Welche Wege führen aus der Krise?

Hat der Kapitalismus noch eine Chance oder müssen wir uns auf die Suche nach Alternativen begeben?

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Die Einschläge kommen näher. Mussten bisher vor allem Länder der Peripherie der Europäischen Union - wie etwa Ungarn, Rumänien oder Lettland - mittels milliardenschwerer Hilfspakete des IWF, der Weltbank und der EU vor dem Staatsbankrott bewahrt werden, so droht erstmals mit Griechenland einem Land der Eurozone die Zahlungsunfähigkeit. Als weitere Pleitekandidaten werden inzwischen die Euroländer Portugal und Spanien gehandelt. Auch Kernländer des kapitalistischen Systems stöhnen unter einer ungeheuren Schuldenlast und verschulden sich in einem aberwitzigen Tempo. Die Staatsverschuldung Japans, der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt, beträgt längst mehr als 200 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Großbritannien (Staat, Wirtschaft und Verbraucher) hat bereits einen Schuldenberg von nahezu 500 % seines BIP angehäuft. Die staatliche US-Schuldenaufnahme soll in diesem Jahr mit 1,6 Billionen US-Dollar einen neuen Allzeitrekord aufstellen. Es ist absolut offensichtlich, dass diese rasant fortschreitende Verschuldungsorgie der meisten Industriestaaten nicht mehr lange aufrechterhalten werden kann. Inzwischen drohen Ratingagenturen damit, selbst den USA und Großbritannien ihre erstklassige Bonitätsbewertung abzuerkennen.

Als die - seit Jahrzehnten schwelende! - Krise mit der Pleite von Lehman Brothers manifest wurde, da taumelten die Finanzmärkte am Abgrund. Nun geraten etliche Industriestaaten in finanzielle Schieflage, gerade weil sie mittels umfangreicher Konjunkturprogramme und billionenschwerer Rettungsmaßnahmen für den Finanzsektor den wirtschaftlichen Totalabsturz in 2009 verhindern konnten. Wie kann dieser nun erneut an Dynamik gewinnende Krisenprozess verzögert oder gar aufgehalten und schließlich überwunden werden? Gibt es Auswege aus dieser Krise? Können diese systemimmanent - also im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise - beschritten werden, oder müssen wir uns auf die Suche nach Alternativen begeben?

Um diesen Fragestellungen adäquat nachgehen zu können, ist ein klares Verständnis der gegenwärtigen Krise erforderlich. Erst dank einer bündigen und klaren "Krisendiagnose" könnten eventuelle Auswege aus der Krise diskutiert, aufgezeigt und beschritten werden.

Kurze Krisendiagnose: It's the economy, stupid

Die gegenwärtige Systemkrise des kapitalistischen Systems äußert sich vor allem als eine Schuldenkrise. Die wichtigsten Industriestaaten haben seit dem Zusammenbruch der US-Immobilienblase die Defizitkonjunktur verstaatlicht, die vormals durch eine ausartende private Verschuldung auf den wuchernden Finanzmärkten angeheizt wurde.

Seit Beginn der achtziger Jahre - also seit dem Sieg des Neoliberalismus - wuchsen die amerikanischen und später globalen Finanzmärkte explosionsartig an, zugleich beschleunigte sich vor allem in den USA die private Kreditaufnahme, die zu einer tragenden Säule des dortigen, konsumgetriebenen Wachstums wurde. Eine auf solcherart (staatlicher oder privater) Defizitbildung beruhende Konjunktur wird als Defizitkonjunktur bezeichnet.

Es scheint somit, dass der Kapitalismus seit einigen Jahrzehnten ohne Schuldenbildung nicht mehr funktionieren kann. Entweder vollzieht sich dieser Prozess über die Finanzmärkte, wodurch es zum Zusammenbruch der US-Immobilienblase kam, oder die Staaten müssen einspringen und Vermittels staatlicher Defizitbildung die notwendige Nachfrage generieren, wie es aktuell der Fall ist. Der Kapitalismus scheint somit zu einem unrentablen Zuschussgeschäft verkommen zu sein, dessen Reproduktion nur noch durch (staatliche oder private) Schuldenmacherei aufrechterhalten werden kann.

Der gegenwärtig zusammenbrechende finanzmarktgetriebene Kapitalismus entstand als Reaktion auf die fundamentale Krise der siebziger Jahre, als der lange Nachkriegsboom in nahezu allen Industrieländern zum Erliegen kam und die Weltwirtschaft in eine lange Phase der Stagflation - einer ausartenden Inflation mitsamt ökonomischer Stagnation - eintrat. Die Deregulierung der Finanzmärkte seit den achtziger Jahren und deren beständiges Wachstum waren also eine Reaktion auf einen Krisenprozess der warenproduzierenden Industrie. Hiermit konnte tatsächlich neue - wenn auch nur kreditfinanzierte - Nachfrage geschaffen werden. Dieses gigantische Schneeballsystem, das zuletzt durch die Spekulation auf dem US-Immobilienmarkt angetrieben wurde, brach im Gefolge der Pleite von Lehman Brothers zusammen.

Was ließ also die Industriestaaten nach der langen Aufschwungsphase in dem Goldenen Zeitalter des Kapitalismus in die Krisenperiode der Stagflation eintreten? Salopp gesagt war es die dem Kapitalismus innewohnende, konkurrenzgetriebene Tendenz zur beständigen Produktivitätssteigerung. Der Kapitalismus ist schlicht zu produktiv für sich selbst geworden, weswegen wir uns seit Jahrzehnten mit der Krise unserer Arbeitsgesellschaft konfrontiert sehen, deren systemische Ursachen von der veröffentlichten Meinung verbissen ignoriert werden. Je offensichtlicher die ihre Produktionspotentiale beständig steigernde Wirtschaft nicht mehr in der Lage ist, auch nur annähernd Vollbeschäftigung herzustellen, desto verbissener hält die öffentliche Debatte am Ziel der Vollbeschäftigung fest - und sei es durch Billiglohn und Zwangsarbeit.

Um diesen Komplex zu verdeutlichen, lohnt ein näherer Blick auf die vom sowjetischen Ökonomen Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew begründete Theorie der "langen Konjunkturwellen", für die der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter 1938 den Begriff der Kondratjew-Zyklen formte. Hierbei handelt es sich um einen jahrzehntelangen konjunkturellen Metazyklus, der von neu entstandenen Schlüsselindustrien getragen wird, die neue Felder der Kapitalverwertung und Massenbeschäftigung kreieren. Einer Periode des Aufschwungs folgt eine Zeit des Abschwungs, in der Produktivitätssteigerungen und Marktsättigung die Profitrate und Massenbeschäftigung in diesen neuen Schlüsselindustrien wieder sinken lassen. Seit Anbeginn der Industrialisierung hätten wir es also mit Metazyklen zu tun, die jeweils auf dem Ausbau der Textilindustrie und später der Schwerindustrie, der Elektrobranche oder der Chemieindustrie zurückzuführen sind. Sobald durch fortschreitende technische Entwicklung die Massenbeschäftigung in einem älteren Sektor nachließ, entstanden durch denselben wissenschaftlich-technischen Fortschritt neue Industriezweige, die die "überschüssige" Arbeitskraft aufnahmen.

Systemkrisen treten dann ein, wenn die von einem bestimmten Industriezweig generierte Massenbeschäftigung aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen abflaut, während sich noch keine neuen Beschäftigungsfelder in neuartigen Industrien aufgetan haben. Genau diese Entwicklung setzte seit den siebziger Jahren in allen Industrieländern ein, als die von der Massenmotorisierung getragene, sehr lange Konjunkturwelle der Nachkriegszeit abflaute und sich keine neuen Schlüsselindustrien für eine weitere lange Konjunkturwelle entwickelten.

Dieser Befund mag auf den ersten Blick stutzig machen, da in den achtziger Jahren mit der Mikroelektronik und der Informationstechnologie weitere Industriezweige entstanden, die selbstverständlich auch Arbeitsplätze generierten und Investitionsmöglichkeiten für das Kapital schufen. Dennoch fungieren diese Sektoren gerade nicht als "Schlüsselindustrien" im Sinne Kondratjews. Diese schaffen ja vor allem dadurch Investitions- und massenhafte Beschäftigungsmöglichkeiten, indem sie in Wechselwirkung mit anderen Industriezweigen treten und dort ebenfalls stimulierend und belebend werden. Sehr gut kann man das am Aufbau des Eisenbahnnetzes im späten 19. Jahrhundert oder an der Massenmotorisierung der Nachkriegszeit erkennen, die vielfältigste ökonomische Impulse zeitigten.

Auch die mikroelektronische Revolution der 1980er Jahre wirkte sich auf die gesamte Ökonomie aus, doch dies vor allem mittels massenhaften Abbaus von Arbeitsplätzen: Durch Rationalisierungs- und Automatisierungsmaßnahmen werden große Teile der klassischen Industriearbeiterschaft schlicht überflüssig. Die Rechnung ging diesmal nicht auf. In den neuen Hightechbranchen entstehen weit weniger Arbeitsplätze, als in den "alten" Industrien obsolet werden. Dem Massenheer der Industriearbeiterschaft folgt keines aus Programmierern, Informatikern oder Webdesignern. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, der - konkrrenzvermittelt - durch den Kapitalismus befördert wird, untergräbt zugleich die kapitalistische Produktionsweise.

Für die betroffenen Industrieländer ergaben sich bei der Krisenbewältigung zwei Optionen: Entweder, sie setzten gnadenlos auf die Exportwirtschaft, wie Deutschland, China und Japan, oder sie bildeten eine Defizitkonjunktur aus, die über einen wuchernden Finanzsektor die massenhafte Kreditaufnahme und somit auch Nachfrage erzeugte (vor allem USA, aber auch Großbritannien, Spanien, Irland und weite Teile der osteuropäischen Peripherie der EU).

Das Fazit unserer Krisendiagnose lautet folglich: Es ist der stürmisch vom Kapitalismus vorangetriebene Fortschritt der Produktivkräfte, der die Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise unterminiert. Die Krise hat ihre Ursache nicht im Finanzsektor, sondern in den Widersprüchen der warenproduzierenden Industrie. Gerade das exzessive Wuchern der Finanzmärkte hat die unter einer latenten Überproduktion leidende reale Wirtschaft durch schuldengenerierte Nachfrage am Leben gehalten. Nachdem diese ungefähr über 30 Jahre beständig wuchernde Spekulations- und Verschuldungsdynamik zusammenbrach, drohte die reale Wirtschaft, das von reaktionären Kapitalismuskritikern fetischisierte "schaffende Kapital", an seinen eigenen Widersprüchen zu kollabieren. Hier mussten die Staaten als ein letzter Trumpf der kapitalistischen Krisenpolitik einspringen und diese Defizitkonjunktur "verstaatlichen". Die kreditgenerierte Nachfrage würde sonst zusammenbrechen, und die ungeheuren Produktionskapazitäten der Industrie führen dann in einer verhängnisvollen Abwärtsspirale zu immer neuen Massenentlassungen, welche die Massennachfrage immer weiter reduzieren und erneute Entlassungswellen auslösten.