Das Geheimnis der kosmischen Knolle

Die europäische Raumsonde "Mars Express" kommt dem Marsmond Phobos so nah wie nie zuvor

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Die Raumsonde Mars Express umkreist seit Weihnachten 2003 unseren kosmischen Nachbarn. Es ist die erste Mission zu einem anderen Planeten, die Europa komplett in eigener Regie realisiert hat. Die Kameras, Spektrometer und Radarsensoren sind zumeist auf den roten Planeten selbst ausgerichtet, den die Sonde auf einem stark elliptischen Orbit umkreist. Der niedrigste Punkt der Umlaufbahn liegt etwa 250 Kilometer über der Marsoberfläche, der höchste ist 11.100 Kilometer entfernt. Dadurch kommt Mars Express immer wieder in die Nähe des Marsmondes Phobos, der den Planeten in einer Entfernung von über 9.000 Kilometern umkreist. Bei solchen Gelegenheiten ändert die Sonde dann schon mal die Blickrichtung ihrer Sensoren und schaut sich den unregelmäßig geformten Begleiter des Planeten genauer an - diesmal aus sehr geringer Entfernung.

Die Aufnahme von Phobos wurde mit der High Resolution Stereo Camera (HRSC) des Mars Express aufgenommen. Bild: ESA/ DLR/ FU Berlin (G. Neukum)

Vom Moment der größten Annäherung wird es aber leider keine Bilder geben. Denn wenn die Sonde am Mittwoch in nur 50 Kilometer Abstand am Marsmond vorbeifliegt, befindet sich dieser gerade im Schatten seines Mutterplaneten. Nahaufnahmen von der Oberfläche des etwa 20 Kilometer durchmessenden, an eine Kartoffel erinnernden Himmelskörpers sind daher zunächst nicht möglich. Dafür erhoffen sich die Astronomen von dem bislang dichtesten Vorbeiflug neue Erkenntnisse über das Innenleben des Marsbegleiters.

Aus der geringen Distanz sind zum einen Messungen des Schwerefeldes von Phobos mit bisher unerreichter Genauigkeit möglich: Je nachdem, welche Seite die kosmische Knolle der vorbeifliegenden Sonde zuwendet, beeinflusst sie mehr oder weniger stark deren Flugbahn. Zum anderen soll der Radarsensor MARSIS (Mars Advanced Radar for Subsurface and Ionosphere Sounding) mit seiner 40 Meter langen Antenne versuchen, unter die Oberfläche des Mondes zu schauen. "Je genauer wir wissen, wie Phobos aufgebaut ist, desto besser verstehen wir, wie er sich geformt hat", sagt Projektwissenschaftler Olivier Witasse von der Europäischen Weltraumorganisation ESA.

Dazu gibt es vor allem drei Theorien: Der Mond könnte ein durch die Schwerkraft des Mars eingefangener Asteroid sein. Möglicherweise hat er sich aber auch gleichzeitig mit seinem Mutterplaneten gebildet. Oder er entstand in Folge eines Meteoriteneinschlags auf dem Mars, der Materie in den Orbit schleuderte, wo sich die Trümmer langsam zu einem Körper zusammenfügten.

Von besonderem Interesse sind die im Inneren von Phobos vermuteten Hohlräume. Messungen von Masse und Dichte des Himmelskörpers haben ergeben, dass der Marsbegleiter offensichtlich kein kompakter Körper ist, sondern möglicherweise mehr Ähnlichkeit mit einem locker zusammengefügten Schutthaufen hat. Wenn sich das bestätigte, spräche es für das Szenario mit dem Meteoriteneinschlag - oder für eine vierte Theorie, die vor 50 Jahren ernsthaft diskutiert wurde, heute aber kaum noch Anhänger findet.

Wie sind die vermuteten Hohlräume im Inneren des Mondes entstanden? Bild: ESA/ DLR/ FU Berlin (G. Neukum)

Diese Theorie stützt sich auf die Beobachtung, dass sich die Umlaufbahn des Marsmondes allmählich absenkt und er in einigen Millionen Jahren auseinanderbrechen oder auf der Marsoberfläche zerschellen wird. Was bremst Phobos ab? Das fragte sich der russische Astronom Josef S. Schklowski und vermutete als Ursache atmosphärische Reibung. Die könnte aber nur dann so stark wirken, wenn Phobos weitgehend hohl wäre. Das brachte Schklowski zu einer aufregenden Schlussfolgerung: Handelte es sich bei dem Marsbegleiter vielleicht in Wirklichkeit um eine riesige Raumstation?

Schklowski bekam für seine Theorie zunächst Unterstützung vom US-Präsidentenberater Fred Singer und dem US-amerikanischen Astronomen Carl Sagan. Mittlerweile wird der langsame Absturz des Mondes jedoch nicht mehr mit der Reibung in der Atmosphäre erklärt, sondern mit Gezeitenkräften. Kein Marsforscher scheint ernsthaft damit zu rechnen, auf oder in Phobos die Hinterlassenschaft einer technologischen Zivilisation zu entdecken.

Leben könnte überall im Weltraum unter geeigneten Bedingungen entstehen oder entstanden sein

Dagegen werden die Aussichten, beim Mars einfache Lebensformen oder Überreste früheren Lebens zu finden, in den letzten Jahren immer höher eingeschätzt. Fast im Wochentakt werden Studien publiziert, die darauf hindeuten, dass Leben überall im Universum entstehen kann, wo es geeignete Bedingungen findet. So erschienen vor zwei Wochen in der Zeitschrift PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences) Ergebnisse einer neuen Untersuchung des Murchison-Meteoriten, der 1969 in Australien eingeschlagen ist. Sie ergab eine bis dahin ungeahnte Fülle organischer Materie. Das Forschungsteam um Philippe Schmitt-Kopplin vom Münchner Helmholtz-Zentrum zählte Zehntausende verschiedener Moleküle, die vermutlich in Millionen unterschiedlichen Strukturen vorhanden sind. Die chemische Vielfalt beeindruckte die Forscher. Die Zahl der Substanzen, die sich auf der Erde als biologisch relevant erwiesen haben, sei deutlich geringer, schreiben sie.

In der gleichen Woche publizierte das Wissenschaftsmagazin Science eine Studie von Chemikern der Northwestern University in Evanston, Illinois. Das von Joseph B. Lambert geleitete Team zeigt darin, wie aus einfachen organischen Molekülen komplexe Zucker entstehen können. Ribose war für die Forscher von besonderem Interesse: Dieses Zuckermolekül bildet gewissermaßen das Gerüst der Ribonukleinsäure (RNA), die in den Zellen von Lebewesen den Austausch genetischer Informationen regelt. Die Versuche der Chemiker ergaben, dass Silikate die Entstehung stabiler Ribosemoleküle begünstigen. Diese Mineralien sind nicht nur in der Erdkruste reichlich vorhanden, sondern auch auf anderen Planeten, Asteroiden und Monden unseres Sonnensystems.

Das Leben kann sich demnach nicht nur auf eine Vielzahl an Rohstoffen stützen. Es mangelt auch nicht an Reaktionswegen, diese Stoffe zu Biomolekülen zusammenzufügen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, wenn ein Wissenschaftler wie Gary Ruvkun für das Projekt SETG (Search for Extraterrestrial Genomes) wirbt. Der Mikrobiologe entwickelt an der Harvard Medical School gerade ein weltraumtaugliches Instrument zur DNA-Analyse und hofft auf eine Mitfluggelegenheit zum Mars im Jahr 2018. Die Untersuchung eines außerirdischen Genoms könnte helfen, die Frage nach dem Ursprung des irdischen Lebens zu beantworten. Ist das Leben vom Mars zur Erde oder von der Erde zum Mars gekommen? Haben sie es beide durch Kometeneinschläge aus dem All empfangen? Oder lief es ganz anders ab?

Das Kürzel SETG lehnt sich bewusst an SETI (Search for Extraterrestrial Intelligence) an, der seit über fünfzig Jahren betriebenen Suche nach Anzeichen außerirdischer Intelligenz. Sie stützt sich bislang hauptsächlich auf die Durchmusterung des elektromagnetischen Spektrums nach möglichen Funkbotschaften ferner Zivilisationen. Viele SETI-Forscher schließen aber die Möglichkeit nicht grundsätzlich aus, auf materielle Hinterlassenschaften außerirdischer Raumfahrer zu stoßen.

Die jetzigen Phobos-Vorbeiflüge von Mars Express, die bis 26. März fortgesetzt werden, dienen auch der Suche nach Landeplätzen für die russische Mission "Phobos-Grunt". Mit einem Roboterarm soll die Sonde im Jahr 2012/13 auf dem Marsmond Bodenproben einsammeln und zur Erde schicken. Über 50 Jahre nach Schklowski, Singer und Sagan wird es gewiss immer noch Wissenschaftler geben, die dann den Atem anhalten und gespannt beobachten, ob Phobos-Grunt beim Einsammeln der Gesteinsproben nicht zufällig doch das Bullauge einer verlassenen Raumstation freikratzt.