Wenn der Lokführer keine Blähungen hat und die Sonne scheint

Offener Brief an den Chef der Deutschen Bahn

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Lieber Herr Grube,

kennen Sie Friedrichsfeld? Vermutlich nicht. Gern helfe ich Ihnen aber auf die gedanklich richtige Schiene: Friedrichsfeld ist ein Stadtteil von Mannheim und Ihr Unternehmen bewältigt die Strecke bis zum Hauptbahnhof der Quadratestadt in zehn Minuten. Zumindest theoretisch. Wenn der Lokführer keine Blähungen hat und die Sonne scheint. Also wenn der Fahrplan eingehalten wird, dauert es gar nicht lang, und schon ist man im Zentrum. Oder die, die im Zentrum sind, können den Zug aus Friedrichsfeld erklimmen und von da aus weiterfahren.

Heute ist es in der Kurpfalz kalt, windig und regnerisch. Und vermutlich haben die Lokführer in Süddeutschland kollektive Darmbeschwerden: Ich sitze hier am Hauptbahnhof und warte auf den Zug. Er hat zehn Minuten Verspätung. Also genauso viel Verspätung wie die Fahrzeit ab Friedrichsfeld selbst. Eine reife Leistung.

Was im Nahverkehr nicht klappt, funktioniert auf großen Strecken noch viel weniger. In der letzten Februarwoche stempelten Sie den Winter zum Sündenbock. Ab Ende 2011 sollen die Achsen von 67 ICE ausgetauscht werden: (Warum eigentlich nicht gleich?). Das kann drei Jahre dauern. Bis dahin müsse – insbesondere im Winter! - mit Verspätungen gerechnet werden.

Kontrolle der Betriebsrisiken

Dafür müssen die Bahnfahrer einfach Verständnis haben. Wie sollte denn ein Transportunternehmen den Winter einplanen können? Der ist doch genauso schlecht vorherzusagen wie die Ankunftszeit des Zugs aus Friedrichsfeld! Warum nur kann das mit der Klimaerwärmung nicht ein wenig schneller gehen – damit müssten sich doch eigentlich alle Probleme der Deutschen Bahn im Ozonloch auflösen? Ok ich übertreibe: "alle" ist nicht richtig. Denn schließlich verlangt der Dieselmotor des Interregio Express im Sommer nach hitzefrei. Verspätungen können auch da schon mal vorkommen.

Und genauso innovativ wie Ihr Unternehmen mit Ausreden ist, sind die Fehlerquellen zahlreich: So kann es zum Beispiel wie im Januar 2009 passieren, dass die Buchungssysteme im gesamten Bundesgebiet ausfallen. Heise Netze berichtete unter Berufung auf einen Sprecher Ihrer Konzernzentrale von einem Stromausfall in einem Berliner Rechenzentrum.

Thomas Mitschke, Data Center Director bei NTT Europe Online kommentiert:

Der Fall macht deutlich, dass offenbar auch große und sehr große Unternehmen selbst in Bereichen von zentraler Bedeutung keine wirklich gründliche und umfassende Analyse und Kontrolle der Betriebsrisiken vornehmen. Dazu gehören neben den internen Risiken auch eine Berücksichtigung externer Gefährdungen wie ein Erdbeben, Brand, Hochwasser oder eben Stromausfall. Denn auch wenn in Deutschland die Stromnetze sehr stabil sind, bleibt ein Restrisiko. Jedes Unternehmen tut gut daran, die möglichen Konsequenzen auch von unvorhersehbaren Ereignissen einzuplanen. Nur wer sich mit möglichen Ereignissen auseinandergesetzt hat, wird im Fall des Falls vorbereit sein und die richtigen Entscheidungen treffen können.

Ihre Pressestelle mag den mangelnden Strom als Ursache auf Anfrage von JJ's Datensalat nun nicht mehr bestätigen: "Das sind sicherheitskritische Informationen; dazu äußern wir uns nicht", heißt es.

Offenbar verdaut der Konzern die internen und externen Vorgänge nur äußerst schlecht

Lieber Herr Grube: Kennen Sie das Betriebssystem GNU/Linux? Das ist bis aufs letzte Komma offengelegt und wird dennoch in vielen sicherheitsrelevanten Bereichen eingesetzt – wie beispielsweise im Auswärtigen Amt und dem Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik. Bereits 2003 liefen 100 von 217 Botschaften in aller Welt auf Basis von Freier Software.

Sicherheit durch Geheimhaltung zu erzielen, ist seit langem überholt. Und obwohl Microsoft die Quellcodes seine Betriebssysteme und Anwendungen wie ein Staatsgeheimnis schützt, werden die Löcher in Windows und Internet Explorer schneller ausgenutzt, als der Konzern sie wieder stopfen kann. Trotzdem produzieren Ihre Mitarbeiter solchen geistigen Durchfall. Wieso?

Offenbar verdaut der Konzern die internen und externen Vorgänge nur äußerst schlecht. Das gibt Anlass zu größter Sorge. Es entsteht nämlich der Eindruck, dass der Konzern die Mängel im eigenen System kennt und daher unter dem Vorwand "Sicherheit" zu vertuschen versucht: Vermutlich wären vor wenigen Tagen noch die Konstruktion der S-Bahnen und ihr Wartungssystem als streng geheim klassifiziert worden. Mittlerweile ist die Welt um den Aufreger "S-Bahn Desaster" reicher und wundert sich auch über womöglich "fahrlässige" Manager.

Da wundert es nicht, dass sich die Bahn von jedem Pubs aus derselben werfen lässt. Etwa von den Kosten: Ein gemeinsames Buchungssystem schien dem Railteam - eine Allianz von Eisenbahnunternehmen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Niederlande, Österreich und der Schweiz – letztlich doch zu teuer. Und so wurde es gestrichen. Gut so: Das Beispiel Friedrichsfeld zeigt, dass pro Streckenkilometer mit einer Verspätung von einer Minute gerechnet werden kann. Wer will da schon per Bahn von London nach Wien? Da muss man auf 1.470 Streckenkilometern mit 24 Stunden Verspätung kalkulieren. Und womöglich stellt sich dem Zug auch noch ein unterfränkisches Rindvieh oder eine oberöstereichische Wildsau in den Weg...

Schwein ist vor allem den Passagieren der Deutschen Bahn auf der ICE Strecke München-Nürnberg zu wünschen: Es besteht der Verdacht, dass Erdhaken gestohlen und Protokolle gefälscht wurden. Es wurde also weniger Material verbuddelt als abgerechnet. Und das Minus beim Material steht im umgekehrten Verhältnis zu den Kosten. Die waren nämlich am Ende 50 Prozent höher als geplant.

Die positiven Seiten der Deutschen Bahn

Lieber Herr Grube: Sind Sie denn bei diesem Sammelsurium von Pleiten, Pech, Pannen und Inkompetenz sicher, dass Sie das ONCE-IN-A-CENTURY-PROJECT Stuttgart21 tatsächlich durchziehen wollen?

Ich habe den Eindruck: Je dicker und schwülstiger die Begleitmusik solcher Megaprojekte daherkommt, desto schneller und tiefer stürzt das Vorhaben wieder ab. Und die schwülstigsten Tiefflieger beginnen mit ihrer Kommunikation gleich mal Englisch! Ich drücke den Einwohnern und Besuchern Stuttgarts schon jetzt die Daumen, dass der neue Tiefbahnhof nicht noch tiefer in die Tiefe rauscht als es derzeit die U Bahn in Köln vorhat.

Aber es gibt ja auch noch die positiven Seiten der Deutschen Bahn: Zum Beispiel die nach dem Unternehmen benannte "Card". Mit dieser grandiosen Innovation spart der Kunde doch glatt 25, 50 oder sage und schreibe gleich 100 Prozent des Fahrpreises. Wow! Die Karte ist ein Jahr gültig und verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, wenn nicht bis 6 Wochen vor Ablauf der bisherigen Karte gekündigt wird. Der Juristin Monika Hecken von der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz drängt sich hier der Eindruck auf, "dass es sich um ein Abonnement handelt. Darauf sollte der Kunde noch deutlicher hingewiesen werden".

Und damit der Kunde auch ja immer mobil ist, wenn er nicht grade auf seinen Zug wartet, ist die Karte ihrer Zeit sogar voraus: Einen Monat bevor die alte Karte ihre Gültigkeit verliert, liegt die neue schon im Briefkasten des Kunden. Es sollte sich wirklich niemand daran stören, dass er bei solcher Übererfüllung des Plans auch schon zwei Wochen vor Gültigkeit der neuen Karte zahlen muss.

Hecken wünscht sich für den Kunden eine Wahlmöglichkeit zwischen einer einmaligen Bahncard und einem Abo mit automatischer Verlängerung. Dem stimme ich aus ganzem Herzen zu! Leider ist von Ihrer Pressestelle derzeit nicht in Erfahrung zu bringen, ob Sie den tatsächlich innovativen Vorschlag aufgreifen wollen.

Ich war ja immer von Ihrer Card begeistert. Allein das Foto eröffnet ungeahnte Möglichkeiten. Wie gern würde ich mich beispielsweise vom Bahnhofsvorsteher per Handschlag und persönlicher Anrede bei meinem Eintreffen begrüßen lassen. So wie früher von den Grenzern der DDR – die brauchten noch das (alphanumerische) Autokennzeichen. Heute geht das per Analyse meines Konterfeis. Wahnsinn!

Experten für Spitzeldienste aller Art

Oder auch das phänomenale Gedächtnis: Lange Zeit konnte ich im Internet bestaunen, dass ich zu Beginn des Jahrtausends mal von Darmstadt nach Stuttgart gefahren bin. So hatte ich mich schon darauf gefreut, meinen Urenkeln 2050 eine lange Liste zeigen zu können, wo mich die Deutsche Bahn in den vergangenen 50 Jahren überall so hintransportiert hat. Aber da wird wohl jetzt nix draus. Gemein wär es jetzt natürlich, wenn nur ich daran gehindert wäre, meine Reisedaten anzugucken und Ihre Mitarbeiter weiterhin aus dem Vollen schöpfen dürften.

Ich vermute, die Rückschau auf vergangene Bahnfahrten im Internet wurde auch unter dem Eindruck des Big Brother Award 2007 auf ein halbes Jahr begrenzt. Die Auszeichnung hatte der Konzern im Bereich Wirtschaft erhalten. Besonders erwähnte padeluun in seiner Laudatio einen angeblichen RFID Chip in der Bahncard 100: "Der Chip kann, vom Benutzer unbemerkt, per Funk ausgelesen werden."

RFID – wie lächerlich! "Near Field Communication" (NFC) heißt die Zukunft: Das Handy wird zum persönlichen Begleiter und Assistenten in allen Lebenslagen – auch den mobilen. Bereits 500 Berliner Bahnfahrende können den Fahrschein lösen, in dem sie ihr Handy an einen "Touchpoint" halten. Stolz verkünden Sie 2009 in der Broschüre "Menschen bewegen - Welten verbinden" (PDF):

Man führte dieses scannergestützte System 2007 als erster Verkehrsdienstleister in Europa ein.

Endlich weiß ich, wovon ich schon immer geträumt habe: Dem Experten für Spitzeldienste aller Art möchte ich selbstverständlich neben meiner Bankverbindung, meiner physikalischen und elektronischen Postadresse auch noch meine Handynummer und womöglich auch noch meinen aktuellen Aufenthaltsort mitteilen!

Mittlerweile ist meine Regionalbahn in Frankenthal eingetroffen. Auch in der Vorderpfalz ist es kalt, windig und regnerisch. Mein Anschlusszug konnte leider nicht warten. Der war nämlich pünktlich. Auf den nächsten Zug muss ich fahrplanmäßig eine Stunde warten. Eine halbe Stunde Verspätung ist aber bereits angekündigt.

Ich habe die reichliche Zeit genutzt, um mich zu bilden: So lese ich grade von der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr e.V.. Die soll seit dem 1. Dezember 2009 Fahrgästen "vor allem bei Verspätungen und Zugausfällen" zu ihrem Recht verhelfen. Behauptet wenigstens Bundesjustizministerin Leutheusser Schnarrenberger. Mal sehen, ob die was für mich tun können.

Es grüßt Sie herzlich

Ihr Joachim Jakobs