deutschen Jurisdiktion weniger gut zugänglichen Hong Kong) zunehmend an Bedeutung verliert. Dass ein deutsches Oberlandesgericht die Entscheidungsgewalt darüber haben soll, ob eine Schweizer Firma datenschutzwidrig Einblick in die Dateien ihrer Kunden nehmen soll, empört jedoch nicht nur im Kanton Zug:

Auch dem in Bern wohnhaften Journalisten Stephan Fuchs, der das Blog Nachrichten Heute betreibt, kostete die Rechtsprechung des Hamburger Landgerichts etwa 9.000 Franken. Anlass war eine Klage der deutschen Wochenzeitung Junge Freiheit, die über die Kanzlei des Alexander Graf von Kalckreuth einen Flüchtigkeitsfehler abmahnte ließ, der am 19. September 2007 online ging und nach einer Lesermail am nächsten Tag korrigiert wurde. Während dieser Zeit war die Formulierung ganze 56 Mal gelesen worden.

Fuchs und sein Berner Anwalt mussten sich vom Hamburger Landgericht belehren lassen, dass deutsches Medienrecht auf alles angewendet wird, "was in deutscher Sprache abgefasst und auf deutschem Boden erhältlich ist". Aus diesem Grund hätte der Schweizer sofort eine Unterlassungserklärung abgeben und die Anwaltskosten in Höhe von 1.023,16 Euro bezahlen sollen.