Rhizome des Geheimen Deutschlands

Ulrich Raulff seziert die schwarzen Netzwerke der "Georgianischen Choräle" und untersucht deren Fernwirkung auf die Bildungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

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Unlängst widmete sich ein DFG-Symposion in München den Anfängen ästhetischer Aufbruchsbewegungen in der Zwischenkriegszeit. Damals, in der Zeit von 1910 bis 1930, hatten Futurismus und Reformpädagogik, Kommunismus und Surrealismus avantgardistische Manifeste und Programme in Umlauf gebracht, deren Einheit in der Differenz der Wille zum "Aufbruch" war. Neues, so war seinerzeit zu hören, sei nur möglich, wenn man das Alte radikal zertrümmere. Nur im Neuen breche sich die Welt künftig Bahn.

Blöd trabt die Menge drunten - schon ihre Zahl ist Frevel.

Stefan George

Dass dieser Führungsanspruch an überzogenen Ambitionen, an überbordenden Gewaltfantasien oder schlicht: an der Unfähigkeit der Akteure, ihre Faszination am Neuen auf Dauer zu stellen, gescheitert ist, oder, als alle widerstreitenden Elemente ausgemerzt worden sind, in Totalitarismen endete, ist die bittere Wahrheit, die das Versprechen nach Neuanfang nach sich zog.

Stefan George

Quer zu diesen historischen Bewegungen steht, auch wenn "Avantgarden" sich häufig auch so verstehen, der Begriff der "Elite". Stellen sich diese in aller Regel in den Dienst des Volkes, definieren sich jene gerade in Abhebung von ihm. Suchen Eliten den Abstand von den Vielen, der prinzipiell nicht verringert werden kann oder darf, will die Avantgarde die Massen mitreißen. In ihr schimmert stets der Glaube an ein "Gleichheitsprinzip" durch, der sich an alle richtet - auch an die Zurückgebliebenen und scheinbar Zukurzgekommenen.

Dass es mit dieser Unterscheidung, die Jacob Taubes vor bald dreißig Jahren zwei jüngeren Berliner Philosophen angetragen hat, in der Praxis so einfach nicht ist, kann man einer ebenso sonderbaren wie schier unglaublichen Geschichte entnehmen, die Ulrich Raulff, vormals Feuilletonchef der FAZ, dann leitender Redakteur der SZ und mittlerweile Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, auf den Eingangsseiten seines mitreißenden Buches über die "schwarzen Netzwerke" erzählt, die nach dem Tod des Dichters Stefan George am Bildungsprozess der Bundesrepublik maßgeblich mitgeschrieben haben.

Antifaschistische Irrfahrt

Raulff erhielt vor mehr als zehn Jahren einen Anruf. Am anderen Ende der Leitung ist der Leiter eines rheinischen Museums. Sein Haus habe, so der Anrufer zu ihm, vor ein paar Monaten einen Ehrensäbel erhalten, der den Namen Oberfähnrich Schenk Graf von Stauffenberg trägt. Der Mann, von dem er das Stück habe, sei ein gewisser Herbert Mies.

Wer in den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts an einer deutschen Universität studiert hat, der wird bei diesem Namen unwillkürlich zusammenzucken. Mies war seinerzeit Vorsitzender der DKP gewesen, einer Kaderpartei, die der SED damals nahe und auf ihrer Lohnliste stand. Als ihr verlängerter Arm und studentischer Vortrupp galt der MSB Spartakus, der seine ideologische Ausrichtung wie finanzielle Unterstützung aus Ost-Berlin bezog.

Auch bei Raulff, der zu dieser Zeit an der von MSB- und SHB-Kadern dominierten Philipps-Universität in Marburg studierte und bei Dietmar Kamper die erste Doktorarbeit in Deutschland über Michel Foucault anfertigte, klingelten sofort die Alarmglocken, als er das hörte. Am Telefon habe Mies ihm gestanden, dass der Säbel von Max Reimann stamme, dem letzten Parteichef der KPD, der ihn wiederum aus dem Moskauer Exil mitgebracht habe. Offiziere der Roten Armee hätten Reimann nach dem Krieg das "antifaschistische Kulturgut" in die Hand gedrückt, mit dem Auftrag, es "dem deutschen Volk" zurückzugeben.

Spielen über Bande

Auf welchen Umwegen das Objekt, das der Hitler-Attentäter fünfzehn Jahre vor seiner Tat als Jahrgangsbester der deutschen Kavallerie erhalten hatte, nach Moskau gekommen war, blieb ungeklärt - ebenso, warum der kommunistische "Vorkämpfer" die "antifaschistische Trophäe" ausgerechnet einem Museum übergeben hat, das sich der Geschichte der Bundesrepublik widmet, und nicht den Verwaltern der sozialistischen Internationale.

Was diese kuriose Story ideengeschichtlich bedeutet oder was womöglich aus ihr über die Geschichte der Bundesrepublik gefolgert werden könnte, ließ Raulff im Dunkeln. Auch im "Literaturhaus München, wo er das Buch Ende Januar einem zahlreich erschienenen Publikum vorstellte. Erstaunlich, dass auch Jens Malte Fischer, der ihn dazu befragte, darüber keine nähere Auskunft haben wollte.

Gibt es mithin in der Praxis doch engere Bande zwischen Avantgarden und Eliten? Ist die Scheidelinie, die den Parteifunktionär vom Soldaten, den Sozialisten vom Militaristen, den Bund der Werktätigen von preußischer Disziplin trennt, doch schmaler als gedacht? Lässt sich, wie man längst vermutet, doch eine direkte Verbindungslinie von hier nach dort ziehen, von Berlin nach Berlin-Ost?

Geheiligt statt geheim

Noch seltsamer wird das Ganze, wenn man hört, dass Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der Besitzer des Säbels, jenem Kreis angehört hat, der 1910, als die Avantgarden sich in der Kunst, Wissenschaft und in der Politik formierten, enger Vertrauter und Mitglied jenes Netzwerkes war, der den Begriff vom "geheimen Deutschland" geprägt und in Umlauf gebracht hat.

Claus Schenk Graf v. Stauffenberg. Bild: Bundesarchiv (Bild 183-C0716-0046-003), Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Stauffenberg hielt mit seinen beiden Brüdern nicht nur die Totenwache am Sterbebett des Dichters Stefan George, er stand Tags drauf auch am Grab des am 4. Dezember 1933 in Minusio Verstorbenen. Er war es, der mit fliegenden Fahnen in den Krieg gezogen ist, ehe er später, als der Krieg verloren war, den deutschen Widerstand anführt und organisiert. Und er war es auch, der am 21. Juli 1944, kurz bevor die Todesschüsse ihn im Bendlerblock trafen, gerufen haben soll: "Es lebe das geheime Deutschland."

Ob er tatsächlich "geheim" oder "heimlich" gerufen hat, wie Marion Gräfin Dönhoff zusammen mit ihrem akademischen Lehrer Edgar Salin später behauptet hat, oder doch "geheiligt" oder "heilig", wie Raulff zu belegen sucht und auch Tom Cruise im gleichnamigen Film ruft, ist für die Geschichte selbst von eher nachrangiger Bedeutung.

Schlummernder Unterstrom

Aufschlussreicher ist dagegen, dass der Begriff seine geistigen Wurzeln in der "Politischen Romantik" hat. Formuliert hatte ihn erstmals Paul de Lagarde, ein Orientalist und Kulturphilosoph der Jahrhundertwende. Beim Schriftsteller Julius Langbehn, den man später den Beinamen "Rembrandtdeutscher" gegeben hat, erhielt er danach erst jenen Sinn, den er von Karl Wolfskehl, bekennender Zionist und ältester Freund Georges, vor genau hundert Jahren angenommen hat.

Im "geheimen Deutschland", so die Vorstellung Wolfskehls, "schlummerten" Kräfte, die "das erhabenste Sein der Nation verkörperten". Der einzige Weg, um den "Unterstrom" dieser ebenso unsichtbaren wie "ewig unveränderlichen Kraft" zu fassen, geht über "Bilder" und "Mythen", die von einer "lebenden Gemeinschaft" bewahrt und behütet werden müssen. Ihr obliege es, die im "geheimen Deutschland" verkörperte Dreieinheit von "Schönheit", "Adel" und "Größe" zu pflegen und sie zu neuen Reichsufern zu tragen.

Auserwählt wenige

Als diese Gemeinschaft, die sich um Andenken, Gegenwart und Zukunft dieser "geheimen Kräfte" Deutschlands kümmere, verstand sich der Kreis, den der Dichter Stefan George in den Jahren größter wirtschaftlicher Not um sich geschart hatte. Er meinte, dass zumindest bei einigen wenigen Auserwählten der Glaube an die kommende Nation und ihre glänzende Wiedergeburt am Leben erhalten werden sollte.

Neben den Brüdern Stauffenberg waren dessen wichtigsten Vertreter: die Philosophen Friedrich Gundolf, Kurt Hildebrandt und Max Kommerell, der Historiker Ernst Kantorowicz, der Archivar Robert Boehringer sowie der Ökonom Edgar Salin und Georges Leibarzt, Walter Kempner, dessen Bruder Robert später Chefankläger in den Nürnberger Prozessen war.

Im Umkreis des Kreises tummelte sich auch der Romanist Ernst Robert Curtius, der SPD-Abgeordnete, späterer Minister und Mitverfasser des Godesberger Programms, Carlo Schmid und die Pädagogen Hellmut Becker und Georg Picht, auf die noch zurückzukommen sein wird.

Schattenreich

Ausgelobt hatte George dieses "Neue Reich" in einer gleichnamigen Gedichtsammlung. Sich streng an platonischen und hellenistischen Werten und Idealen orientierend und an die Tradition Vergils und Homers, an Dante und Hölderlin anschließend, sollte im "geheimen Deutschland" sich jene "Gemeinschaft der Dichter und Denker, der Helden und Heiligen, der Täter und Opfer vereinen", welche Deutschland einst hervorgebracht hat.

Mit Empirie oder Realpolitik, mit Gesetzen, Verbänden und Institutionen hatte dieses "schlummernde" Deutschland selbstverständlich nichts zu tun, eher mit dem Glauben, mit Mitteln der Dichtung bessere Formen staatlichen Handelns zu schaffen. Im Prinzip ging es darum, Hellas und den Kyffhäuser, Platon und die Kaisersaga zusammenzuführen und jenen schlafenden Kaiser zu erwecken, der das Reich zu neuer Blüte und Herrlichkeit führen sollte. Aus dem Mix von Hellenensehnsucht und Heilserwartung sollte endlich auch dem deutschen Volk eine Form von "Auserwähltsein" zukommen, aus dem dann auch ein "Messianismus ohne Messias" erwächst.

Gegen-Staat

Der antiliberale, antidemokratische und antikosmopolitische Geist, den das "geheime Deutschland" atmete und der im Begriff des "Reiches" seinen intimsten und poetischsten Ausdruck bekam, erfuhr in dem Schwur seinen Höhepunkt, den die Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg noch Wochen vor dem Attentat auf Hitler verfassten. Dort heißt es in unzweideutiger Anspielung und Berufung auf den Dichterfürsten George:

Wir glauben an die Zukunft der Deutschen. Wir wissen im Deutschen die Kräfte […] die Gemeinschaft der abendländischen Völker zu schönerem Leben zu führen. Wir bekennen uns […] zu den großen Überlieferungen unseres Volkes, das durch die Verschmelzung hellenischer und christlicher Ursprünge in germanischem Wesen das abendländische Menschentum schuf. Wir wollen eine Neue Ordnung, die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt, verachten aber die Gleichheitslüge, und beugen uns vor den naturgegebenen Rängen.

Schwer entwirrbar

Wie viel davon auch Gedanken des Dritten Reichs gewesen sind, ist nicht immer leicht zu sagen und daher nur schwer zu entwirren. Die Differenzen zwischen ihnen waren eher fließend. Wollten die einen das Reich Georges "versüdlichen", es auf das Mittelmeer, Sizilien und die Levante hin öffnen, lag den anderen eher daran, es "aufzunorden", es mithin zu germanisieren und von "undeutschen Elementen" zu reinigen.

Tatsache ist, dass der Dichter George selbst sich klarer Worte dazu stets entzogen hat. Noch zwei Tage vor dem Attentat auf Hitler stellt Stauffenberg einer Gedichtsammlung, die sich später in seinem Besitz fand, Georges Worte aus dem Gedichtzyklus "Das Neue Reich" voran: "Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande…".

Tatsache ist aber auch, dass Ende der zwanziger Jahre ein Kreis von Jungmännern sich innerhalb des Kreises gebildet hat, der offen mit den Ideen der Nazis sympathisierte und im "Neuen Reich" einen Vorboten des "Dritten Reiches" erblicken wollte. Und Tatsache ist schließlich auch, dass Georges "rechtzeitiger Tod" im Dezember des Jahres der Machtergreifung, ihn die Nötigung erspart hat, sich explizit dafür oder dagegen zu erklären.

Fließende Übergänge

Offerten von Nazi-Größen, ihm die Ehrenmitgliedschaft in der nationalsozialistisch reorganisierten Akademie der Künste anzutragen, widersetzte er sich jedoch erfolgreich. Und allen Versuchen, ihn nach seinem Tod heim ins Reich zu holen, widersetzte sich der Kreis, namentlich Robert Boehringer, der das Erbe des Dichters bis zu seinem Tode verwaltete. Andererseits wollte George, worauf Thomas Karlauf hinweist, noch in den Tagen, als die Bücher im Reich bereits lichterloh brannten, "die ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung" an seinen Ideen nicht unbedingt leugnen.

Offen zutage treten diese Ambivalenzen, als der deutsche Gesandte in der Schweiz, Ernst von Weizsäcker, Vater von Carl Friedrich, dem Physiker und Friedensaktivisten, sowie Richard, dem späteren Bundespräsidenten, am Grab Georges einen Kranz niederlegt und auf der Schleife ein großes Hakenkreuz prangt. Als am darauf folgenden Tag jemand dasselbe entfernt hatte, nähten Georges Anhänger dies am nächsten Morgen wieder auf. Dort blieb es solange sichtbar, bis es die Natur verbleichen ließ.

Vermutlich verläuft die Trennlinie aber dort, wo die antiliberalen Haltungen und Überzeugungen in eine "völkische Ideologie" übergehen, der Faschismus zum Nationalsozialismus mutiert. Sicher ist dies aber nicht. Zu zweideutig sind manche Aussagen und Vorstellungen im Werk des Dichters. Für Franz Neumann, kritischer Jurist und ehemaliger Schüler von Carl Schmitt, gehört George trotz aller Verehrung, die er für die Dichterworte übrig hatte, zu den "wichtigsten geistigen Wegbereitern des Nationalsozialismus".

Heilsame Diktatur

Bezeugt ist hingegen ein stark antibürgerlicher Zug im und um den Kreis. Zeit seines Lebens blieb George ein Bohemien, Aristokrat und Dandy, er war, wenn man so will, ein Décadent, Lüstling und Revolutionär des Außeralltäglichen. Sein Leben und Werk beweist, dass das Recht auf Dissidenz, Rebellentum und Widerstand nicht unbedingt Besitztum der politisch Linken ist.

Georges Staatsidee war die eines "Outcasts", wie Raulff mit Recht feststellt. In ihm spiegelt sich der Staat Platons, der von Denkern, Weisen und Wohlgeborenen geführt wird, es ist ein "autoritärer Staat", in dessen Mitte der Dichter George höchstselbst trohnt, und der seinen Jüngern und Bürgern eine "heilsame Diktatur" verspricht.

Georges Kunst war es, junge Menschen an sich zu binden. Vor allem Jungmänner schauten zu ihm auf und verehrten ihn bis zur Selbstaufgabe und Selbstverleugnung. George verkörperte in persona, was Max Weber unter charismatischer Herrschaft verstand. Er war ein pädagogischer Eiferer, der "Weltfremdlinge" suchte und anzog. Von ihnen verlangte er rückhaltlose Hingabe und bedingungslose Unterwerfung, die aber auch auf Unterrichtung, Genügsamkeit und geistiger Freiheit beruhte.

Süß und sehr süß

Auswahl und Aufnahme in den Kreis folgte einem bewährten Muster. Zunächst musste der Auserwählte seine Lebensführung grundlegend ändern. Er musste sich von seinem Lebensumfeld distanzieren, von Herkunft, Stand und Namen, und seine Lebensführung radikal umgestalten. Die Nähe zum Kreis und die Enge der Beziehung zu ihm hing davon ab, welche Zuneigung der Meister für ihn empfand, aber auch und wie der Neuankömmling auf das Liebeswerben des Meisters reagierte. Georges Anspruch und Einfluss ging soweit, dass er auch darüber bestimmen wollte, ob oder wen jemand aus seinem Freundeskreis heiraten durfte.

Seit Thomas Karlaufs Bahn brechender Biografie ist allgemein bekannt, dass neben dem gemeinsamen Besingen der Dichter und Denker vor allem Homoerotik und Päderastie das gemeinsame Band war, das den Kreis im Innern zusammenhielt. Es waren meist Georges engste und treueste Freunde, die dezidiert nach "Frischfleisch" für den Meister Ausschau hielten, sie anwarben und dann in den Kreis einführte.

Im Kreis hatte man für diese Jungs die Kürzel S. und s. S. gefunden, "süß" und "sehr süß". Offenbar war es, wie Karlauf schreibt, die Ambition des sexuell stets rastlosen Georges, die "Päderastie" unter Rückgriff oder Deckmantel der griechischen Philosophie "zur höchsten geistigen Daseinsform zu erklären". In der "Knabenliebe", schreibt Raulff, sollte der "gesamte Sinn staatlichen Handelns" zum Tragen kommen.

Zellteilung

Große Wirkung auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland entfaltet der Dichter paradoxerweise erst, als er das Zeitliche segnet und bei den Anhängern Unklarheit über das Erbe herrscht. Zunächst zerbricht der Kreis nur in zwei Teile, in jene, die mit den Nazis paktieren, in die Partei eintreten und dort Karriere machen, und in jene, die Juden sind und vor den Nazis ins benachbarte Ausland oder über den Atlantik fliehen.

Erwägen manche gar die Gründung einer jüdischen George-Kolonie in Namibia, der ehemaligen Kolonie "Deutsch-Südwest", fabuliert der Historiker Ernst Kantorowicz, der noch kurz vor seiner Flucht anno 1934 seine letzten Vorlesung in Frankfurt über das "geheime Deutschland" gehalten hatte, fünf Jahre später in Berkeley, seine studentischen Zuhörer seien wegen der Mischung von skandinavischem, französischem, spanischem und englischem Blut […] ungewöhnlich gutrassige Knaben wie Mädchen".

Es wird nochmals fünf Jahre dauern, bis Kantorowicz, nun im Dienste des "Army Special Training Program" tätig und junge US-Offiziere auf ihren Europaeinsatz vorbereitend, den politischen Messianismus, dem er selbst mindestens zwanzig Jahre lang gefrönt hat, als Grundübel der jüngeren deutschen Geschichte abstraft. So nimmt es nicht wunder, dass er seine sterblichen Überreste nicht, wie viele andere George-Jünger, über dem Grab des Sektenführers verstreuen ließ, sondern in der Bucht von St. John auf den Virgin Islands.

Rhizome machen

Erst als diese Zirkel sich weiter ausdifferenzieren, sich verzweigen und neue Rhizome bilden, beginnen Georges spukhafte Ideen und Gedanken erst richtig zu wirken. Bezeugt werden sie von Ulrich Raulff bis 1968, dem Jahr, wo Stefan George hundert Jahre alt geworden wäre und sein Werk von Studenten mit auf die Straße getragen wird.

Beispielsweise von Hans-Jürgen Krahl, Assistent von Adorno und ideologischer Wortführer der Achtundsechziger. Als er damals ohne Bleibe durch Frankfurt stiefelte, schleppte er in seinen Taschen die zweibändige rote George-Ausgabe des Dichters mit sich herum. Bevor er dem SDS beitrat und dort über dessen geistige Ausrichtung bestimmte, war er Mitglied des Ludendorffbundes und der Jungen Union.

Oder bei Marion Gräfin Dönhoff, die nicht nur der letzten Abhandlung beiwohnte, die Ernst Kantorowicz über das "geheime Deutschland" an der Frankfurter Universität gehalten hat, sondern über ihren Doktorvater Edgar Salin auch mit dem Kreis aufs Engste in Berührung kam. Nach dem Krieg verstand sie es blendend, sich zwischen all den Minenfeldern zu bewegen, die die juristische, politische und moralische Aufarbeitung der Naziherrschaft mit sich brachte.

Einerseits verteidigte sie vehement Ernst von Weizsäcker im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess publizistisch, andererseits hütete sie sich davor, die Rechtmäßigkeit des Militärtribunals offen anzuzweifeln.

Im Nachhinein deutete sie Stauffenbergs Attentatsversuch nicht als Versuch, den Hitlerismus zu zerstören, sondern ganz im Sinne Georges als "Revolte des Geistes" gegen den langen Arm des Nihilismus, den Nietzsche seit dem Ende der Antike am Wirken sieht.

Pädagogisch bewegt

Das größte Nachleben fand das George-Mem zweifellos unter Pädagogen. Verwunderlich war und ist das sicherlich nicht. Zumal Ziel und Zweck des gemeinsamen Rezitierens der Gedichte die ästhetische und moralische Bildung und Umbildung des gesamten Menschen war. Von besonderer Wichtigkeit waren für den Kreis daher stets jene "Gefühlserlebnisse", die man dabei empfand. In angemessener Haltung, ehrfürchtig und demütig, sollten die Übenden zum "schönen Leben" geführt werden. Wer noch den Film "Club der toten Dichter" vor Augen hat, bekommt eine ziemlich klare Vorstellung von dem, was zwischen Mentor und Zögling ablaufen sollte.

Kein Wunder, dass Kult und Ritus prächtig mit Vorstellungen harmonierten, die die pädagogische Reformbewegung in der Zwischenkriegszeit entwickelt hatte, das gemeinsame Arbeiten in Werkstätten ebenso wie die Herstellung von Farben, Stoffen und Formen oder das gemeinschaftliche Lernen in der Gruppe. Kein Wunder, dass Georges aus dem platonischen Erziehungsideal extrahierte Ideen vor allem bei bewegten Erziehern auf fruchtbaren Boden fielen, und dann in Salem, in Wickersdorf oder auf dem Birklehof später zur Anwendung kamen.

Pädagogen-Staat

Dort, im Schwarzwald hatte nämlich der George-Schüler Georg Picht, Busenfreund von Carl Friedrich von Weizsäcker, seine Zelte aufgeschlagen. Unter dem Dach des Internats hatte er ein Platon-Archiv eingerichtet, während in den Klassenzimmern und draußen in der Natur ehemalige Nazis in seinem Auftrag daran werkelten, einen "platonischen Zwergstaat" zu errichten.

Zusammen mit Hellmut Becker rief er anno 1964 die "deutsche Bildungskatastrophe" aus und avancierte so später zum geistigen Ahnherrn und Wegbereiter der deutschen Bildungsreform, dem zentralen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland. Unter dem Stichwort: "Bildung für alle" oder "Bildung ist Menschenrecht" agitierten Picht und seine Mitstreiter für eine nationale Bildungsoffensive.

Miteinander bekannt waren Georg Picht und Hellmut Becker über ihre beiden Väter Werner und Carl Heinrich. Beide stammten aus dem engeren Umkreis des Dichters. Leitete dieser vor dem Krieg das preußische Kulturministerium, war jener zur damaligen Zeit bereits auf dem Nazitrip. Bestens bekannt war Becker aber auch mit der Familie Weizsäcker. Neben Georg zählte auch Carl Friedrich von Weizsäcker zu seinen besten Freunden.

Steil nach oben

Nach dem Krieg ging es mit Becker, der vor dem Krieg noch dem Staatsrechtler Ernst Rudolf Huber in Leipzig assistierte, der wiederum Schüler von Carl Schmitt war, steil nach oben. Erst verteidigt er Ernst von Weizsäcker in Berlin, bei dem auch Robert Kempner, der Bruder von Georges Leibarzt Walter, die Anklage vertritt. Dann ist in seiner juristischen Praxis Mitte der fünfziger Jahre auch ein gewisser Alexander Kluge als Juniorpartner tätig.

Zehn Jahre später erreicht sein bildungspolitischer Einfluss die Frankfurter Universität und deren intellektuelle Zirkel. Er sitzt mit und neben Horkheimer und Adorno im Beirat des Instituts für Sozialforschung und verbreitet dort seine von Freud adaptierten Thesen der Ich-Bildung. An der Psychologisierung von Bildung und Erziehung, die seither den bildungspolitischen Diskurs hierzulande bestimmt, hat er folglich maßgeblichen Anteil.

Die Herausgeberschaft der Zeitschrift Merkur, die ihm der Birklehof-Absolvent Karl-Heinz Bohrer anträgt, lehnt er ab. Stattdessen wird er 1963 Chef des neu gegründeten Max-Planck Instituts für Bildungsforschung, von wo aus dann die Bildungsreform in Gang gesetzt wird. Wer die Vorgeschichte kennt, den Bildungsweg ihrer Wegbereiter, weiß spätestens jetzt, warum es den Reformern vorwiegend um Erziehung und Menschenbildung ging, darum, die schöpferischen Kräfte des Menschen freizusetzen.

Dass damit zuweilen auch "homoerotische" Leidenschaften gemeint waren, beweist Becker nach Raulff, als er in einer nächtlichen Gesprächsrunde verlauten lässt, dass Carlo Schmid diese Phase möglicherweise zu früh abgebrochen habe. Ist es nur Zufall, dass Georg Picht vielfältige Kontakte zu den Jesuiten in St. Blasien unterhalten hat, ausgerechnet zu jenem Kolleg, dass jetzt auch unter Missbrauchsverdacht steht?

Der Unterstrom wirkt

Wie auch immer man diese Dinge bewerten wird, ohne George und seine Netzwerke, ohne seinen Messianismus und pädagogischen Eifer, und ohne die Bildungsreform wäre die Bundesrepublik Deutschland gewiss nicht das geworden, was sie heute ist.

Vor allem der "Katastrophen-Sound", den Picht und Becker seinerzeit anrühren, hat dazu nachhaltig beigetragen. Nur weil das pädagogische Umfeld bereits dermaßen geebnet und umgepflügt war, konnte das Mündigkeit- und Emanzipationspostulat, das ein Verbund aus kritischen Kritikern, kritischen Psychologen und kritischen Erziehungswissenschaftler sich auf die Fahnen schrieb, weit in die Mitte der deutschen Gesellschaft getragen werden.

Die Programme passten einfach wunderbar zu dem seit Humboldt und Schleiermacher verbürgten Konzept von Bildung. Sie ließen sich problemlos mit der Idee der "Höherbildung des Einzelnen" verbinden. Man brauchte daher nur noch die Sprachcodes wechseln, den geisteswissenschaftlichen Duktus der Menschenbildung mit dem gesellschaftstheoretischen Neusprech, und fertig war das Ganze.

Das Mem lebt

Während das öffentliche Schul- und Bildungswesen rasch die neuen Termini übernahm, konnte sich das George-Mem im Alternativ- und Privatschulsystem ungehindert aus- und weiter verbreiten. Neben den "Entschulungsbestrebungen", die Ivan Illich in Lateinamerika und Hartmut von Hentig an der Laborschule in Bielefeld in den Siebzigern betrieben, infizierte es vor allem auch die anthroposophisch belastete Waldorf-Pädagogik und die Betreuungsfantasien der Montessori-Epigonen in den Achtzigern. Neuerdings findet es Abnehmer auch bei der wieder in Mode gekommenen "Erlebnispädagogik" oder beim neu erhobenen Loblied auf die "Disziplin", mit dem Bernhard Bueb durch die Talkshows tingelt.

Auch dieser Kreis schließt sich, wenn man weiß, dass Ivan Illich von Ernst Ulrich von Weizsäcker, Sohn von Carl Friedrich und Neffe von Richard, in höchsten Tönen gelobt wird, Hartmut von Hentig Birklehof-Absolvent war und Bernhard Bueb nicht nur sein Assistent in Bielefeld war, sondern später auch langjähriger Leiter der Schule von Salem.

Unter dem Pflaster

Raulffs Verdienst ist es, jene schwarzen Netzwerke aufgedeckt zu haben, die den "Bildungsprozess" der Bundesrepublik "untergründig" begleiten und ihr Bild als auch ihren Geist nachhaltig geprägt haben,. Wer seine Geschichte liest, wird das Gefühl nicht los, einen Kriminalroman in Händen zu haben. Zu Recht ist es zum Sachbuch des Monats Februar gewählt worden.

Aufgabe eines künftigen Autors wird es sein, die Netzwerke des "geheimen Deutschland", die offenbar auch noch nach 1968 noch ganz gut funktionierten, zu enttarnen. Schon die Spontis, die sich im Umkreis der Achtundsechziger gebildet hatten, wussten, dass sich unter dem Pflaster der Strand befindet.

Literatur

  • Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister: Stefan Georges Nachleben. Eine abgründige Geschichte". München: Verlag C. H. Beck, 544 Seiten, 29,90 Euro
  • Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma", München: Karl Blessing Verlag 2007, 816 S., geb., 29,95 Euro.