Scheinheiligkeit nimmt überhand

Katholische Bischöfe entdecken die Familie als den größeren Sündenpfuhl

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Ein erstaunlicher Wandel: Über viele Epochen der Kirchengeschichte "diente" die Familie als Hauptumschlagplatz für klerikale Ideologie. Jetzt hat sie ausgedient. Ihre neue Rolle im kirchlichen Desaster: Man braucht neuerdings die schwarzen Schafe unter den Laien, um von den Tätern in schwarzen Talaren abzulenken.

Die kirchliche Propaganda gerät unter dem zunehmenden Druck der Öffentlichkeit in Erklärungsnotstand. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, hat sich für die sexuellen Übergriffe an katholischen Schulen zwar entschuldigt. Über die bekannt gewordenen Fälle sei er "zutiefst erschüttert", so Zollitsch zu Beginn der Frühjahrsvollversammlung seiner Amtskollegen in Freiburg. Im Unterschied zum Hamburger Erzbischof Werner Thissen sieht er in dem Missbrauchsskandal jedoch "kein Strukturproblem" der Kirche. Denn, so der Oberhirt: Missbrauch komme in Familien wesentlich öfter vor.

Mit diesem gesellschaftspolitischen Kurzschluss scheut Zollitsch nicht zurück vor fragwürdigen moralischen Relativierungen. Bei seiner Gegenüberstellung von Missbrauch "im Raum der Kirche" und Missbrauch in der Gesellschaft entdeckt der oberste deutsche Kirchenfunktionär im Bischofsrock zwar ausgerechnet die Familie als Musterfall, wo der Missbrauch häufiger sei als in kirchlichen Einrichtungen. Er unterschlägt dabei aber sowohl die kirchengeschichtliche Dimension des Skandals wie auch die völlig anders gelagerte Rolle der Kirche als moralische Instanz mit dem Anspruch auf göttliche Legitimation.

Eklatant, wie das Fähnlein nach dem Wind gehängt wird: Die Familie als gottgewollte Einrichtung wurde jahrzehntelang als Hort katholischer Tugend gelobt, Frauen als Kindermädchen, Erzieherinnen und Nährmütter des Guten gehätschelt – und zwar auch noch, als der soziale Wandel längst eine andere Sprache sprach. Jetzt plötzlich entdeckt die Kirche die Familie als Tatort, zeigt der amtlich beringte Finger auf die Familie als Stätte düsterer Versuchung. Die viel gepriesene Keimzelle der Gesellschaft, ein Axiom kirchlich katholischer Ideologie, wird fallen gelassen. Plötzlich erkennt die heilige Mutter Kirche, wie unheilig Familie sein kann.

Eigentlich eine doppelte Nötigung: Zum sexuellen Vergehen an Tausenden der oft schwächsten Familienmitglieder aus allen gesellschaftlichen Schichten gesellt sich nun die unschöne Instrumentalisierung einer Einrichtung, die jahrzehntelang lauthals gepriesen, in dem jetzt öffentlich gewordenen Skandal aber fix zur wohlfeilen Ablenkung und Schuldabfuhr gebraucht wird. Dabei werden gerne auch schon mal Zahlen schöngerechnet (Zölibat als Therapie für Pädophile?).

Unfreiwillig machen die Oberhirten sich bei ihrer Suche nach Ausflüchten Konkurrenz: Der Augsburger Bischof Walter Mixa tauchte dazu in die jüngere Geschichte ein und entdeckte die "sexuelle Revolution" als den Hauptverantwortlichen des Appetits seiner geistlichen Brüder auf kleine Jungs. Aber er tauchte nicht tief genug. Der Kölner Stadt-Anzeiger erkannte den Fehlschuss und zog Oswalt Kolle zu Rate: "Und im übrigen: Die Übergriffe gab es ja auch schon vor der Sexuellen Revolution", wird der Altmeister in Sachen Sexualkunde zitiert.

In der Tat fällt auf, dass der Missbrauch von Schutzbefohlenen in Einrichtungen der Katholischen Kirche offenbar von den deutschen Leitmedien bisher als rein neuzeitliches Phänomen gedeutet wurde. Das ist es aber keineswegs. Die Kirchengeschichte selber liefert massenhaft gut dokumentierte Fakten, was das Treiben und Trachten ihres heiligen Personals angeht (Fromme Sünder).

Die Kirche sah sich stets als Maßstab für andere. An diesem Maßstab will sie sich selbst nun partout nicht messen lassen. Geflissentlich vergessen die deutschen Bischöfe, dass gesellschaftliche Subsysteme wie die Familie, die jetzt als Sündenbock präsentiert wird, sich nicht als erhabene, vom Heiligen Geist geleitete Institutionen betrachten. Genau hier befindet sich aber die Institution Kirche mit ihren geweihten und ordinierten Amtsinhabern in der Verantwortung, nämlich sich an ihrem eigenen Anspruch messen zu lassen – und nicht an den Sünden anderer. Außerdem sind es nicht zuletzt die jetzt gescholtenen Familien, die mit ihren Abgaben an Kirchensteuern gerade die Einrichtungen finanzieren, in denen katholische Würdenträger nach Belieben schalten und walten.

Es hat den Anschein, sobald es um die eigene Haftung geht, ist die göttliche Inspiration, sind die himmlische Erwählung und das hohe kirchliche Ethos Nebensache. Und das angesichts des päpstlichen Anspruchs auf Unfehlbarkeit und auf universelle Stellvertretung Christi und Vorbildfunktion in Sachen Heiligkeit. Ein Anspruch, der im Mittelalter Menschen auf den Scheiterhaufen brachte.

Wie war das noch mit dem armen Sünder in der Bibel? Der stand hinten im Tempel und schlug sich an die Brust. Als der Pharisäer hereinkommt und ihn sieht, betet er: "O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen!" Ein Lehrstück über das Verhältnis von Volk und hoher Geistlichkeit, nachzulesen in Lukas 18:11.